Ein Mann, der so wenig Ausstrahlung
hat, dass man ihn übersieht. Sehr übersieht. Ein kleines
Meisterstück vom genialen David Wright O'Brien, der nur 26 jährig
im 2. Weltkrieg ums Leben kam. Die erste Geschichte von ihm auf
deutsch!
Keiner der
Passagiere des Acht-Uhr-Zwanzig-Zuges schenkte Lucius Beem die
geringste Beachtung, als er in die Vorortbahn stieg. Allerdings fand
Mr. Beem - gekleidet in seinen üblichen unaufdringlichen grauen
Anzug und seinen grauen Mantel, bedeckt mit seinem grauen Hut - das
nicht im Mindesten ungewöhnlich. Wenige Leute schenkten ihm jemals
Beachtung.
„Schöner
Morgen“ bemerkte Mr. Beem, als er im Abteil Platz nahm.
„Ausgesprochen schöner Morgen. Wirklich.“
Sein Gegenüber
blickte zerstreut auf.
„ Oh,
äh, ja, schöner Morgen, Mister, äh...Mister...“
Mr. Beem seufzte
resigniert. Kaum jemand konnte sich seinen Namen merken.
„Beem.
Mein Name ist Mr. Beem.“
Er entschied
reuevoll, dass es keinen Zweck hatte, diesen Mann an seinen Namen zu
erinnern. Es was das sechzehnte Mal in diesem Monat, dass er ihn
vergessen hatte. Beide fuhren seit zehn Jahren im selben Zug in die
Stadt und saßen fast immer zusammen.
„Klar.
Natürlich“, murmelte der Passagier“. „Peinlich von mir, das zu
vergessen, Mr. Dream.“
Mr. Beem vergrub
sein Gesicht in seiner Zeitung und überflog die Tagesnachrichten.
Fünfzehn Minuten später blickte er auf und sprach seinen
Abteilgenossen ein weiteres Mal an.
„Ist
das nicht seltsam?“ Beem wies auf die Kolumne seiner Zeitung.
„Dieser berühmte Professor Snell ist nicht in der Lage,
irgendjemanden für seine radioaktiven Strahlungs-Tests zu finden.
Man sollte doch denken, dass sich irgendwer auf der Welt nicht zu
schade ist, ein Opfer zu bringen für eine bessere Welt, was?“
„Hä?“
Der Passagier warf
Mr. Beem einen leeren Blick zu. „Haben Sie irgendwas gesagt“?
„Ich
hab gesagt...“ Mr. Beem seufzte und gab es auf. Der Mann hatte sich
wieder abgewandt.
Mr. Beem entstieg
seinem Zug und schlängelte sich durch das Gewühl der Menge zu einem
kleinen Café an der Bahnhofsecke. Es war eine zehn Jahre währende
Gewohnheit, hier zunächst mal Brötchen und Kaffee zu frühstücken,
bevor er weiter ins Büro marschierte.
Mr. Beem schlüpfte
auf einen Barhocker am Tresen. Als Cleo, die Kellnerin,
herüberschwebte, um die Bestellung aufzunehmen, raffte er sich zu
etwas auf, das er für ein ermutigendes Lächeln hielt. Es war etwas
Beruhigendes, Cleo jeden Morgen zu sehen. Sie arbeitete hier als
Kellnerin, solange er denken konnte.
„Morgen,
Cleo!“, sagte Mr. Beem herzlich. „Schöner Morgen, nicht?“
Das Gesicht des
Mädchens blieb undurchdringlich. „Mja“ nickte sie unverbindlich.
„Sollsnsein?“
Mr. Beems Stimme
klang einen Hauch vorwurfsvoll.
„Das
Übliche bitte.“
„Und
was“, fragte sie scharf, „is das übliche?“
Mr. Beem seufzte
schwer. „Kaffee und Brötchen.“
Er fühlte sich
plötzlich ein bißchen einsam. Die Leute nahmen ihn für gewöhnlich
nicht wahr. Solche Dinge wie eben passierten ständig in seinem
einfachen, anspruchslosen Leben. Doch dieser spezielle Morgen war
schlimmer als jeder andere, den Mr. Beem je erlebt hatte. Mit einem
wehmütigen Blick auf die Wanduhr schlürfte Mr. Beem seinen Kaffee.
