Sonntag, 27. Januar 2019

D. Wright O'Brien: Ausstrahlung (Horror, 1940)


Ein Mann, der so wenig Ausstrahlung hat, dass man ihn übersieht. Sehr übersieht. Ein kleines Meisterstück vom genialen David Wright O'Brien, der nur 26 jährig im 2. Weltkrieg ums Leben kam. Die erste Geschichte von ihm auf deutsch!

Keiner der Passagiere des Acht-Uhr-Zwanzig-Zuges schenkte Lucius Beem die geringste Beachtung, als er in die Vorortbahn stieg. Allerdings fand Mr. Beem - gekleidet in seinen üblichen unaufdringlichen grauen Anzug und seinen grauen Mantel, bedeckt mit seinem grauen Hut - das nicht im Mindesten ungewöhnlich. Wenige Leute schenkten ihm jemals Beachtung.
Schöner Morgen“ bemerkte Mr. Beem, als er im Abteil Platz nahm. „Ausgesprochen schöner Morgen. Wirklich.“
Sein Gegenüber blickte zerstreut auf.
Oh, äh, ja, schöner Morgen, Mister, äh...Mister...“
Mr. Beem seufzte resigniert. Kaum jemand konnte sich seinen Namen merken.
Beem. Mein Name ist Mr. Beem.“
Er entschied reuevoll, dass es keinen Zweck hatte, diesen Mann an seinen Namen zu erinnern. Es was das sechzehnte Mal in diesem Monat, dass er ihn vergessen hatte. Beide fuhren seit zehn Jahren im selben Zug in die Stadt und saßen fast immer zusammen.
Klar. Natürlich“, murmelte der Passagier“. „Peinlich von mir, das zu vergessen, Mr. Dream.“
Mr. Beem vergrub sein Gesicht in seiner Zeitung und überflog die Tagesnachrichten. Fünfzehn Minuten später blickte er auf und sprach seinen Abteilgenossen ein weiteres Mal an.
Ist das nicht seltsam?“ Beem wies auf die Kolumne seiner Zeitung. „Dieser berühmte Professor Snell ist nicht in der Lage, irgendjemanden für seine radioaktiven Strahlungs-Tests zu finden. Man sollte doch denken, dass sich irgendwer auf der Welt nicht zu schade ist, ein Opfer zu bringen für eine bessere Welt, was?“
Hä?“
Der Passagier warf Mr. Beem einen leeren Blick zu. „Haben Sie irgendwas gesagt“?
Ich hab gesagt...“ Mr. Beem seufzte und gab es auf. Der Mann hatte sich wieder abgewandt.

Mr. Beem entstieg seinem Zug und schlängelte sich durch das Gewühl der Menge zu einem kleinen Café an der Bahnhofsecke. Es war eine zehn Jahre währende Gewohnheit, hier zunächst mal Brötchen und Kaffee zu frühstücken, bevor er weiter ins Büro marschierte.
Mr. Beem schlüpfte auf einen Barhocker am Tresen. Als Cleo, die Kellnerin, herüberschwebte, um die Bestellung aufzunehmen, raffte er sich zu etwas auf, das er für ein ermutigendes Lächeln hielt. Es war etwas Beruhigendes, Cleo jeden Morgen zu sehen. Sie arbeitete hier als Kellnerin, solange er denken konnte.
Morgen, Cleo!“, sagte Mr. Beem herzlich. „Schöner Morgen, nicht?“
Das Gesicht des Mädchens blieb undurchdringlich. „Mja“ nickte sie unverbindlich. „Sollsnsein?“
Mr. Beems Stimme klang einen Hauch vorwurfsvoll.
Das Übliche bitte.“
Und was“, fragte sie scharf, „is das übliche?“
Mr. Beem seufzte schwer. „Kaffee und Brötchen.“
Er fühlte sich plötzlich ein bißchen einsam. Die Leute nahmen ihn für gewöhnlich nicht wahr. Solche Dinge wie eben passierten ständig in seinem einfachen, anspruchslosen Leben. Doch dieser spezielle Morgen war schlimmer als jeder andere, den Mr. Beem je erlebt hatte. Mit einem wehmütigen Blick auf die Wanduhr schlürfte Mr. Beem seinen Kaffee.

In den Aufzug seines Bürogebäudes steigend, nickte Mr. Beem dem Fahrstuhlführer nüchtern zu. „Moin, Ted!“, murmelte er. Nachdem der Fahrstuhlführer fröhlich die anderen Ankömmlinge per Namen begrüßt hatte, schenkte Ted seinem blassen Passagier einen uninteressierten Blick.
Es war Teds Stolz, dass er den Laden in- und auswendig kannte und alle Stammkunden, die er täglich rauf und runter kutschierte, beim Namen nennen konnte. Folgerichtig starrte Mr. Beem ihn säuerlich an, als der Aufzug nach oben sauste. Ted wandte sich ihm zu. „Etage, bitte?“
Doch als er in das Büro von Sharpe & Sholt trat, wo er seit fünfzehn Jahren eine bescheidene Stellung innehatte, vergaß Mr. Beem die anderen vergleichsweise kleinen Zwischenfälle des Morgens vollständig.
Denn Lola, die Rezeptionistin, hielt ihn am Eingang auf.
Wollen Sie jemanden Bestimmten sprechen?“
Mr. Beem war nicht der Typ, der sich ohne weiteres aus der Bahn werfen ließ. Aber zum ersten Mal in seinem Leben erlebte er etwas, das einem Schockzustand sehr nahekam.
...jemanden...Bestimmten...sprechen...?“ sagte er wie unter Hypnose. „Das ist ein Witz, oder?“
Lola verzog bedauernd das Gesicht.
Tut mir leid, Sir. Offensichtlich waren Sie schon einmal hier. Aber haben Sie eine Verabredung mit jemandem?“
Ich...also...naja...ähm...Ich arbeite hier...“ stammelte Mr. Beem.
Sie arbeiten hier?“ Die Stimme des Mädchens war plötzlich eine Mischung aus Ungläubigkeit und Mißtrauen. „Hier???“
Unvermittelt begann sie an ihrem Pult herumzustöpseln und Kabel zu verbinden. Blinkende Lichter spiegelten sich in ihrem Gesicht.
Mr. Sharpe“, sagte sie, „Hier is ein Typ, den ich in meinem ganzen Leben noch nie gesehen hab. Er behauptet, er is hier angestellt. Will rein zu Ihnen. Was soll ich machen?“
Lola wandte sich zum schockstarren Mr. Beem. „Mr Sharpe würde gern Ihren Namen wissen, Sir. Er sagt, falls Sie eine Stellung haben wollen, hinterlassen Sie bitte Ihren Namen, und wir rufen Sie an, wenn sich irgendwas ergibt.“
Sag ihm“ - Mr. Beem wurde langsam grantig - „mein Name ist Beem. Keine Ahnung, was du hier für eine Nummer abziehst, Lola, aber Mr. Sharpe wird...“
Er sagt, sein Name ist Team“ raunte Lola ins Mikrofon, „...oder so ähnlich...Was? Ja, Sir, ich sags ihm.“
Sie wandte sich erneut an Mr. Beem.
Mr. Shape, sagt, er hat noch nie was von Ihnen gehört, aber wenn Sie Ihre Qualifikationen in dieses Formular eintragen möchten“, sie hielt ihm ein Blatt Papier hin, „würde er gern mit Ihnen in Kontakt bleiben, falls sich was ergibt, und...“
Sie stoppte ihnen Redefluss abrupt, den Mund weit offen, denn der graue, mausartige Mann stob aus dem Büro und rannte Hals über Kopf den Korridor entlang, als wären tausend Teufel hinter ihm her.

