Mittwoch, 23. Oktober 2019

Gordon MacCreagh – Die Hand von Saint Ury (1951)


Wohl kein anderes weltberühmtes Magazin ist in großen Teilen so unbekannt und verkannt geblieben wie Weird Tales (1923-54), ein amerikanisches Blatt, das sich auf beträchtlichem literarischem Niveau über dreißig Jahre lang ganz der bizarren Erzählung in allen Spielarten widmete. Die späten Jahrgänge der Zeitschrift von 1940-54 haben ihren schlechten Ruf paradoxerweise ausgerechnet den H.-P.-Lovecraft-Fans zu verdanken. Seit der Lovecraft-Kult blüht, ist seine Anhängerschaft bemüht, zwischen „Weird Tales“ und ihm gewissermaßen ein Gleichheitszeichen zu konstruieren. Deswegen wurde lange alle Literatur in der Zeitschrift, die dem ästhetischen Blickwinkel des großen Horror-Autors entspricht, wohlwollend betrachtet, Anderes abgelehnt. Das Schicksal des Magazins nach seinem Tod (1937) schien deshalb konsequenterweise zweitrangig. Dabei wurde übersehen, dass Weird Tales viele Varianten der ungewöhnlichen und seltsamen Erzählung pflegte, auch solche, die Lovecrafts Stil und Weltanschaung fremd waren.
Die Geschichte der Zeitschrift nach H.P. Lovecrafts Tod 1938-54 ist geprägt von einer allmählichen Emanzipation von ihm – bei gleichzeitiger Pflege seines Stils durch neue Cthulhu-Mythos-Storys und Erstveröffentlichungen von Prosa aus seinem Nachlaß. In den 40er und 50er Jahren kommt eine neue Autorengeneration zu Wort, die eine eigenwillige, zuweilen auch geniale neue Sicht aufs Unheimliche und Phantstische präsentiert: Robert Bloch, Henry Kuttner, Fritz Leiber, Ray Bradbury, Russell Wakefield, Malcolm Jameson und viele andere liefern prägnante Beiträge. Auch mehr Frauen schreiben nun für das Blatt, wie die hochbegabte Mary Elisabeth Counselman und die Mark-Twain-Schülerin Dorothy Quick. Kein Wunder – ab 1940 sitzt ja auch eine Frau auf dem Chefredakteursposten, Dorothy McIlwraith, die erfahrene Leiterin des erfolgreichen Magazins „Short Stories“.
Nicht allen Geschichten der späten Weird-Tales-Jahre ist ihre Qualität sofort anzusehen. Doch grade die auf den ersten Blick halbseiden wirkenden haben mich immer faszniert, weil in diesen Werken Traditionelles und Klischeehaftes oft mit einem neuen modernen Touch der Lässigkeit, ja der Ironie erzählt wird. Alte Plots der Trivialliteratur werden aufpoliert, ihre Trivialität nun aber nicht mehr beschönigt oder durch amibionierten Prosa-Stil abgemildert, sondern das Material wird augenzwinkernd als das präsentiert, was es ist: Nonsens, der nicht trotz, sondern wegen seiner haarsträubenden Absurdität gern konsumiert wird.
Man könnte diese Richtung als Neo-Gothic bezeichnen, irgendwo angesiedelt zwischen Parodie, Nostalgie und Postmoderne.
Ein schönes Beispiel ist „Die Hand von St. Ury“ von Gordon McCreagh (1886-1953). Der war eigentlich Abenteuerschriftsteller und wandte sich nur selten der Gruselgeschichte zu – einigemale jedoch sehr erfolgreich und atmosphärisch, wie in „The Case of the Sinister Shape“ (Der Fall des finsteren Schattens, Strange Tales, März 1932).
Dieses späte Werk hier hat für mich einen gewissen Tarantino-Touch. Da ist die schöne Idee eines rachsüchtigen Monsters, das sich Ende selbst von seinen genervten Opfern gejagt sieht, und das hochbeinige, herrlich verquaste pseudowissenschaftliche Okkult-Gelaber des Geisterexperten Dr. Harries, eindeutig eine Parodie auf Dr. van Helsing in Bram Stokers „Dracula“. Der zunächst leichtherzige Ton der Erzählung hindert den Autor nicht, am Ende einen spannenden und düsteren Showdown zu inszenieren.
Vielleicht ist die Story in manchen Teilen etwas weitschweifig, doch ich habe mich entschlossen, sie ungekürzt zu präsentieren, allein schon deshalb, um eine typische Arbeit der späten Weird-Tales-Jahre in Deutsch vorszustellen. Diese Periode ist – abgesehen von einigen Erzählungen von Bradbury und Bloch - bisher hierzulande kaum dokumentiert.



1.

Unser junger Held, Jimmy Duck, präsentierte seine Anzeige im Büro der Londoner Times.

GESUCHT! EXPERTE, ERFAHREN IN DER AHNENFORSCHUNG. Mr. DUCK, HOTEL CECIL.