In den Aufzug
seines Bürogebäudes steigend, nickte Mr. Beem dem Fahrstuhlführer
nüchtern zu. „Moin, Ted!“, murmelte er. Nachdem der
Fahrstuhlführer fröhlich die anderen Ankömmlinge per Namen begrüßt
hatte, schenkte Ted seinem blassen Passagier einen uninteressierten
Blick.
Es war Teds Stolz,
dass er den Laden in- und auswendig kannte und alle Stammkunden, die
er täglich rauf und runter kutschierte, beim Namen nennen konnte.
Folgerichtig starrte Mr. Beem ihn säuerlich an, als der Aufzug nach
oben sauste. Ted wandte sich ihm zu. „Etage, bitte?“
Doch als er in das
Büro von Sharpe & Sholt trat, wo er seit fünfzehn Jahren eine
bescheidene Stellung innehatte, vergaß Mr. Beem die anderen
vergleichsweise kleinen Zwischenfälle des Morgens vollständig.
Denn Lola, die
Rezeptionistin, hielt ihn am Eingang auf.
„Wollen
Sie jemanden Bestimmten sprechen?“
Mr. Beem war nicht
der Typ, der sich ohne weiteres aus der Bahn werfen ließ. Aber zum
ersten Mal in seinem Leben erlebte er etwas, das einem Schockzustand
sehr nahekam.
„...jemanden...Bestimmten...sprechen...?“
sagte er wie unter Hypnose. „Das ist ein Witz, oder?“
Lola verzog
bedauernd das Gesicht.
„Tut
mir leid, Sir. Offensichtlich waren Sie schon einmal hier. Aber haben
Sie eine Verabredung mit jemandem?“
„Ich...also...naja...ähm...Ich
arbeite hier...“ stammelte Mr. Beem.
„Sie
arbeiten hier?“ Die
Stimme des Mädchens war plötzlich eine Mischung aus Ungläubigkeit
und Mißtrauen. „Hier???“
Unvermittelt begann
sie an ihrem Pult herumzustöpseln und Kabel zu verbinden. Blinkende
Lichter spiegelten sich in ihrem Gesicht.
„Mr.
Sharpe“, sagte sie, „Hier is ein Typ, den ich in meinem ganzen
Leben noch nie gesehen hab. Er behauptet, er is hier angestellt. Will
rein zu Ihnen. Was soll ich machen?“
Lola wandte sich
zum schockstarren Mr. Beem. „Mr Sharpe würde gern Ihren Namen
wissen, Sir. Er sagt, falls Sie eine Stellung haben wollen,
hinterlassen Sie bitte Ihren Namen, und wir rufen Sie an, wenn sich
irgendwas ergibt.“
„Sag
ihm“ - Mr. Beem wurde langsam grantig - „mein Name ist Beem.
Keine Ahnung, was du hier für eine Nummer abziehst, Lola, aber Mr.
Sharpe wird...“
„Er
sagt, sein Name ist Team“ raunte Lola ins Mikrofon, „...oder so
ähnlich...Was? Ja, Sir, ich sags ihm.“
Sie wandte sich
erneut an Mr. Beem.
„Mr.
Shape, sagt, er hat noch nie was von Ihnen gehört, aber wenn Sie
Ihre Qualifikationen in dieses Formular eintragen möchten“, sie
hielt ihm ein Blatt Papier hin, „würde er gern mit Ihnen in
Kontakt bleiben, falls sich was ergibt, und...“
Sie stoppte ihnen
Redefluss abrupt, den Mund weit offen, denn der graue, mausartige
Mann stob aus dem Büro und rannte Hals über Kopf den Korridor
entlang, als wären tausend Teufel hinter ihm her.