Fast eine Stunde lang wanderte Mr. Beem verzweifelt und verwirrt durch die Straßen, nachdem er aus dem Büro gestürmt war. Durch sein Hirn waberten halbformulierte Fragen, vage Verdächtigungen und unfertige Antworten. In der ersten halben Stunde tendierte Mr. Beem zu der erschütternden These, dass die Welt begann, durchzudrehen.
Doch nach einer Weile verwarf er diese Erklärung, sich daran erinnernd, das es die Gewohnheit aller Psychotiker war anzunehmen, alle außer ihnen selbst seien wahnsinnig. Dann fielen ihm Horror-Geschichten ein, in denen unheimliche Gestalten unerkannt durch die Welt schlurften, beachtet von niemandem. Diese Schauergeschichten endeten für gewöhnlich mit der faden Pointe, dass Held der Story längst tot war. War er, Mr. Beem, gestorben? Der Gedanke war grauenvoll, und Mr. Beem schreckte vor ihm zurück. Nein, er war ganz gewiß nicht tot.
Unbewußt hatten Mr. Beems Füße ihn ohne sein Wollen zum Bahnhof zurückgetragen. Fast ohne es zu bemerken, kaufte er ein Ticket für die Vorortbahn und setzte sich in die Wartehalle, um die Ankunft des nächsten Zuges zu erwarten. Zu diesem Zeitpunkt hatte sich sein Verstand etwas geklärt. Er würde nach Hause gehen. Martha, seine Frau, würde zwar ziemlich überrascht sein, ihn zu sehen. Er war nicht mehr unerwartet nach Hause gekommen, seit damals, als sein Blinddarm geplatzt war. Es würde eine Menge Mühe kosten, Martha zu erklären, was passiert war, aber sie war seine einzige Chance auf etwas Trost. Der einzige verbleibende feste Anker seines Lebens. Vielleicht, dass sie ihm einen Doktor rief. Und es könnte beschlossen werden, dass er eine Pause vom Job brauchte.
Das war es! Nervenzusammenbruch!
In die Straße seines behaglichen kleinen Vororthäuschens einzubiegen war tröstlich für Mr. Beem.
Die vertraute Reihe von Pappeln und weißbemalten Zäunen gab ihm ein vages Gefühl der Sicherheit. Als er seine eigene weiße Holzzaunpforte öffnete und seinen Gartenweg betrat, pfiff er sogar vor Erleichterung. Es war ein melodieloses Pfeifen, öde, fahl und unharmonisch.
Martha hatte ihm nie einen eigenen Schlüssel gegeben. So war Mr. Beem gezwungen, den Türklopfer zu benutzen. Er bemühte sich um ein selbstsicheres Lächeln, als er seine Frau zur Tür laufen hörte. Er wollte sie auf keinen Fall schockieren oder erschrecken. Schließlich könnte sie denken, er wäre ernstlich krank.
Er hörte im Haus ihre Absätze über den Boden klackern. Die Tür schwang auf. Mr. Beem trat auf die Schwelle.
„Hallo, Süße“, sagte er, „krieg bloß keinen Schreck. Ich fühl mich nicht so gut heute und dachte, ich fahr besser nach Haus...“
Doch er kam nur ein paar Zentimeter weit. Denn Mrs. Beem starrte ihn mit einer Mischung aus Erstaunen und Verärgerung an. Bevor er ganz im Flur war, schmetterte sie ihm die Tür vor die Stirn.
„Ma...Martha, was ist los? Ich bins bloß! Stimmt was nicht?“ Mr. Beems Stimme verlor beinahe ihre Fadheit, und eisiger Schrecken ließ seine Knie weich werden.
Die Stimme seiner Frau war hoch, schrill und vermutlich in der ganzen Straße zu hören. „Wer immer Sie sind, Vertreter oder Aufreißer – sie haben den Nerv, mich Süße zu nennen und versuchen, sich Zutritt zu meiner Wohnung zu verschaffen? Verschwinden Sie sofort, oder ich ruf die Polizei!“
Dann brachte sie einen geschickten, fiesen Kick gegen Mr. Beems Schienbein an, das sich immer noch zwischen Tür und Pfosten befand. Er zog es rasch zurück, und augenblicklich knallte die Tür zu. Er hörte seine Frau die Sicherheitsriegel vorschieben. Dann klickerten ihre Absätze erneut über den Flur.
Für mehrere zähe Minuten stand Mr. Beem vor seiner verschlossenen Tür, sein schmerzendes Schienbein reibend. Panik griff mit eisigen Fingern in sein Hirn.
Mit dem Handrücken die Augen wischend, stakste der verwirrte Mr. Beem die Stufen seines Heims hinunter und wanderte ein weiteres Mal ziellos durch die Straßen. Verzweiflung hatte den schmalen Mann erfaßt. Rasende Verzweiflung – und Todesangst.
Tief in einem versteckten Winkel seines gemarterten Hirns raunte eine penetrante, peinigende, spöttische Stimme: „Du wirst verrückt! Das ist es. Du wirst verrückt!“
Mr. Beem stand stocksteif mitten auf dem Bürgersteig und wehrte sich mit aller Macht gegen diesen Gedanken. „Nein...“ erklärte er sich selbst. „Ich-drehe-nicht-durch...“
Er sah den Gehweg hinauf – und hinunter. Da war niemand, der seinem Statement widersprach. Eine Träne wegwischend, bewegte sich Mr. Beem erneut in Richtung Bahnhof.