Das Mädchen hinterm Schalter lächelte. Jimmy brauste sofort auf. „Mein Vorname ist nicht Donald!“
Die junge Frau wirkte beleidigt. Ihr Lächeln war ein Tribut an Jimmys Erscheinung gewesen, und er war wirklich ein gutaussehender Typ mit seinen dunklen Haaren und ernsten Augen. Selbst der ärgerlich verzogene Mund konnte seine Attraktivität nicht beeinträchtigen.
Glauben Sie, ich bin zum Spaß hier?“ fauchte er herausfordernd.
Aber nein!“ versicherte das Mädchen hastig. „Tausende Amerikaner kommen hier rüber, um ihre Familiengeschichte zu erforschen. Meistens, weil sie hoffen, einen alten Adelstitel zu finden – oder zumindest ein Familiengespenst.“
Ach, so viele?“ grummelte Jimmy. „Tsiss...Antiken Familien nachjagen ...Da jage ich lieber Antiquitäten nach.“
Was er dann auch stehenden Fußes tat.
Es war am etwas verwunschenen Ende einer Gasse in der Nähe der Marrowbone Road, als er auf einen ebenso verwunschenen Kuriositätenladen stieß, der direkt aus Dickens' berühmten Roman hätte stammen können. Mit seinem zerschrammten Ladenschild und den dicken Spinnweben vor den Butzenscheiben war er einfach perfekt – und im wahrsten Sinne des Wortes so, wie er im Buche stand.
Bah! Bestimmt künstlich!“ Jimmy hatte mal zugesehen, wie Spinnweben für einen Hollywood-Film hergestellt wurden. „Aber sehr einladend zum Stöbern“.
Und genau so einen Gedankengang hatte der Besitzer wohl auch vom Betrachter seines Ladens erwartet. Er blickte jedenfalls wenig überrascht über den Rand seiner Brille, als Jimmy eintrat, und krächzte rauh, aber herzlich: „Sagen Sie einfach Bescheid, wenn etwas sehen, das Sie interessiert.“
Und er fuhr fort, an der Sorte ausgewähltem Plunder herumzuzupfen und herumzupolieren, den man in solch einem Laden vorzufinden erwartet. Ein schabendes Kratzen auf einem Regalbrett über ihm ließ ihn nervös aufblicken. „Verdammte Viecher! Soweit hoch klettern sie normalerweise gar nicht...“
Bald aber war er wieder in seine Tätigkeit vertieft.
Es dauerte nicht lange, bis Jimmy einen kleinen Krug auf den Ladentisch stellte. „Was wollen Sie für die Majolika-Keramik haben?“
Der alte Mann wirke gnatzig, aber ehrlich. „Tja, nun, Sir, ich würde Sie natürlich nie im Leben übers Ohr hauen wollen! Um ehrlich zu sein, ich glaube nicht, dass das Ding echt ist. Sehen Sie hier...“ Das Schaben und Kratzen über ihnen lenkte ihn ab. „Selbst wenn ich hundert verdammte Fallen aufstellen würd', ich würd diese Mistviecher nicht kleinkriegen! Dachte, ich wär sie los – hab sie nie so frech erlebt wie heut'!“ Er drehte den Krug in seiner Hand, als einige Gegenstände über ihm heftig zu klirren begannen und ein greuliches Ding mit einem Plop auf dem Ladentisch landete. Jimmy schreckte angewidert mit verzerrter Miene zurück. Dieses Ding war eine menschliche Hand! Alt und ausgedörrt, die Finger auf ekelerregende Weise krallenartig gekrümmt, so als befände sich ihr Besitzer im Todeskampf. Eine feine Schicht von Spinnweben umhüllte die seltsam verdrehten Fingerspitzen. Besonders entsetzlich war ein Ring, der am ersten Glied des verwelkten Zeigefingers rasselte und dort nur durch die dickeren Fingerknöchel festgehalten wurde. Es schien ein Siegelring zu sein, in dem zwei winzige rote Steine steckten, die wie kleine böse Schlangenaugen funkelten. Als Jimmy zurückwich, stupste der Besitzer das Ding behutsam an. „Kann auch nicht behaupten, dass ich's besonders gerne mag, Sir. Fieses kleines Teil, nicht?“
Was – was zum Teufel ist das?“ fragte Jimmy. „Ich meine, woher...“ Im Laden war es plötzlich muffig und stickig. Er zog seinen Mantel aus und legte ihn über den Tresen. „Wo in aller Welt haben Sie sowas aufgetrieben?“
Das ist angeblich die Hand von Saint Ury, Sir! Keine Ahnung, ob das stimmt. Das Loch in der Mitte soll ne Art Stigma sein, und das macht sie heilig, wissen Sie? Aber wenn Sie mich fragen“, schnaubte der Mann mit einer desillusionierten Kaltblütigkeit, die nur ein Antiquitätenhändler aufbringen konnte, „hat da einfach einer 'nen Nagel durchgekloppt.“
Jimmy schauderte angewidert. Er ließ den Krug dort stehen, wo er war und wandte sich dem entfernteren Teil des Ladens zu, um andere Dinge in Augenschein zu nehmen. Doch das gruselige Objekt schwebte ständig vor seinem geistigen Auge. Es wirkte anklagend wie das Körperteil eines Kriegsopfers, für dessen Tod er indirekt verantwortlich war – vielleicht durch das Abfeuern einer Granate. Er konnte sich gut vorstellen, wie solch ein Gliedmaß, voller Haß auf Gott und die Welt, infernalische Rache an ihm plante. Plötzlich hatte er keinen Spaß mehr am Herumstöbern.
Ich denke, ich gehe jetzt,“ sagte er laut. „Und komme vielleicht ein andermal...“
Der Besitzer war dabei, diversen Krimskrams in die Regale zu dem andern Schnickschnack zu stopfen. „Kein Problem, Sir. Schön, dass Sie reingeschaut haben.“
Jimmy nahm seine Jacke und ging. Er war kaum um die Ecke, als er Fußschritte hinter sich trappeln hörte – und da stand er plötzlich vor ihm, der Besitzer, keuchend und stinkwütend.
Geben Sie mir die Hand zurück, junger Mann“, fauchte er, „Oder ich hole die Polizei!“
Jimmy prallte zurück. „Was meinen Sie mit der Hand? Sie glauben doch nicht allen Ernstes, ich würde dieses eklige Ding auch nur anfassen?“
Sie habens aber getan, Freundchen! Oh, ich habe Typen wie Sie schon früher im Laden gehabt! Da lag sie eben noch – und dann waren Sie weg und die Hand auch. Sie mit Ihren tiefen Taschen...“ Er sprang auf ihn zu, vergrub die Hände in seinen Manteltaschen, und tatsächlich! Aus einer von ihnen fischte der das gräßliche Objekt.
Jimmys Magen hob sich. Sein Mund öffnete sich zum Protest – und schloß sich wieder, als ihn die Übelkeit fast überwältigte.
Na, was haben wir denn da?“ triumphierte der Besitzer. „Ich verdammten Yankees schreckt vor nichts zurück, wenns um Londoner Souvenire geht, was? Ein Pfund will ich dafür!“
Ein Pfund für die olle Hand?“
Nee, nicht für die Hand, als Strafe für den Diebstahl! Die Hand nehm ich schön wieder mit!“
Das...ist Erpressung!“ Jimmy dämmerte es jetzt. Uralter übler Trick. Pack irgendwelchen Mist in die Taschen deiner Kunden, wenn der Laden nicht läuft, und dann mach Krawall wegen Ladendiebstahl.
Ein Pfund!“ Der Besitzer hielt ihm die Hand hin – in diesem Fall seine eigene.
Tja, was konnte Jimmy tun außer bezahlen? Er war geschäftlich hier, er konnte seine Zeit nicht mit einer dämlichen und beschämenden Anklage wegen Ladendiebstahl vor Gericht verschwenden.
Er ging in sein Hotel zurück, mehr verärgert über diese alberne Angelegenheit, als sie es eigentlich verdient hätte. Was ihn natürlich noch mehr verärgerte.
Nachts wälzte er sich hin und her und träumte von vertrockneten Händen, die wie riesige haarige Spinnen über sein Bett krabbelten.