Fast eine Stunde lang wanderte Mr. Beem
verzweifelt und verwirrt durch die Straßen, nachdem er aus dem Büro
gestürmt war. Durch sein Hirn waberten halbformulierte Fragen, vage
Verdächtigungen und unfertige Antworten. In der ersten halben Stunde
tendierte Mr. Beem zu der erschütternden These, dass die Welt
begann, durchzudrehen.
Doch nach einer Weile verwarf er diese
Erklärung, sich daran erinnernd, das es die Gewohnheit aller
Psychotiker war anzunehmen, alle außer ihnen selbst seien
wahnsinnig. Dann fielen ihm Horror-Geschichten ein, in denen
unheimliche Gestalten unerkannt durch die Welt schlurften, beachtet
von niemandem. Diese Schauergeschichten endeten für gewöhnlich mit
der faden Pointe, dass Held der Story längst tot war. War er, Mr.
Beem, gestorben? Der Gedanke war grauenvoll, und Mr. Beem schreckte
vor ihm zurück. Nein, er war ganz gewiß nicht tot.
Unbewußt hatten Mr. Beems Füße ihn
ohne sein Wollen zum Bahnhof zurückgetragen. Fast ohne es zu
bemerken, kaufte er ein Ticket für die Vorortbahn und setzte sich in
die Wartehalle, um die Ankunft des nächsten Zuges zu erwarten. Zu
diesem Zeitpunkt hatte sich sein Verstand etwas geklärt. Er würde
nach Hause gehen. Martha, seine Frau, würde zwar ziemlich überrascht
sein, ihn zu sehen. Er war nicht mehr unerwartet nach Hause gekommen,
seit damals, als sein Blinddarm geplatzt war. Es würde eine Menge
Mühe kosten, Martha zu erklären, was passiert war, aber sie war
seine einzige Chance auf etwas Trost. Der einzige verbleibende feste
Anker seines Lebens. Vielleicht, dass sie ihm einen Doktor rief. Und
es könnte beschlossen werden, dass er eine Pause vom Job brauchte.
Das war es! Nervenzusammenbruch!
In die Straße seines behaglichen
kleinen Vororthäuschens einzubiegen war tröstlich für Mr. Beem.
Die vertraute Reihe von Pappeln und
weißbemalten Zäunen gab ihm ein vages Gefühl der Sicherheit. Als
er seine eigene weiße Holzzaunpforte öffnete und seinen Gartenweg
betrat, pfiff er sogar vor Erleichterung. Es war ein melodieloses
Pfeifen, öde, fahl und unharmonisch.
Martha hatte ihm nie einen eigenen
Schlüssel gegeben. So war Mr. Beem gezwungen, den Türklopfer zu
benutzen. Er bemühte sich um ein selbstsicheres Lächeln, als er
seine Frau zur Tür laufen hörte. Er wollte sie auf keinen Fall
schockieren oder erschrecken. Schließlich könnte sie denken, er
wäre ernstlich krank.
Er hörte im Haus ihre Absätze über
den Boden klackern. Die Tür schwang auf. Mr. Beem trat auf die
Schwelle.
„Hallo, Süße“, sagte er, „krieg
bloß keinen Schreck. Ich fühl mich nicht so gut heute und dachte,
ich fahr besser nach Haus...“
Doch er kam nur ein paar Zentimeter
weit. Denn Mrs. Beem starrte ihn mit einer Mischung aus Erstaunen und
Verärgerung an. Bevor er ganz im Flur war, schmetterte sie ihm die
Tür vor die Stirn.
„Ma...Martha, was ist los? Ich bins
bloß! Stimmt was nicht?“ Mr. Beems Stimme verlor beinahe ihre
Fadheit, und eisiger Schrecken ließ seine Knie weich werden.
Die Stimme seiner Frau war hoch,
schrill und vermutlich in der ganzen Straße zu hören. „Wer immer
Sie sind, Vertreter oder Aufreißer – sie haben den Nerv, mich Süße
zu nennen und versuchen, sich Zutritt zu meiner Wohnung zu
verschaffen? Verschwinden Sie sofort, oder ich ruf die Polizei!“
Dann brachte sie einen geschickten,
fiesen Kick gegen Mr. Beems Schienbein an, das sich immer noch
zwischen Tür und Pfosten befand. Er zog es rasch zurück, und
augenblicklich knallte die Tür zu. Er hörte seine Frau die
Sicherheitsriegel vorschieben. Dann klickerten ihre Absätze erneut
über den Flur.