Zwei Stunden später stand ein verzweifelter Mr. Beem, gekleidet in dröges Grau, nervös vor einer Tür im zwölften Stock eines Bürohauses im Zentrum der Stadt. Die Aufschrift auf der Milchglasscheibe lautete: „Dr. Clarence Q. Zale, Psychiater.“
Der unauffällige kleine Mann hüstelte nervös, straffte seine herabhängenden Schultern, atmete tief durch und trat ein.
Er fand sich in in einer Art kleiner Rezeption wieder. Dahinter sah er eine weitere Milchglasscheibentür mit der schlichten Aufschrift: „Dr. Zale.“
Die zweite Milchglasscheibentür öffnete sich und ein großer, bärtiger, sehr eindrucksvoll aussehender Mann von etwa Fünfzig erschien, um Mr. Beem zu begutachten. Er glättete die Aufschläge seines Prinz-Albert-Anzugs mit professionellem Griff, warf seinem recht gewöhnlichen Besucher einen nachlässigen Blick zu und sprach:
„Ich bin Dr. Zale. Wollen Sie zu mir?“
„Ja“ flüsterte Mr. Beem. „Ich wollte zu Ihnen. Ich glaube nämlich, ich verliere den Verstand.“
„Tsss!“ machte Dr. Zale abwesend. „Wie bedauerlich. Aber kommen Sie doch rein.“
Es war vielleicht fünfzehn Minuten später, als Mr. Beem die aufregendste Geschichte seines Lebens beendet hatte: Die turbulenten Ereignisse dieses Morgens.
Dr. Zale erhob sich aufgeregt von seinem Schreibtisch. „Das“, rief er aus, „ist ja unglaublich!“
Mr. Beem blickte auf den Psychiater mit einer Art von hündischer Ergebenheit und Hoffnung.
„Wenn das alles wahr ist, was Sie da erzählt haben“, fuhr Dr. Zale fort, „dann sind Sie das interessanteste Exemplar der psychiatrischen Forschung, dem ich je begegnet bin! Sie, Mr. Leem, sind das perfekte Beispiel für die oft postulierte und nie gefundene Minus-Persönlichkeit!“
Mr. Beem zuckte zusammen.
„Mi-nus...“
„Genau. Minus-Persönlichkeit. Sehen Sie, Mr. Weem, Charakter oder Persönlichkeit ist in Wahrheit nichts anderes als eine Art elektromagnetische Aura des Menschen. Nicht zufällig nennt der Volksmund das Aus-Strahlung. Je stärker diese elektrische Aura ist, desto größer die menschliche Ausstrahlung. Wir sprechen dann von einer starken Persönlichkeit.“
Der Psychologe machte eine Pause, um Mr. Beem Zeit zu geben, das verdauen.
Dann fuhr er fort:
„Ausgehend von dem, was Sie mir grade erzählt haben, Mr. Deem, hatten Sie schon immer eine ausgesprochen schwache Persönlichkeit. Ihre Umgebung fand es von jeher schwierig, sich an Sie zu erinnern. Grund ist die schwache Aura. In letzter Zeit ist Ihre positive Ausstrahlung schwächer und schwächer geworden.“
Die nächste Pause wählte Dr. Zale aus dramaturgischen Gründen.
„Heute, Mr. Ream, haben Sie nicht nur aufgehört, eine positive Aura auszustrahlen, sie haben Energie absorbiert. Anders gesagt, Sie strahlen nun negative Persönlichkeits-Signale aus. Sie sind eine Minus-Persönlichkeit geworden.“
Der vor Entsetzen gelähmte Mr. Beem war sich der Bedeutung dieser Ansprache der Psychiaters nicht ganz klar, doch der Ton der Experten-Stimme war unheilsschwanger genug, um ihn tödlich erblassen zu lassen.
Nein...“ krächzte der negative Mr. Beem.
Doch!“ versicherte Dr. Zale. „Und das Ergebnis ist, dass die Welt beginnt, Sie völlig zu vergessen. Für die Menschen, die Sie bisher gekannt haben, sind Sie nie geboren worden! Sie machen einen konstanten negativen Eindruck von großer energetischer Wucht auf sie!“
Mr. Beem saß schlotternd auf seinem harten Stuhl, seine Hände in qualvoller Verzweiflung verschränkend und wieder auseinaderreißend. Seine wässrigen bleichen Augen sendeten ein stummes Flehen an den Spezialisten.
Aber Sie werden natürlich nicht wirklich vergessen werden, Mr. Jeem“, beruhigte Dr. Zale. „Denn von diesem Moment an gehen Sie in die Geschichte ein. Sie sind das größte medizinische Phänomen aller Zeiten!“
Die Stimme des Doktors hatte eine exaltierte Schärfe bekommen. Seine Augen funkelten.
Sie bleiben, wo Sie sind! Sie bewegen sich nicht von der Stelle! Ich gehe raus und rufe ein paar Kollegen aus dem Haus zusammen. Ich brauche ein paar weitere Meinungen, Mr. Queem.“
Er hastete zur Tür, stoppte, wendete sich noch einmal an Mr. Beems Stuhl. „Keinen Zentimeter bewegen Sie sich da weg!“ wies er ihn erneut an, seine schmale Schulter tätschelnd. „Auf keinen Fall verlassen Sie die Praxis! Ich bin sofort mit den Kollegen zurück!“
Mr. Beem verschmolz gehorchend mit seinem Stuhl.
Dr. Zale raste aus seinem Behandlungszimmer, stürmte den langen Korridor hinunter. Seine Schritte hallten für einige Meter gehetzt über den Marmorboden, dann zögerten sie, verlangsamten sich, stoppten.
Dann waren sie erneut zu hören. Sie kehrten gelassen zurück. Der Psychiater schlenderte gemächlich in sein Zimmer, steuerte den Garderobenständer an und nahm Hut und Mantel vom Haken. Er kleidete sich an, etwas unverständliches murmelnd, schenkte Mr. Beem keinerlei Beachtung und verschwand erneut.
Verwirrt starrte Mr. Beem ihm nach, um dann noch weiter im Stuhl zu versinken, falls das überhaupt möglich war. Er wartete lange, nervös zappelnd. Eins-, zweimal erhob er sich und wanderte auf und ab, um sich bald wieder bescheiden auf seinem Stuhl niederzulassen.
Aber Dr. Zale kehrte nicht zurück.
Und dann realisierte Mr. Beem endlich die Wahrheit. Man hatte ihn wieder vergessen.