2.

Nach einem fantastischen Frühstück mit Räucherhering auf Toast und Porridge wurde er unaufdringlich von einem dieser uniformierten Blechknopfheinis des Hotels angesprochen (und nicht etwa wie in Amerika durchdringend angeschrien). Der Angestellte beugte sich diskret über seinen Tisch.
Eine Lady möchte Sie sprechen, Sir.“
Eine Lady? Ich - ich glaube nicht, das ich hier in London irgendwelche Ladies kenne.“
Sie bezog sich auf eine gewisse Anzeige von Ihnen, Sir.“
Jimmy trabte etwas unsicher zur Lobby. Eigentlich hatte er erwartet, daß auf das Inserat hin irgendein männlicher Experte aufkreuzen würde, der sein Handwerk verstand. Doch sehr bald war er froh, dass er damit falsch lag. Ein wirklich entzückender Anblick erwartete ihn – eine junge Frau, geschmackvoll gekleidet in etwas, das eine klasse Figur hervorhob, mit lebhaften Augen in einem frischen runden Gesicht, kecker Stupsnase und vollen Lippen.
Ich habe mich beeilt, weil ich die erste sein wollte!“ Sie lächelte ihn unbefangen an. „Denn, ehrlich gesagt – ich brauche den Job. Und die Konkurrenz in meiner Branche ist brutal!“
Ah?“ machte Jimmy. „Sind Sie...äh ich meine, kennen Sie sich aus mit diesem ganzen schrecklichen Zeug, Ausgraben von toten Verwandten und so?
Natürlich, Mister Duck. Ich habe ein Zertifikat von der Fachschule für Heraldik.“ Sie fischte diverse Papiere aus ihrer Handtasche. „Wir sind versiert auf allen Gebieten der Ahnenforschung. Sie wollen, nehme ich an, feststellen, ob hier in England Vorfahren von Ihnen gelebt haben, oder?
Jimmy fühlte sich plötzlich sehr albern. „Es geht um meinen Vater... seinen Namen, wissen Sie? Wie in einem Comicbuch. Naja, mein Vater glaubt, kein Mensch im wirklichen Leben hätte sich freiwillig Duck genannt. Oder nennen lassen. Er denkt, da muß irgendwas im Laufe der Jahre durcheinandergeraten sein in unserer Linie. Er hat inzwischen so viele Sticheleien gehört, das er dabei ist, einen Komplex zu bekommen....“
Gewiß. Verstehe vollkommen. Und Ihr Vater könnte recht haben! Tausende Entstellungen sind während des Mittelalters an Nachnamen vorgenommen worden, vermutlich wegen des hohen Analphabetismus. Oft wurden sie Schreibern oder Sekretären genannt, die nicht die geringste Ahnung hatten, wie man die mündlich vorgetragenen Namen buchstabiert, und dann folgte die Aussprache wiederum der falschen Niederschrift. Wir haben alte Bücher und Aufzeichnungen über diese Dinge.“
Hm. Sie scheinen sich ja wirklich auszukennen damit. Dann fühlen Sie sich der Sache gewachsen?
Das Mädchen lächelte zuversichtlich. „Deswegen bin ich hier!“ Und dann, etwas zaghafter: „Ähm, wir werden üblicherweise nach Tagen bezahlt, plus Spesen.“
Jimmy fühlte sich plötzlich sehr erleichtert bei dem Gedanken, daß es außer ihm noch weitere Menschen gab, die dringend wünschten, er hieße anders – wenn auch aus abweichenden Motiven.
Oh, natürlich. Sie brauchen einen festen Tagessatz oder etwas in der Art.“
Auf ihrem Gesicht erschienen zwei hinreißende Grübchen. „Ja, ich den brauche ich wirklich. Ich werde sofort ins Museum gehen und schon bis morgen einige Informationen für Sie ausgegraben haben. Sie könnten in der Zwischenzeit auch was Nützliches tun.“
Zum Beispiel?“
Die Zeitung anrufen und die Anzeige abbestellen. Okey? Cheerio!“