Für mehrere zähe Minuten stand Mr.
Beem vor seiner verschlossenen Tür, sein schmerzendes Schienbein
reibend. Panik griff mit eisigen Fingern in sein Hirn.
Mit dem Handrücken die Augen wischend,
stakste der verwirrte Mr. Beem die Stufen seines Heims hinunter und
wanderte ein weiteres Mal ziellos durch die Straßen. Verzweiflung
hatte den schmalen Mann erfaßt. Rasende Verzweiflung – und
Todesangst.
Tief in einem versteckten Winkel seines
gemarterten Hirns raunte eine penetrante, peinigende, spöttische
Stimme: „Du wirst verrückt! Das ist es. Du wirst verrückt!“
Mr. Beem stand stocksteif mitten auf
dem Bürgersteig und wehrte sich mit aller Macht gegen diesen
Gedanken. „Nein...“ erklärte er sich selbst.
„Ich-drehe-nicht-durch...“
Er sah den Gehweg hinauf – und
hinunter. Da war niemand, der seinem Statement widersprach. Eine
Träne wegwischend, bewegte sich Mr. Beem erneut in Richtung Bahnhof.
Zwei Stunden später stand ein
verzweifelter Mr. Beem, gekleidet in dröges Grau, nervös vor einer
Tür im zwölften Stock eines Bürohauses im Zentrum der Stadt. Die
Aufschrift auf der Milchglasscheibe lautete: „Dr. Clarence Q. Zale,
Psychiater.“
Der unauffällige kleine Mann hüstelte
nervös, straffte seine herabhängenden Schultern, atmete tief durch
und trat ein.
Er fand sich in in einer Art kleiner
Rezeption wieder. Dahinter sah er eine weitere Milchglasscheibentür
mit der schlichten Aufschrift: „Dr. Zale.“
Die zweite Milchglasscheibentür
öffnete sich und ein großer, bärtiger, sehr eindrucksvoll
aussehender Mann von etwa Fünfzig erschien, um Mr. Beem zu
begutachten. Er glättete die Aufschläge seines Prinz-Albert-Anzugs
mit professionellem Griff, warf seinem recht gewöhnlichen Besucher
einen nachlässigen Blick zu und sprach:
„Ich bin Dr. Zale. Wollen Sie zu
mir?“
„Ja“ flüsterte Mr. Beem. „Ich
wollte zu Ihnen. Ich glaube nämlich, ich verliere den Verstand.“
„Tsss!“ machte Dr. Zale abwesend.
„Wie bedauerlich. Aber kommen Sie doch rein.“
Es war vielleicht fünfzehn Minuten
später, als Mr. Beem die aufregendste Geschichte seines Lebens
beendet hatte: Die turbulenten Ereignisse dieses Morgens.
Dr. Zale erhob sich aufgeregt von
seinem Schreibtisch. „Das“, rief er aus, „ist ja unglaublich!“
Mr. Beem blickte auf den Psychiater mit
einer Art von hündischer Ergebenheit und Hoffnung.
„Wenn das alles wahr ist, was Sie da
erzählt haben“, fuhr Dr. Zale fort, „dann sind Sie das
interessanteste Exemplar der psychiatrischen Forschung, dem ich je
begegnet bin! Sie, Mr. Leem, sind das perfekte Beispiel für die oft
postulierte und nie gefundene Minus-Persönlichkeit!“
Mr. Beem zuckte zusammen.
„Mi-nus...“
„Genau. Minus-Persönlichkeit. Sehen
Sie, Mr. Weem, Charakter oder Persönlichkeit ist in Wahrheit nichts
anderes als eine Art elektromagnetische Aura des Menschen. Nicht
zufällig nennt der Volksmund das Aus-Strahlung. Je stärker diese
elektrische Aura ist, desto größer die menschliche Ausstrahlung.