Mr. Beem verließ niedergeschmettert die Praxis, einen dicken Kloß in seinem dürren Hals mühsam herunterwürgend. Warum, überlegte er in einer Art qualvoller Sehnsucht, konnte er nicht einfach ein Amnesie-Opfer sein anstatt einer Minus-Persönlichkeit? Ein perfektes Amnesie-Opfer, genau, das wärs. Dann hätte er die Welt vergessen, nicht umgekehrt.
Doch als der kleine Mann auf die Straße trat, wußte er im Grunde seines Durchschnitts-Herzens, dass das kein echter Trost war.
Die Abendbrotzeit rückte heran, und wehmütig schaute Mr. Beem in die erleuchteten Fenster der Stadt, dachte schmerzlich an sein eigenes grüngedecktes Häuschen, und wie Martha in ihm ihr Essen kaute. Der Gedanke an seine Frau, die nicht länger wußte, dass sie verheiratet war, war mehr, als Mr. Beem ertragen konnte. So verdrängte er die Bilder, nur mit dem Ergebnis, dass noch bitterere Empfindungen in ihm hochkochten.
Da war der Fluß, zum Beispiel. Nur ein paar Häuserblocks entfernt. Es wäre ein kurzer Spaziergang. Das Brückengeländer war nicht hoch...
Mr. Beem schauderte. Nein, er war kein Feigling. Selbstmord, das war die letzte Ausflucht eines Versagers. Eines Menschen, der am Ende war.
Ich bin kein Versager! Ich bin nicht am Ende!“ versicherte sich Mr. Beem leidenschaftlich. Doch im gleichen Augenblick durchflutete ihn die Erkenntnis seiner ganzen jämmerlichen, vergeblichen Existenz um so heftiger. Was sollte er tun? Wo sollte er hin?
Die Welt hatte keinen Platz für vergessene Menschen.
Mr. Beem vergrub seine Hände in seinen grauen Manteltaschen und stapfte voran. Da war plötzlich etwas Entschiedenes, ja Kämpferisches in seiner Brust. Da war etwas, das er nicht richtig in Worte fassen konnte. Er wußte nur, dass er irgendwie, in irgendeiner Weise die Welt auf sich aufmerksam machen mußte, damit sie ihn wieder wahrnahm. Und zwar nicht bloß als Mann, sondern als eine Berühmtheit, als eine grandiose Figur von Ewigkeitswert, bewundert von der Nachwelt.
Leben und Tod – beides war unwichtig angesichts dieser neuen Entschlossenheit, die plötzlich in der Brust des Mr. Minus-Beem brannte. Es zählte nicht länger, was aus dem physischen Mr. Beem wurde, solange er dem unsterblichen Lucius Beem zum Erfolg verhalf.
Und es wird diesen unsterblichen Beem geben!“ verkündete der dröge Mr. Beem laut. Als er so sprach, durchblitzte ein Gedanke seinen Geist, der unbewußt schon in den letzten Minuten in ihm herumgespukt hatte und nun klare Konturen annahm.
Die Nachrichten am Morgen! Besonders die eine, von der er dem Passagier erzählt hatte! Die Stelle über den Wissenschaftler, der ein menschliches Versuchskaninchen für seine Strahlungsexperimente suchte! Sicher würde Fortuna ihm wenigstens in dieser Angelegenheit zulächeln. Hier war die Chance seines Lebens, die Gelegenheit, um der Welt zu zeigen, was für ein Held in Lucius Beem steckte! Ein Held, an den sich die Menschheit so lange erinnern würde, wie sie existierte.
Er wäre der Mann der Stunde. Sein Name wäre für immer eingeschrieben in die Annalen von Wissenschaft und Fortschritt! Dann würde er eine Identität haben! Dann würde er – SEIN!
Winzige Eiszapfen der Erregung glitschten sein zerbrechliches Rückgrat herauf und hinunter, als er so dastand, sich das Ausmaß seiner Entscheidung ausmalend. Dann schreckte ihn ein unerfreulicher Gedanke aus den rosigen Träumen. Was, wenn der Forscher schon jemanden gefunden hatte?
Nein, das durfte nicht sein. Das Schicksal konnte Mr. Beem keinen so grausamen Streich spielen!
Aber rasches Handeln tat not. Man konnte nie wissen, ob und wann jemand anderes sich entschloss, sich selbst für dieses Experiment zu opfern.