3.

Jimmy holte sich die Times, um die Telefonnummer herauszusuchen – und die alptraumhafte Story von gestern starrte ihm entgegen.

AMERIKANER BEIM LADENDIENSTAHL ERWISCHT!

Der Schreiberling war fähig, Jimmys beschämendes Erlebnis durch die Brille eines etwas an den Haaren herbeigezogenen britischen Humors zu sehen. Doch selbst durch diese Brille erschien ihm die Geschichte noch ziemlich übel. Ja die Sache war noch schlimmer, als er gedacht hatte:

..So scharf war dieser schräge Vogel auf die antike Hand, dass er anscheinend in derselben Nacht zurückkehrte und in den Shop einbrach, um sie zu bekommen. Dennoch bleibt die Angelegenheit mysteriös. Laut Polizeibericht war nur eine der kleinen Butzenscheiben zerbrochen. Doch der seltsamste Teil der Geschichte ist der, dass die zerschlagenen Scherben außen lagen! Fast so, als ob dieses Ding sich auf den ersten Blick in ihn verliebt hätte und ihm voller Sehnsucht hinterhergekrabbelt wäre. Und wen wunderts? Heilige Hände, so steht es schon in der Bibel, haben bekanntlich ganz erstaunliche Tricks drauf...“

Was für ein schwachsinniger Einfall! Ein Ding wie das und verliebt...
Plötzlich wurde Jimmy von der unerklärlichen Furcht davor befallen, in seine Tasche zu greifen und dort auf das hornige Ding zu stoßen, das sich in leidenschaftlicher Extase um seine Finger schließen würde.
Auch kam ihm mit einer gewissen Logik in den Sinn, dass er jetzt ein flüchtiger Schurke geworden war, dessen Bewegungen fortan von luchsäugigen Scottland-Yard-Schergen verfolgt werden würden. Allerdings fand sich in dem Artikel keine Beschreibung von ihm. Er atmete auf. Schließlich hatte dieses Ding ja auch keinen großen Wert. Es hatte verstaubt auf einem Regalbrett gelegen, und das, wie die Spinnweben deutlich bewiesen, wahrscheinlich seit vielen Jahren, bevor es dort oben herunter gesprungen war, und...