Wir sprechen dann von einer starken Persönlichkeit.“
Der Psychologe machte eine Pause, um
Mr. Beem Zeit zu geben, das verdauen.
Dann fuhr er fort:
„Ausgehend von dem, was Sie mir grade
erzählt haben, Mr. Deem, hatten Sie schon immer eine ausgesprochen
schwache Persönlichkeit. Ihre Umgebung fand es von jeher schwierig,
sich an Sie zu erinnern. Grund ist die schwache Aura. In letzter Zeit
ist Ihre positive Ausstrahlung schwächer und schwächer geworden.“
Die nächste Pause wählte Dr. Zale aus
dramaturgischen Gründen.
„Heute, Mr. Ream, haben Sie nicht nur
aufgehört, eine positive Aura auszustrahlen, sie haben Energie
absorbiert. Anders gesagt,
Sie strahlen nun negative Persönlichkeits-Signale aus. Sie sind eine
Minus-Persönlichkeit geworden.“
Der vor Entsetzen
gelähmte Mr. Beem war sich der Bedeutung dieser Ansprache der
Psychiaters nicht ganz klar, doch der Ton der Experten-Stimme war
unheilsschwanger genug, um ihn tödlich erblassen zu lassen.
„Nein...“
krächzte der negative Mr. Beem.
„Doch!“
versicherte Dr. Zale. „Und das Ergebnis ist, dass die Welt beginnt,
Sie völlig zu vergessen. Für die Menschen, die Sie bisher gekannt
haben, sind Sie nie geboren worden! Sie machen einen konstanten
negativen Eindruck von großer energetischer Wucht auf sie!“
Mr. Beem saß
schlotternd auf seinem harten Stuhl, seine Hände in qualvoller
Verzweiflung verschränkend und wieder auseinaderreißend. Seine
wässrigen bleichen Augen sendeten ein stummes Flehen an den
Spezialisten.
„Aber
Sie werden natürlich nicht wirklich vergessen werden, Mr. Jeem“,
beruhigte Dr. Zale. „Denn von diesem Moment an gehen Sie in die
Geschichte ein. Sie sind das größte medizinische Phänomen aller
Zeiten!“
Die Stimme des
Doktors hatte eine exaltierte Schärfe bekommen. Seine Augen
funkelten.
„Sie
bleiben, wo Sie sind! Sie bewegen sich nicht von der Stelle! Ich gehe
raus und rufe ein paar Kollegen aus dem Haus zusammen. Ich brauche
ein paar weitere Meinungen, Mr. Queem.“
Er hastete zur Tür,
stoppte, wendete sich noch einmal an Mr. Beems Stuhl. „Keinen
Zentimeter bewegen Sie sich da weg!“ wies er ihn erneut an, seine
schmale Schulter tätschelnd. „Auf keinen Fall verlassen Sie die
Praxis! Ich bin sofort mit den Kollegen zurück!“
Mr. Beem verschmolz
gehorchend mit seinem Stuhl.
Dr. Zale raste aus
seinem Behandlungszimmer, stürmte den langen Korridor hinunter.
Seine Schritte hallten für einige Meter gehetzt über den
Marmorboden, dann zögerten sie, verlangsamten sich, stoppten.
Dann waren sie
erneut zu hören. Sie kehrten gelassen zurück. Der Psychiater
schlenderte gemächlich in sein Zimmer, steuerte den
Garderobenständer an und nahm Hut und Mantel vom Haken. Er kleidete
sich an, etwas unverständliches murmelnd, schenkte Mr. Beem
keinerlei Beachtung und verschwand erneut.
Verwirrt starrte
Mr. Beem ihm nach, um dann noch weiter im Stuhl zu versinken, falls
das überhaupt möglich war. Er wartete lange, nervös zappelnd.
Eins-, zweimal erhob er sich und wanderte auf und ab, um sich bald
wieder bescheiden auf seinem Stuhl niederzulassen.
Aber Dr. Zale
kehrte nicht zurück.
Und dann
realisierte Mr. Beem endlich die Wahrheit. Man hatte ihn wieder
vergessen.
Mr.