Da war ein Kiosk an der Ecke, und Mr. Beem kam einen Moment später keuchend vor ihm zum Stehen. Dann, unter eine Laterne tretend, durchblätterte der unauffällige Mann aufgeregt die Zeitung auf der Suche nach einer Mitteilung über das letzte Strahlungsexperiment des Wissenschaftlers. Endlich fand er etwas auf der zweiten Seite, eine unauffällige kleine Spalte am unteren Ende. Es war eine knappe Zusammenfassung des Textes in der Morgenausgabe, lediglich zusätzlich feststellend, dass Professor Snell immer noch keinen Freiwilligen gefunden hatte.
Das Blatt mit einer Hand umkrampfend, winkte Mr. Beem wie rasend mit der anderem einem Taxi zu. Als der Wagen vor ihm anhielt, schaute Mr. Beem kurz auf Snells Adresse, die winzig klein in der Zeitung abgedruckt war.
Vine Street sechsundsechzig!“ schnauzte er den Fahrer an. „Und schnell!“
Der Taxifahrer knallte die Tür hinter seinem Passagier zu und legte den Gang ein. Dann schossen sie durch illuminierte Boulevards. Fünfzehn Minuten später hielt der Wagen mit quietschenden Reifen an der angegebenen Adresse. Der Fahrer hatte keine Chance, die Tür für seinen Gast zu öffnen, denn Mr. Beem verließ das Auto wie eine Kugel den Revolver, um dann seinen Mantel nach der Brieftasche zu durchwühlen.
Was kriegen Sie?“ fragte er atemlos.
Ein perplexes Stirnrunzeln umwölkte das Antlitz des Fahrers. Rasch warf er einen Blick auf den Rücksitz. Dann, den Mund weit offen, starrte er Mr. Beem an.
Und?“ schnappte der graue Mann ungeduldig, „was schulde ich Ihnen?“
Eh“, blaffte der Fahrer grob, „Is das'n Gag oder sowas?“
Mr. Beem setzte zu einer Antwort an, aber der Taximann ließ ihn nicht zu Worte kommen. „Sind Sie der Typ, den ich aufgegabelt hab, oder werd ich langsam bekloppt? Hab Sie noch nie zuvor gesehn. In meim ganzen Leben nich! Also keine Ahnung, wie der Typ aussah, der eingestiegen is, ich kann nur sagen – sie hab ich noch nie gesehen!“
Mr. Beem konnte keine weiteren kostbaren Momente verschwenden. Er schob dem Fahrer einen Schein in die Pranke und rannte die Stufen zum Anwesen von Professor Snell hinauf.
Ein kleiner, plumper, energiegeladener Mann ließ Mr. Beem ein. Seine glänzenden Knopfaugen musterten das öde Gesicht des kurzatmigen Besuchers aufmerksam. Dann sprach er:
Ich bin Professor Snell. Kann ich irgendwas für Sie tun?“
Professor“, keuchte der Angesprochene, „Ich hab über Sie in der Zeitung gelesen!“
Jaja“, nickte der Wissenschaftler traurig. „Auf dem Höhepunkt meiner Forschungen über die Möglichkeiten radioaktiver Strahlung kann ich keinen Freiwilligen auftreiben, mit dem ich meine bahnbrechenden Thesen beweisen würde!“
Mr. Beem atmete tief durch. „Professor Snell – ich bin Ihr Mann!“
In den Augen des Professors blitzte es. Doch als er sprach, blieb seine Stimme ruhig und behutsam.
Sie verstehen, was es bedeutet, sich darauf einzulassen? Ich arbeite mit Radium.“
Er hob eine Hand, als Mr. Beem unterbrechen wollte.
Sie könnten aus diesem Versuch natürlich unbeschädigt hervorgehen. Allerdings...“ er machte eine seltsame Bewegung mit seinen Schultern, „könnten sie auch...chronische Schäden...“
Mr. Beem hörte seine Stimme heiser antworten: „Ich verstehe vollkommen. Es ist mir egal, wie das Experiment ausgeht. Alles, was mich interessiert, ist meine Pflicht, der Nachwelt zu dienen. Vielleicht wird sie sich dann an meinen...kleinen Beitrag freundlich erinnern.“
Der Professor stürzte auf Mr. Beem zu und schüttelte seine Hand. „Sie sind, äh, ein tapferer Mann. Und seien Sie sicher: Egal wie das Ganze ausgeht, diese Tat wird immer im Gedächtnis der Wissenschaft bleiben, keine Sorge. Ich werde mich persönlich darum kümmern.“
Tränen traten in die Augen des langweiligen kleinen Kerls, als er die Hand des Professors mit seinen beiden umschloß. Endlich! Mr. Beem würde zurückkehren ins kollektive Gedächtnis, um für immer dort zu verweilen!
Von mir aus können wir sofort anfangen!“ krächzte er.
Professor Snell war sofort wieder ein kühler Mann der Wissenschaft. „Gut. Freut mich, dass sie so schnell zum Punkt kommen.“ Er kramte nach einem Formular auf dem Schreibtisch neben ihm. „Bitte“, sagte er, ihm das Blatt reichend, „schreiben Sie Ihren Namen auf und die Namen der Freunde oder Angehörigen, die ich informieren kann, falls etwas...also...“ Er brach bedeutungsvoll ab.
Nicht nötig. Da gibt es niemanden auf der Welt - außer mir,“ sagte Mr. Beem.

Und dann waren sie im Laboratorium von Professor Snell.
Alles, was Mr. Beem umgab, war weiß und sah wissenschaftlich-effizient aus. Der rundliche Professor fummelte geschäftig an diversen Instrumenten an einer sargähnlichen Apparatur herum.
Mr. Beem starrte auf das Sarg-Ding, während Snell erklärte: „Ihr Aufenthalt in dem Behälter ist auf die Sekunde genau geregelt. Diese Uhr“, er zeigte auf ein fragiles Instrument, das an der Seite der Box befestigt war, „setzt sich in Bewegung, sobald ich den Deckel schließe. Von diesem Gerät kann ich ablesen, wie viel Zeit vergeht, bis Sie den Kasten wieder verlassen dürfen.“
Minuten später hörte Mr. Beem, auf dem Rücken in einem kalten Radium-Metall-Behälter liegend, die schicksalsschweren Worte: „Viel Glück!“ vom Professor. Dann rastete der Deckel über ihm ein. Dunkelheit umgab ihn...
Drei Stunden und siebenunddreißig Minuten dürften korrekt sein“, murmelte Professor Snell, einen Hebel am Ende es Behälters in Bewegung setzend. Eine zitternde Erregung schwang in seiner Stimme. Er schaute einen Moment auf die Box, dann drehte er sich um und verließ rasch den Raum. Da waren einige Telefonate zu erledigen. Kollegen warteten auf die große Neuigkeit.