Jimmy sprang plötzlich ebenfalls, nämlich von seinem Stuhl auf. Er schaute gehetzt um sich. Das da oben auf dem Regal gestern – das waren keine Ratten! Wenn das Ding nicht mit eigener Willenskraft von dort heruntergesprungen war, wie konnte das ekelhafte Etwas dann in seine Manteltasche schlüpfen? War es wirklich möglich, daß es hier derartige spukende Monstrositäten gab, in diesem uralten Land mit seinen archaischen Traditionen...?
Aus einem wahnwitzigen Impuls heraus raste Jimmy in sein Zimmer, um erneut seine Manteltaschen zu durchstöbern. Nein, Gottseidank! Er grinste sich verlegen vor sich hin. Was für ein idiotischer Gedanke! Aber das biestige Ding hatte einen so grausligen Eidruck auf ihn gemacht... Und wer wäre nicht geschockt, wenn so etwas in jemandes Tasche auftauchen würde? Dann wanderten seine Augen durch den Raum und blieben an seinem Koffer hängen. Vielleicht...er stürzte sich auf das Gepäckstück. Nichts... Verdammt, die ekelhafte Phantasie des Reporters hatte Besitz von ihm ergriffen! Er stand auf und begann, jeden einzelnen Gegenstand auf seinem Bett zu genau zu mustern. Endlich gab er sich erleichtert zufrieden. Er zündete sich eine tröstende Pfeife an und setzte sich, um sich eine einigermaßen vernünftige Theorie zusammenzubasteln. Die logischste war, dass der Ladenbesitzer, offensichtlich ein boshafter alter Spinner, einen Tobsuchtsanfall bekommen hatte und in seiner Wut die Hand durch seine eigene Fensterscheibe geworfen hatte. Und dann, seinen Ausbruch bereuend, war er herausgegangen, um den Köder für seinen listigen Kundentrick wieder hereinzuholen und mit ansehen zu müssen, wie irgendeine streunende Katze oder etwas in der Art sich das Ding geschnappt hatte und davongeeilt war. Vermutlich war er zu beschämt gewesen, sein albernes Verhalten der Polizei gegenüber zuzugeben.
Blöder Schwachkopf, schimpfte Jimmy laut vor sich hin. Aber was solls, ich bin ja selber einer. Dieses Rumgraben in der toten Vergangenheit macht einen ganz morbid. Bloß...huaahh...Was für ein Erlebnis!

Am nächsten Morgen kam das Mädchen, triumphierend und berstend voller Neuigkeiten. „Sie haben mich noch nicht mal nach meinem Namen gefragt!“, warf sie sich selbst und ihm in einem Atemzug vor. „Und ich war so aufgeregt in der Vorfreude auf das viele Geld, das Sie mir versprochen haben, dass ich den ganzen Weg hierher gerannt bin. Ich bin Eula Bogue.“ Ihre Grübchen zeigten sich. „Früher hieß es mal Boggs, wie ich rausgefunden habe. So bin ich zu meinem Job gekommen. Ach, ich habe einen Haufen Neuigkeiten! Setzen Sie sich und schauen Sie sich das an!“
In einer sehr geschäftlichen Manier breitete sie einen Haufen Notizblätter auf dem Tisch aus. „Überspringen wir gleich mal meine frühen falschen Ansätze. Schauen wir gleich auf das, was uns definitiv weiterbringt. Und das hier bringt uns weiter, nämlich weit in die Vergangenheit! Es scheint da einen angelsächsischen Namen gegeben zu haben, Dork, oder Dawk, oder Dock, geschrieben in verschiedenen Varianten. Meistens im Norden Englands.“
Jimmy pfiff. „Wow! So weit zurück? Dad wäre begeistert. Und es könnte sein, dass dieser Name...sich dann verwandelt hat in...Duck?“
Oh, sehr wahrscheinlich sogar! Weitergetragen durch die sehr ungebildeten Puritaner, als sie emigrierten, wissen Sie? Und hier ist etwas noch viel aufregenderes. Oben in Cumberlandshire gibt er einen kleinen Ort mit dem Namen Dockbridge, anscheinend der Heimatsitz der Familie, und dort steht eins dieser schrecklich alten Herrenhäuser, das später umgebaut wurde, und nochmal umgebaut und dann nochmal, und das ist voll mit Ratten und klapprigen Fenstern und einer vermoderten Bibliothek und einer Haushälterin und – man kann es mieten!!!“ Sie sprudelte den ganzen letzten Satz in einem Atemzug hervor.
Jimmy wurde allmählich von ihrer Begeisterung angesteckt. „Sie meinen, wir können da hin und in der Bibliothek rumwühlen?“
Klar! Das heißt, wenn Sie selbst... also alle Amerikaner sind doch reich, oder? - Also wenn Sie es sich leisten können, den Kasten zu mieten – für eine Woche oder so...“
Jeu!“ rief Jimmy. „Eine Forschungsreise in die Geschichte! Ich werde Daddy kabeln, daß wir eine heiße Spur haben. Na dann – nichts wie hin!“

4.