Beem verließ niedergeschmettert die Praxis, einen dicken Kloß in
seinem dürren Hals mühsam herunterwürgend. Warum, überlegte er in
einer Art qualvoller Sehnsucht, konnte er nicht einfach ein
Amnesie-Opfer sein anstatt einer Minus-Persönlichkeit? Ein perfektes
Amnesie-Opfer, genau, das wärs. Dann hätte er die
Welt vergessen, nicht umgekehrt.
Doch als der kleine
Mann auf die Straße trat, wußte er im Grunde seines
Durchschnitts-Herzens, dass das kein echter Trost war.
Die Abendbrotzeit
rückte heran, und wehmütig schaute Mr. Beem in die erleuchteten
Fenster der Stadt, dachte schmerzlich an sein eigenes grüngedecktes
Häuschen, und wie Martha in ihm ihr Essen kaute. Der Gedanke an
seine Frau, die nicht länger wußte, dass sie verheiratet war, war
mehr, als Mr. Beem ertragen konnte. So verdrängte er die Bilder, nur
mit dem Ergebnis, dass noch bitterere Empfindungen in ihm
hochkochten.
Da war der Fluß,
zum Beispiel. Nur ein paar Häuserblocks entfernt. Es wäre ein
kurzer Spaziergang. Das Brückengeländer war nicht hoch...
Mr. Beem
schauderte. Nein, er war kein Feigling. Selbstmord, das war die
letzte Ausflucht eines Versagers. Eines Menschen, der am Ende war.
„Ich
bin kein Versager! Ich bin nicht am Ende!“ versicherte sich Mr.
Beem leidenschaftlich. Doch im gleichen Augenblick durchflutete ihn
die Erkenntnis seiner ganzen jämmerlichen, vergeblichen Existenz um
so heftiger. Was sollte er tun? Wo sollte er hin?
Die Welt hatte
keinen Platz für vergessene Menschen.
Mr. Beem vergrub
seine Hände in seinen grauen Manteltaschen und stapfte voran. Da war
plötzlich etwas Entschiedenes, ja Kämpferisches in seiner Brust. Da
war etwas, das er nicht richtig in Worte fassen konnte. Er wußte
nur, dass er irgendwie, in irgendeiner Weise die Welt auf sich
aufmerksam machen mußte, damit sie ihn wieder wahrnahm. Und zwar
nicht bloß als Mann, sondern als eine Berühmtheit, als eine
grandiose Figur von Ewigkeitswert, bewundert von der Nachwelt.
Leben und Tod –
beides war unwichtig angesichts dieser neuen Entschlossenheit, die
plötzlich in der Brust des Mr. Minus-Beem brannte. Es zählte nicht
länger, was aus dem physischen Mr. Beem wurde, solange er dem
unsterblichen Lucius Beem zum Erfolg verhalf.
„Und
es wird diesen unsterblichen Beem geben!“ verkündete der dröge
Mr. Beem laut. Als er so sprach, durchblitzte ein Gedanke seinen
Geist, der unbewußt schon in den letzten Minuten in ihm herumgespukt
hatte und nun klare Konturen annahm.
Die Nachrichten am
Morgen! Besonders die eine, von der er dem Passagier erzählt hatte!
Die Stelle über den Wissenschaftler, der ein menschliches
Versuchskaninchen für seine Strahlungsexperimente suchte! Sicher
würde Fortuna ihm wenigstens in dieser Angelegenheit zulächeln.
Hier war die Chance seines Lebens, die Gelegenheit, um der Welt zu
zeigen, was für ein Held in Lucius Beem steckte! Ein Held, an den
sich die Menschheit so lange erinnern würde, wie sie existierte.
Er wäre der Mann
der Stunde. Sein Name wäre für immer eingeschrieben in die Annalen
von Wissenschaft und Fortschritt! Dann würde er eine Identität
haben! Dann würde er – SEIN!
Winzige Eiszapfen
der Erregung glitschten sein zerbrechliches Rückgrat herauf und
hinunter, als er so dastand, sich das Ausmaß seiner Entscheidung
ausmalend. Dann schreckte ihn ein unerfreulicher Gedanke aus den
rosigen Träumen. Was, wenn der Forscher schon jemanden gefunden
hatte?