Früh am folgenden Morgen, als Professor Snell an seiner Radium-Box herumschraubte, resigniert fluchend, dass sich immer noch kein Freiwilliger für das Experiment eingefunden hatte, nahmen seine scharfen Augen einen seltsamen Schmierfilm wahr, mit dem das Innere des Kastens bedeckt war.
Seltsam“ fragte sich der Forscher, „wo kommt dieses Zeug her?“

Mr. Beem war vergessen. Für immer.

Originaltitel: The Man the World Forgot
Fantastic Adventures 1940 / 4
Übersetzung: Matthias Käther © 2017



Tudor Jenks - Phantomschmerz (Humor/Grusel, 1899)


Eine Geschichte über ein Gespenst beim Zahnarzt - Tudor Jenks war Kinderbuchautor, veröffentlichte aber zuweilen auch Geschichten in so legendären Pulps wie "Argosy", dem ersten Pulp-Magazin überhaupt.

Solange das Leben ohne besondere Vorkommnisse vor sich hin gleitet, quasi auf spiegelglatter Oberfläche, sind Männer meines Schlages sehr zufrieden. Tumulte, Schlägereien, Abenteuer und aufregende Ereignisse langweilen mich unsäglich. Wenn das Schicksal mich zum Revolutionär oder Feldherrn gemacht hätte, wäre ich wahrscheinlich sehr bald ausgestiegen, um meine Ruhe zu haben. Doch ich bin nichts dergleichen. Vorn an meinem Haus steht „Dr. Med.“, und hinten im Haus steht ein Behandlungsstuhl, der für die Unglücklichen reserviert ist, denen kalte und heiße Drinks, Zucker oder andere schmelzfeindliche Substanzen übel mitgespielt haben.
Sie ahnen es: Ich bin Zahnarzt. Und ich bin genervt - ausgerechnet ich mußte unfreiwillig die Hauptrolle in einer ekelhaften Horrorgeschichte spielen.
Also nicht was Sie vielleicht denken. Der elektrische Bohrer ist nicht abgerutscht und hat sich in das Hirn eines Patienten gefressen. Ich habe auch niemanden unter der Narkose verloren, der mich dann als Geist heimsuchen kam.
Um einen Geist geht es schon. Aber es war nicht auch nicht der Geist eines Freundes oder auch nur eines Bekannten.
Es war ein mir völlig unbekanntes Monster. Und es hatte keine wirklich gute Begründung für sein Erscheinen. Ach ja, und dann tauchte das Scheusal auch noch außerhalb der Sprechzeiten auf.
Aber von vorn.
Ich hab spät gearbeitet, an einem komplizierten Gebiß, als ich ein Grabesstöhnen aus dem Behandlungszimmer dringen hörte. Es war hundertprozentig ein Grabesstöhnen. Leute wie ich kennen sich mit Gestöhn aller Art gut aus.
Ich schaute in den dunklen Raum und sagte: „Hallo...?“
Der Stöhnen kam wieder. Ich trat ein und riß die Augen auf. Ich sah eine wabernde grünliche Lichtfigur hin- und herwanken, direkt neben den Kunsttoff-Falttüren vor dem Behandlungs-Stuhl. Das Ding mußte mich erblickt haben, denn nach einem weiteren schaurigen Stöhner sagte es:
„Ohhh...Sie sind doch Zahnarzt, oder?“
„Genau,“ sagte ich, „worum geht’s denn?“
„Ohhhh! Ohhhh!“ wiederholte es, sich nähernd, „Ich ich habe schreckliche Zahnschmerzen! Ohhhh!“
„Das... ist ein Witz, oder?“ fragte ich todernst. „Falls ja, lach ich morgen drüber. Was soll der Schwachsinn mit übernatürlichen Zahnschmerzen? Spuken Sie bei einem Süßwarenhersteller. Oder einem Koch. Äh... Sie sind...waren doch kein Ex-Patient von mir, oder?“
„Neeieein!!“ heulte mein Besucher. „Aber Sie sind der nächste Zahnarzt. Und...huuuuhhh...das ist schlimmer als der Tod!“
„Aber...Sie...ha...ha...haben keine Macht über mich!“ behauptete ich kühn. „Geister suchen doch immer Typen heim, die es auch verdienen. Ich hab mir nichts zuschulden kommen lassen. Alle meine Patienten sind am Leben. Ähm...wie wärs mit einem von diesen Tierversuchsfritzen? Und überhaupt - wenn Sie wegen einer Behandlung kommen, sind Sie zu spät. Es ist lange nach der Sprechzeit. Haben Sie mein Schild nicht gelesen?“
„Doch!“ erklärte mein grüner Besucher, und in seiner Stimme klang etwas Triumphierendes mit, „ich hab Ihr Schild gelesen, und deshalb hab ich auch Macht...autsch...über Sie!“
„Hä? Was faseln Sie da?“
„Kommen Sie mal mit!“ forderte der Geist mich auf, in einem Ton, der keinen Widerspruch duldete. Ich folgte ihm – seltsam unfreiwillig...
Er wallte zur Haustür, die sich geräuschlos auf sein Nähern hin öffnete. Das Gespenst postierte sich demonstrativ vor der Tür und zeigte dramatisch auf mein Schild. Der Geste gehorchend las ich die fatalen Worte:

ZÄHNE WERDEN SCHMERZLOS ENTFERNT!