Dockbridge Manour House war nicht ganz so, wie Eula es beschrieben hatte. Der moderne Teil stellte sich als rattenlos heraus und besaß sogar ein Badezimmer. Das Anwesen war auf einem Hügel erbaut worden; offensichtlich hatte es früher auch einen Burggraben gegeben, der sich nun in einen eingesunkenen ungepflegten Garten verwandelt hatte, in dem wenige nützliche Pflanzen und viel Unkraut wuchsen. Es gab bröckelige Mauern und einige moosüberwachsene Trümmerhügel, auf denen jemand vor langer Zeit Steingartenexperimente durchgeführt hatte, um das Ganze dann irgendwann aufzugeben. Im gegenwärtigen schlichten Zustand war es zu kostspielig, das Anwesen komplett zu sanieren, und so wartete es hoffnungsvoll auf einen Mieter.
Die Haushälterin, eine hagere Dame, in geisterhaftes Grau gekleidet, hatte so lange in Übereinstimmung mit den alten Konventionen gelebt, dass sie nur einen sehr strengen und abschätzigen Blick für die jungen Störenfriede übrig hatte.
Ich bin Mrs. Medford“ stellte sie sich vor. „Und Sie können in mir getrost so etwas wie die Anstandsdame sehen. Wenn also der junge Mann so freundlich wäre, das Gepäck aufzunehmen, werde ich Ihnen Ihre Zimmer zeigen. Ihre getrennten Zimmer, versteht sich.“
Und tatsächlich präsentierte sie ihnen zwei weit auseinanderliegende Räume, die an den äußersten Enden eines rechtwinkligen Korridors gelegen waren. Sie selbst schien ebenfalls auf diesem Flur zu hausen.
Sollten Sie Hilfe benötigen, Miss – ich höre Sie rufen.“
Aber...was für eine Idee!“ Eulas Gesicht flammte rot auf.
Oh, ich meine nicht ihn! Obwohl ich ihm an Ihrer Stelle nicht über den Weg trauen würde. Wir wissen schließlich, was diese gutaussehenden jungen Yankees anrichten können – seit ihrer letzten Invasion 1944. Nein, es ist nur so, dass der Geist vom alten Sir Harry hier in den mondlosen Nächten zu miauen pflegt. Das ist der greise Stallmeister von Prinz Charlie, der hier lebte, als es noch das alte Haus gab, das auf diesen Grundmauern stand.“
Eula lachte vergnügt. „Bei meinen vielen Recherchen (als hätte sie zwanzig Jahre Berufserfahrung auf dem Buckel!) ist mir noch nie ein Geist begegnet!“
Die Geringschätzung der Haushälterin sank noch einige Etagen tiefer. „Ihr modernen Leute habt keinen Respekt vor so etwas. Aber ich sehe ihn!“
Jimmy starrte sie an. Er hatte sich das Starren bei all den vielen Überraschungen der letzten Tage zur Gewohnheit gemacht. Aber Mrs. Medford schien überraschte Leute gewöhnt zu sein. Sie fügte hinzu: „Sie, Sir, werden das Miauen und Gerumpel auf Ihrer Seite nicht hören. Sie schlafen über der alten Kapelle. Deswegen sind Ihre Fenster auch vergittert.“
Jimmy sah Eula fragend an, als ob sie sich mit allen Gebräuchen eines alten britischen Herrenhauses auskennen würde. Doch es war die Haushälterin, die eine logische Erklärung anbot.
Weil diejenigen, die dort keine Gebete sprechen, regelmäßig verrückt werden und aus dem Fenster zu springen pflegen. - Ich serviere das Dinner bei Einbruch der Dunkelheit, Sir und Madame. Wir kleiden uns zum Essen nicht mehr um – heutzutage.“ Sie marschierte ab, um sich um ihre Angelegenheiten zu kümmern.
Was für ein Auftritt!“ Jimmy flüsterte, ohne es zu merken.
Eula kicherte. „Ich glaube, die arme Seele ist selbst bißchen gaga – so allein hier in dem vergammelten alten Kasten. Naja, die Bibliothek könnte pures Gold enthalten. Wir werden morgen graben.“

5.

Nicht einmal die helle Morgensonne konnte für ein fröhliches Frühstück sorgen, denn die Morgenzeitung brachte ein neues Juwel britischen Humors vom gestrigen Autor.
ALKIS VON NORD-LONDON HABEN EIN NEUES SCHRECKGESPENST!

Für eine Gruppe heimkehrender Stammgäste des „Coach-and-Horn“-Pubs in der Lincoln Road sind es nicht mehr die klassischen rosaroten Elefanten, die sie in Angst und Schrecken versetzen. Nein, der neue Star ist eine fünfbeinige Spinne von der Größe einer Untertasse, die die dunklen Abflußrinnen der Bordsteige mit dem Tempo eines Windhunds entlangrast...

Natürlich, an der Sache war nicht viel dran. Doch Jimmy starrte paralysiert und voller Entsetzen auf die Seite. Denn weiter hieß es dort:

Eine merkwürdige Bestätigung dieser Aussagen kam von zwei Jungen – höchst aufrichtigen Rangen, wie ihre Eltern eifrig versichern – die behaupteten, im ersten Dämmerlicht des Tages dasselbe Tier auf einer Landstraße zehn Meilen weiter nördlich in Middlesex gesehen zu haben. Nur diesmal sah es - gemäß ihrer jugendlichen Einbildungskraft und nicht allzuweit entfernt von der klassischen Gruselmärchentradition - aus wie...