Nein, das durfte
nicht sein. Das Schicksal konnte Mr. Beem keinen so grausamen Streich
spielen!
Aber rasches
Handeln tat not. Man konnte nie wissen, ob und wann jemand anderes
sich entschloss, sich selbst für dieses Experiment zu opfern.
Da war ein Kiosk an
der Ecke, und Mr. Beem kam einen Moment später keuchend vor ihm zum
Stehen. Dann, unter eine Laterne tretend, durchblätterte der
unauffällige Mann aufgeregt die Zeitung auf der Suche nach einer
Mitteilung über das letzte Strahlungsexperiment des
Wissenschaftlers. Endlich fand er etwas auf der zweiten Seite, eine
unauffällige kleine Spalte am unteren Ende. Es war eine knappe
Zusammenfassung des Textes in der Morgenausgabe, lediglich zusätzlich
feststellend, dass Professor Snell immer noch keinen Freiwilligen
gefunden hatte.
Das Blatt mit einer
Hand umkrampfend, winkte Mr. Beem wie rasend mit der anderem einem
Taxi zu. Als der Wagen vor ihm anhielt, schaute Mr. Beem kurz auf
Snells Adresse, die winzig klein in der Zeitung abgedruckt war.
„Vine
Street sechsundsechzig!“ schnauzte er den Fahrer an. „Und
schnell!“
Der Taxifahrer
knallte die Tür hinter seinem Passagier zu und legte den Gang ein.
Dann schossen sie durch illuminierte Boulevards. Fünfzehn Minuten
später hielt der Wagen mit quietschenden Reifen an der angegebenen
Adresse. Der Fahrer hatte keine Chance, die Tür für seinen Gast zu
öffnen, denn Mr. Beem verließ das Auto wie eine Kugel den Revolver,
um dann seinen Mantel nach der Brieftasche zu durchwühlen.
„Was
kriegen Sie?“ fragte er atemlos.
Ein perplexes
Stirnrunzeln umwölkte das Antlitz des Fahrers. Rasch warf er einen
Blick auf den Rücksitz. Dann, den Mund weit offen, starrte er Mr.
Beem an.
„Und?“
schnappte der graue Mann ungeduldig, „was schulde ich Ihnen?“
„Eh“,
blaffte der Fahrer grob, „Is das'n Gag oder sowas?“
Mr.
Beem setzte zu einer Antwort an, aber der Taximann ließ ihn nicht zu
Worte kommen. „Sind Sie der Typ, den ich aufgegabelt hab, oder werd
ich langsam bekloppt? Hab Sie noch nie zuvor gesehn. In meim ganzen
Leben nich! Also keine Ahnung, wie der Typ aussah, der eingestiegen
is, ich kann nur sagen – sie
hab ich noch nie gesehen!“
Mr. Beem konnte
keine weiteren kostbaren Momente verschwenden. Er schob dem Fahrer
einen Schein in die Pranke und rannte die Stufen zum Anwesen von
Professor Snell hinauf.
Ein kleiner,
plumper, energiegeladener Mann ließ Mr. Beem ein. Seine glänzenden
Knopfaugen musterten das öde Gesicht des kurzatmigen Besuchers
aufmerksam. Dann sprach er:
„Ich
bin Professor Snell. Kann ich irgendwas für Sie tun?“
„Professor“,
keuchte der Angesprochene, „Ich hab über Sie in der Zeitung
gelesen!“
„Jaja“,
nickte der Wissenschaftler traurig. „Auf dem Höhepunkt meiner
Forschungen über die Möglichkeiten radioaktiver Strahlung kann ich
keinen Freiwilligen auftreiben, mit dem ich meine bahnbrechenden
Thesen beweisen würde!“
Mr. Beem atmete
tief durch. „Professor Snell – ich bin Ihr Mann!“
In den Augen des
Professors blitzte es. Doch als er sprach, blieb seine Stimme ruhig
und behutsam.