„Na und“? fragte ich unbehaglich.
„Tja“, sagte der Geist, „wegen dieser frechen und schamlosen schamlosen Lüge nehm ich mir das Recht raus...äh...hier zu spuken.“
„Aha. Verstehe“, gab ich zurück. „Aber Sie machen den typischen Fehler der meisten Patienten. Sie verallgemeinern. Das Schild ist korrekt. Es sagt nicht, dass ALLE Zähne schmerzlos entfernt werden können. Aber es gibt durchaus Zähne, auf die das zutrifft.“
„Ach wirklich?“ fragte der bedauernswerte Geist, der inzwischen wieder seine Hand an die Wange gelegt hatte und sich vor- und zurückwiegte. „Und was sind das für Zähne?“
„Milchzähne.“
„Oh nein!“ kreischte das Gespenst. „Also: Was soll ich ihrer Meinung nach tun?“ Erneut ein Stöhnen voller Pein und Verzweiflung.
„Jetzt mal Im Ernst.“ Mein professioneller Stolz erwachte plötzlich, „Sie sehen, es ist zwecklos, mich einschüchtern zu wollen. Und obwohl ich Zahnarzt bin, bin ich doch nicht gänzlich abgestumpft gegen menschliches...äh ich meine unmenschliches Leid. Wenn Sie geruhen würden, in den Behandlungsstuhl zu fließen... dann gucke ich mir die Bescherung mal an.“
Ich folgte dem grünen Gewoge, als es in den Raum zurückwolkte und sich auf meinen bequemen und fröhlichen roten Polstern im Zahnarztsessel verbreitete. Ich schnippte den Schalter an, und der Raum wurde von elektrischem Licht durchflutet.
Dann wandte ich zu meinem Patienten um.
Der Stuhl war leer!
„Gott der Allmächtige!“ entfuhr es mir ungeduldig. „Es ist weg!“
Doch sofort hörte ich einen weiteren Schmerzensseufzer.
„Ah, Sie sind noch da... oder?“
„Klar bin ich noch da“ ächzte das Ding. „Unsichtbar im Licht...schon mal gehört?“
Ich schaltete das Licht aus und sah die wabrige Substanz wieder im Stuhl blubbern.
„Also, ja, dann...wolln wir mal sehen...“ seufzte ich, „schön weit aufmachen, den Mund.“
Der Mund wurde geöffnet, und es sah aus, als würde sich ein Rauchring langsam vergrößern.
Dann, nach sorgfältiger Musterung sah ich im Dämmerlicht den üblen Burschen. Oder das, was von ihm übrig war. Eine bildschöne Zahn-Ruine.
„Tjaja“ , murmelte ich. „Das ist kein Staatsakt. Das haben wir in einer Minute draußen, mein Verehrtester...“
„Sir! Autsch!“ unterbrach der Geist.
„Verehrtester Sir!“ beeilte ich mich zu beschwichtigen. „Verehrtester“ pflegte ich ebenso beruhigend wie gedankenlos zu meinen Patienten zu sagen, während ich die speziellen erforderlichen Zangen arrangierte – in diesem Fall für einen rechten vorderen Backenzahn.
„Jetzt geht’s los!“ Verkündete ich, die Instrumente griffbereit auslegend. „Lassen Sie mich sehen, wo er war...“
Ich schnappte nach dem Zahn, doch zu meiner Überraschung stieß die Zange auf keinerlei Widerstand und rutschte glatt durch die neblige Wange. Im selben Moment schloß der Geist jaulend die Kiefer, und das Instrument verschwand fast völlig in seinem Kopf.
Zum ersten Mal während der Behandlung war ich ein ganz kleines bißchen neben der Spur.
„Das... ist vertrackt!“ krächzte ich. „Ehrlich gesagt, ich habe keinen blassen Schimmer, wie ich Sie behandeln soll. Ich kann nichts greifen. Ich kann keinen Phantom-Zahn ziehen, wissen Sie?“
„Ich hab sowas geahnt!“ röchelte die unglückselige Kreatur, und eine Wolke nebliger Tränen entströmte seinen ektoplasmischen Augen. „Was soll ich denn jetzt – au!- machen? Muß ich unzählige Jahre lang diese Höllen-Tortur durchmachen? Selbstmord wäre eine Lösung...Wenn ich nicht schon tot wäre...“
Das war sicher eine sehr schwierige Situation, und ich zerbrach mir den Kopf, wie ich meinem Patienten Erleichterung verschaffen könnte. Doch der Geist kam mir zuvor.
„Ich habs!“ rief er aus. Sie müssen Ihre Zange transzendieren!“
„Ich bin Doktor der Zahnmedizin, kein Philosophieprofessor.“
„Ich meine, Sie müssen sie vergeistifizieren!“
„Vergeistiwas?“
„Das ist es!“ jubelte der Geist. „Haben Sie einen Schmelztiegel?“
„Klar doch. Mehrere.“
„Sehr gut. Werfen Sie die Zange in den Tiegel. Verdampfen Sie sie, und sie wird auf meiner geistigen Ebene sein.“
„Hm, wir könnten es zumindest versuchen,“ antwortete ich.
Und so gingen wir ins Labor. Ich deponierte die Zange in meinem größten Schmelztiegel und stülpte eine Glasglocke darüber, um die Dämpfe aufzufangen.
Ich schraubte den Bunsenbrenner auf volle Stärke, und binnen kurzer Zeit wurde ich mit dem Anblick belohnt, wie meine Zange ihren Glanz, ihre Härte und ihre Form verlor und schließlich schmolz. Einige Minuten später sah ich einen metallischen Nebel in der Glasglocke kondensieren.
„Aha!“ rief der Geist (er war unsichtbar wegen des Lichts), „lassen Sie mich das nehmen. Machen Sie das Licht aus, bitte“.
Ich tat wie geheißen, und sah, wie der Geist seine Schattenhand unter das Glas steckte und die vage wabernden Zangendämpfe ergriff.
„Jetzt“, fuhr das Gespenst freudig fort, haben wirs.“ Und er ging mir voran zum Behandlungsstuhl, und saß bereits drin, bevor ich auch nur in der Tür stand.
„Hier!“ sagte er, mir die geisterhafte Zange entgegenstreckend.
Ich griff danach und versuchte sie zu nehmen, doch sie hatte keinerlei Substanz, und meine Hand schloß sich leer um heiße – sehr heiße! - Luft.
„Autsch!“ sagte nun ich mal zur Abwechslung. „Ich kriege das Ding nicht gehalten!“