- und das war die Stelle, die Jimmys Augen in weitem Starren gefangen hielten -

...aus wie eine Hand, die auf ihren Fingerspitzen lief.
Was ist los?“ Eula war beunruhigt angesichts von Jimmys Blässe.
Er schob ihr die Zeitung herüber und wartete, während sie las. Auf ihren fragenden Blick hin sagte er schließlich: „Haben Sie gestern diese Sache gelesen von dem diebischen Yankee, der eine alte Menschenhand geklaut haben soll, nachdem er ein Fenster in einem Antiquitätenlanden zerbrochen hat?“ Und, als sie nickte, wies er mit dem Finger auf seine Brust.
Sie? Guter Gott! Aber Sie warens natürlich nicht!“
Nein. Ich würde das dreckige Ding nicht mal anrühren“
Und er erzählte ihr sein unheimliches Londoner Erlebnis.
Schließlich fragte er: „Sie wissen mehr über diese uralten Incubi. Was hat das alles zu bedeuten? Warum folgt es mir nach Norden?“
Eula wurde, zum ersten Mal an diesem Morgen, sehr ernst. „Warum sagen Sie „Incubi“? Als ob es etwas wäre, das über Ihnen hängt. Natürlich, wir haben eine Menge seltsame Legenden in einem alten Land wie diesem, einige wurden von Professoren der Völkerkunde sogar für wahr erklärt. So etwas wie die unheimliche Glastonbury-Gruft oder das Monster von Glamis Castle. Aber eine mumifizierte Hand... Sie schloß ihre Augen und dachte scharf nach. „Warten Sie. Lassen Sie mich überlegen...Was ist mit diesem Aberglauben um die „Hand of Glory“ - den vielen Mumienhänden in den britischen Museen, alle von der linken Hand eines Gehängten...? Aber nein, das passt hier nicht... Das hat bloß mit schwarzer Magie zu tun... “
Bloß mit schwarzer Magie? Na toll! Und was ist dieses Ding? Das reine weiße Symbol der Gnade?“
Eula lachte nun doch wieder. „Ach, das ist doch alles dummes Zeug! Ein paar Betrunkene hatten Delirium tremens, und ein paar Jungs haben zu viele Horrorgeschichten gelesen, und ihre Einbildungskraft ist übergesprudelt. Das ist unsere übliche Saure-Gurken-Zeit – da füllen sie doch immer die Lücken mit solchen Sachen. Das ist alles. Sie werden schon sehen.“
Nach ein paar Tagen sahen sie es in der Tat. Ein Times-Leser und Hobby-Entymologe schrieb eine bierernste Epistel auf der Meinungsseite, die Hysterie der Bevölkerung tadelnd, und verkündete seine Theorie, nach der es sich bei dem beobachteten Tier um eine Tarantel (eine große zentralamerikanische Spinne, fügte er hinzu, um seine Bildung ins rechte Licht zu rücken) handeln könne, die sehr leicht mit einer Kiste Bananen importiert worden sein konnte, und die, wie alle Spinnentiere, durchaus in der Lage war, mit erstaunlicher Geschwindigkeit zu laufen, so daß Leute, unter dem Einfluß starker alkoholischer Getränke etc. etc.
Da! Na bitte!“ sagte Eula. „So, und jetzt könnten Sie mir wirklich beim Lesen dieser modrigen alten Schwarten helfen.“
Das Lesen stellte sich als ziemlich aufregend heraus. Die Bibliothek, die ein Durcheinander von Büchern enthielt, von denen, wie es schien, einige noch aus der Zeit der Erfindung des Buchdrucks stammten, verfügte auch über eine beeindruckende Anzahl von Inkunabeln und sogar Manuskripten. Nichts davon war allerdings in irgendeiner Form geordnet worden.
Unschätzbar“ seufzte Eula inmitten des Chaos. „Und ich meine das wörtlich, auch in Geldwerten. Und zu denken, dass der Besitzer niemals herkommt, geschweige denn je ein Buch zu öffnen scheint!“
Die Haushälterin stand an der Tür. Sie hatte ein geradezu unheimliches Gedächtnis für die alten Schwarten, staubte ein paar ab, und wenn alte Familiennamen auf ihnen auftauchten, erinnerte sie sich prompt an sie.
Er erscheint hier nicht“, deklamierte sie wie eine Hekuba, „weil dieses Haus ihn in Schrecken versetzt.“
Ich glaube“, sagte Jimmy, „einige dieser Bücher über Schlachten und Mord und raschen Tod würden mich auch in die Flucht schlagen, wenn sich sie lesen würde.“
Schlachten und Mord und rascher Tod...“ wiederholte sie anklagend, „das ist doch eine Phrase aus einem Gebet, nicht? Wenn man das nicht mit gebührendem Ernst zitiert... Der Herr in der Schrift sagt: Die Lästerer werden umkommen. Und wenn Sie mir gleich gesagt hätten, dass Sie nach alten Familienchroniken suchen, hätte ich der jungen Lady, dem armen Ding, längst empfohlen, dort in dem Buch mit der braunen Bindung nachzuschauen, das von den Kakerlaken fast aufgefressen wurde.“
Was für ein armes Ding?“ fragte Eula amüsiert.
Ah!“ machte Mrs. Medford. Nur „Ah!“. Dann schwebte sie grau und beleidigt von dannen.
Aber das Buch erwies sich durchaus als eine der Goldminen, die Eula hier erwartet hatte.
Schau! Da! Ähm, schauen Sie, hier, meine ich! Hier haben wir: 'Die Historie der Familie des gar noblen Sir Armand d'Auk, erzählet mit all seinen Battaglien und Ehrenhändeln'.“
Die hatten wirklich eine Schwäche für lange Titel damals“, stellte Jimmy begriffsstutzig fest.
Jaja, du Dummkopf, aber...Sehen Sie's denn nicht? Das ist Ihr Name! D'Auk! Oder Dork, Dock, Doak, und vermutlich gibts noch viele andere Schreibweisen. Also normannischer Abstammung, nicht angelsächsischer. Ich könnte mir vorstellen, dass Ihr Dad einer unserer ältesten Familien entstammt!“
Doll!“ staunte Jimmy. „Will verdammt sein, wenn da nicht was dran ist! Kannst...können Sie dieses altenglische Zeug lesen?“
Na klar! Das heißt, das, was die Kakerlaken nicht aufgefressen haben. Und wie es scheint, sollte es noch drei weitere Bände davon geben. Vielleicht weiß Mrs. Medford, wo man sie finden kann. Wir müssen tonnenweise Papier durchforsten. Sie machen sich Notizen, während ich es entziffere.“
Die Aufregung über den Fund war so groß, daß sie die Morgenzeitung nicht vor dem Nachmittag lasen. Und danach sahen sich beide an, sich fragend, was der andere wohl denken mochte.
Denn ein nüchterner Wissenschaftler hatte inzwischen seinen Sermon in der Times abgegeben, mit all der beißenden Aggressivität, zu der Wissenschaftler für gewöhnlich fähig sind, wenn es um ihr Fachgebiet geht. Der Gelehrte hatte die Meinung des „unzureichend informierten“ Laien, der es gestern gewagt hatte, sich zu Spinnentieren zu äußern, in der Luft zerrissen.
Die Tarantel, so konstatierte er, sei zwar tatsächlich in der Lage, sich mit beträchtlicher Geschwindigkeit zu bewegen, wenn sie auf Beutejagd war, doch gehöre sie zu den äußerst seßhaften Spinnen, genau wie die Wolfsspinne oder unser ganz gewöhnlicher Opa Langbein. All diese Spinnen lebten ihr Leben innerhalb eines Radius von ungefähr 15 Metern; eine Spinnenwanderung von 10 Kilometern sei deshalb ebenso lächerlich wie unmöglich. Was auch immer die beiden Jungen in Middlesex gesehen hatten, sei mit Sicherheit keine Tarantel gewesen, denn über die Unmöglichkeit einer solch weiten Wanderung hinaus sei die Tarantel kein Nachtjäger, auch könne sie die tiefen Nachttemperaturen der britischen Insel nicht vertragen, bestenfalls würde sie eine englische Nacht lethargisch und schlafend verbringen.
Diese gründliche Abhandlung der Angelegenheit führte zu Jimmys logischer und düsterer Frage:
Was wars dann? Wenn nicht meine...“ sein unfreiwilliger Versprecher ließ ihn schaudern. „Wenn nicht diese verdammte Hand?“
Eula versuchte ihn zu beruhigen. „Och, was spielt er denn für eine Rolle, was es war? Irgendwas. Eine dahinrasende Ratte, ein Kaninchen, ein Wasauchimmer. Wir haben hier viel wichtigere und aufregendere Dinge, über die wir uns den Kopf zerbrechen können. Sehen Sie – Dieser d'Auks hieß mit vollem Namen Sir Armand d'Auk d'Auberge, und...“ Plötzlich klatschte sie in die Hände. „Da haben wirs! D'Auk d'Auberge – wenn man dem Grimmschen Gesetz der umgangssprachlichen Sublimierung folgt, wird Dockbridge daraus! Dieses Dorf und dieses Anwesen! Jetzt kümmern wir uns mal um seine „Battaglien und Ehrenhändel“ - und wahrscheinlich gibt’s da auch noch irgendwo diverse Nachkommen, die hier aufgezeichnet sind.“