„Sie
verstehen, was es bedeutet, sich darauf einzulassen? Ich arbeite mit
Radium.“
Er hob eine Hand,
als Mr. Beem unterbrechen wollte.
„Sie
könnten aus diesem Versuch natürlich unbeschädigt hervorgehen.
Allerdings...“ er machte eine seltsame Bewegung mit seinen
Schultern, „könnten sie auch...chronische Schäden...“
Mr. Beem hörte
seine Stimme heiser antworten: „Ich verstehe vollkommen. Es ist mir
egal, wie das Experiment ausgeht. Alles, was mich interessiert, ist
meine Pflicht, der Nachwelt zu dienen. Vielleicht wird sie sich dann
an meinen...kleinen Beitrag freundlich erinnern.“
Der Professor
stürzte auf Mr. Beem zu und schüttelte seine Hand. „Sie sind, äh,
ein tapferer Mann. Und seien Sie sicher: Egal wie das Ganze ausgeht,
diese Tat wird immer im Gedächtnis der Wissenschaft bleiben, keine
Sorge. Ich werde mich persönlich darum kümmern.“
Tränen traten in
die Augen des langweiligen kleinen Kerls, als er die Hand des
Professors mit seinen beiden umschloß. Endlich! Mr. Beem würde
zurückkehren ins kollektive Gedächtnis, um für immer dort zu
verweilen!
„Von
mir aus können wir sofort anfangen!“ krächzte er.
Professor Snell war
sofort wieder ein kühler Mann der Wissenschaft. „Gut. Freut mich,
dass sie so schnell zum Punkt kommen.“ Er kramte nach einem
Formular auf dem Schreibtisch neben ihm. „Bitte“, sagte er, ihm
das Blatt reichend, „schreiben Sie Ihren Namen auf und die Namen
der Freunde oder Angehörigen, die ich informieren kann, falls
etwas...also...“ Er brach bedeutungsvoll ab.
„Nicht
nötig. Da gibt es niemanden auf der Welt - außer mir,“ sagte Mr.
Beem.
Und dann waren sie
im Laboratorium von Professor Snell.
Alles, was Mr. Beem
umgab, war weiß und sah wissenschaftlich-effizient aus. Der
rundliche Professor fummelte geschäftig an diversen Instrumenten an
einer sargähnlichen Apparatur herum.
Mr. Beem starrte
auf das Sarg-Ding, während Snell erklärte: „Ihr Aufenthalt in dem
Behälter ist auf die Sekunde genau geregelt. Diese Uhr“, er zeigte
auf ein fragiles Instrument, das an der Seite der Box befestigt war,
„setzt sich in Bewegung, sobald ich den Deckel schließe. Von
diesem Gerät kann ich ablesen, wie viel Zeit vergeht, bis Sie den
Kasten wieder verlassen dürfen.“
Minuten später
hörte Mr. Beem, auf dem Rücken in einem kalten
Radium-Metall-Behälter liegend, die schicksalsschweren Worte: „Viel
Glück!“ vom Professor. Dann rastete der Deckel über ihm ein.
Dunkelheit umgab ihn...
„Drei
Stunden und siebenunddreißig Minuten dürften korrekt sein“,
murmelte Professor Snell, einen Hebel am Ende es Behälters in
Bewegung setzend. Eine zitternde Erregung schwang in seiner Stimme.
Er schaute einen Moment auf die Box, dann drehte er sich um und
verließ rasch den Raum. Da waren einige Telefonate zu erledigen.
Kollegen warteten auf die große Neuigkeit.
Früh am folgenden
Morgen, als Professor Snell an seiner Radium-Box herumschraubte,
resigniert fluchend, dass sich immer noch kein Freiwilliger für das
Experiment eingefunden hatte, nahmen seine scharfen Augen einen
seltsamen Schmierfilm wahr, mit dem das Innere des Kastens bedeckt
war.
„Seltsam“
fragte sich der Forscher, „wo kommt dieses Zeug her?“
Mr. Beem war
vergessen. Für immer.
Originaltitel: The Man the World
Forgot
Fantastic Adventures 1940 / 4
Übersetzung: Matthias Käther ©
2017