„Verdammte Pechsträhne!“ kreischte der Geist, das Instrument wütend von sich schleudernd. Worauf hin die Zange friedlich davonschwebte. Der Geist rieb sich sein schmerzendes Kinn.
„Moment mal!“ schlug ich vor, nach einem grüblerischen Augenblick, „warum ziehen Sie sich das Ding nicht selbst raus?“
„Bei allen Glockenaschlägen der Mitternacht – und ob ich das werde!“ stöhnte das leidende Gespenst herzlich.
Es waberte in Richtung des schwebenden Instruments, grapschte danach und kehrte in den Stuhl zurück.
„Wie...äh...macht man das?“ fragte es.
„Oh, ganz einfach!“ antwortete ich ungeduldig. „Das ist keine Hexerei. Finden sie einen guten Angriffspunkt, und dann reißen Sie, was das das Zeug hält.“
„Aber...wird es nicht wehtun?“ fragte der Schatten.
„Klar, höllenmäßig“, gab ich leichthin zurück. „Meistens jedenfalls. Aber das muß Sie jetzt nicht weiter beunruhigen. Sie sind jetzt der Zahnarzt, und Sie müssen nicht über den Patienten nachdenken.“
„Das klingt nach einem guten Tipp“, jammerte des Wesen wehmütig,“ vorausgesetzt, Patient und Zahnarzt sind nicht dieselbe Person. Naja, ich vermute mal, da muß ich jetzt durch.“
Und mit diesem Worten setzte die wabernde Gestalt die vergeistigte Zange an und zog mit all seiner nebelhaften Stärke.
Die Operation war nach einer Minute vorbei, und sie war vollständig erfolgreich. Es dauerte nicht lange, bis das Gespenst sein munteres Wesen zurückerlangt hatte.
Es lehnte sich behaglich zurück in meinen Stuhl und war geneigt, ein wenig zu plaudern.
„Wenn diese letzte Idee nicht funktioniert hätte, raunte es versonnen, „wären da noch zwei andere geblieben, ich ich ausprobiert hätte.“
„Tatsache?“ fragte ich mit einem Gähnen, denn die Nacht war inzwischen ziemlich weit fortgeschritten.
„Ja. Ich hätte zum Beispiel aus Ihnen einen Geist machen können.“ bemerkte das Wesen mit einem rötlichen Glimmen von teuflischem Humor in seinen phosphoreszierenden Augen.
„Könn...könnten Sie das wirklich?“, stotterte ich, während die zweite kalte Woge dieser Nacht mein Rückgrat entlangwanderte.
„Ohne Probleme“, meinte der Geist. „Sie fänden es wahrscheinlich gar nicht so übel, wenn Sie erstmal... Also ich könnte jederzeit, wenn Sie wollen...“
Ich unterbrach ihn hastig.
„Und der zweite Plan?“
„Ich hätte den Geist eines Zahnarzts finden können. Das ist nun wieder nicht so einfach. Man hätte ein bißchen recherchieren müssen, denn wir kennen uns auf dem Friedhof hauptsächlich durch die Inschriften auf den Grabsteinen, da steht nichts über Zahnärzte, jedenfalls soweit ich feststellen konnte. Ich hätte all die – ähm... Versammlungsorte abklappern müssen, sogar die Krematorien...“
„Na egal“ unterbrach ich. „Es ist fast Morgen, und ich könnte eine Mütze voll Schlaf gebrauchen. Also wenn Sie freundlicherweise die Operation bezahlen würden, und...“
„Was für eine Operation?“ fragte der wabernde Schurke mit bewunderungswürdiger Unschuld.
„Extraktion eines Zahns“ antwortete ich fest.
„Ach ja?“ höhnte der Geist. „Ich werde ganz bestimmt für nichts bezahlen, das ich selbst gemacht habe. Was für eine Frechheit!“
Dieses Argument verunsicherte mich.
„Aber...aber...“ faselte ich, mich für einen Angriff sammelnd, „Ich habe Ihnen mit fachärztlichem Rat zur Seite gestanden!“
„'Finden Sie einen guten Anhaltspunkt, und reißen Sie, was das Zeug hält'? Ist das ihr fachärztlicher Rat?“ Das Wesen lachte hohl.
„Zumindest“, schnaubte ich, vor Ärger fast platzend, „bezahlen Sie mir die Zange, die ich vergeistifiziert habe!“
„Hm, da mag was dran sein an der Forderung“ gab das grünliche Monster zu, „aber selbst wenn ich das einräume, sehe ich keinen Weg, um Sie zu bezahlen – da sind keine Taschen im Leichenhemd, wissen Sie?“ Erneut das nervtötende Lachen in der Lautstärke eines Nebelhorns.
„Sie...sind ein ganz ordinärer Schwindler“, explodierte ich, meine Faust vor seinem Gesicht schüttelnd.
„Na los, haun Sie mich durch – sie werden glatt durch mich durchhauen!“ Er lachte über seinen Kalauer. „Wenn das Ihre Gefühle erleichtert – bitte! Ich versichere Ihnen – das macht mir nicht das Geringste aus. Und nun mal im Ernst – Sie müssen zugeben, dass ich alles andre bin als ein ordinärer Schwindler, denn Geister sind ziemlich ungewöhnliche Scharlatane. Na schön, ich werde Sie entlohnen, und ich weiß auch schon wie. Schließlich haben Sie sich um mich gekümmert, auch wenn Ihr offensichtliches Motiv merkantiler Natur war. Ich werden Sie zum Dank in etwas einweihen, das Ihnen ein großes Vermögen bescheren wird. Also hören Sie...“
Der bleiche Nebel rollte aus dem Stuhl und waberte auf mich zu. Ich war beeindruckt von der unheimlichen Intensität der Augen dieses Dings, und lauschte atemlos.
„Direkt unter der Washington Bridge, im Harlem River, ist etwas vergraben, das...“
Doch da ertönte plötzlich ein ferner Hahnenschrei vom Hof unseres hühnerbesessenen Nachbarn, und mit einem finalen Kreischen – keine Ahnung, ob es Angst oder Hohn bedeutete – verschwand der Geist.
Am nächsten Tag hängte ich das Schild ab.


Originaltitel: A supernatural swindle
Argosy 1899/2
Übersetzung © Matthias Käther 2018


Laurence Kirk: Dr. Macbeth (1940)

Heute möchte man es kaum noch glauben: Die „Cosmopolitan“ war mal ein richtig gutes Literaturmagazin! Bereits im 19. Jahrhundert gegründe...