6.

Die Recherchen der nächsten Tage, so faszinierend sie waren, kamen mehr als einmal abrupt zum Stillstand, wenn die Morgenzeitung eintraf, und beide suchten die Seiten dann aufmerksam nach Fortsetzungen der „Tarantel-oder-nicht-Tarantel“-Debatte ab.
Der humoristische Journalist war nun überhaupt nicht mehr lustig. Er nannte das Ganze nun dramatisch „THE SPIDER HORROR“. Da war der Fall einer Dame, eine strenge und psychisch stabile Sozialarbeiterin, die von einem abendlichen Kirchentreffen zurückgekehrt war, um vom SPIDER-HORROR attackiert zu werden. „Ich sah das Ding im Mondlicht“, versicherte sie ihrem Interviewer, „es huschte an mir vorbei wie... nun, wie nichts, das ich vorher je gesehen habe! Ich schlug nach ihm mit meinem Schirm, und...also ich würde jetzt nicht direkt sagen, dass es mich angefaucht hätte, doch ich konnte seine boshaften roten Augen sehen! Und dann sprang es mich an! Aus dem Stand machte es einen Satz von etwa anderthalb Metern – ich kann das gut einschätzen, wegen der Länge des Schirms, wissen Sie? Es packte mich am Knöchel und riß mich zu Boden, und dann...Also ich würde jetzt nicht direkt sagen, dass ich ohnmächtig wurde, ich bin in meinem ganzen Leben noch nie ohnmächtig geworden. Aber ich weiß nicht mehr so genau, was dann passiert ist. Als ich zu mir kam... Also, ich meine, als ich wieder etwas sehen konnte, war das Ding verschwunden.“
Hast du darauf geachtet“, fragte Jimmy unheilsschwanger – sie waren endlich beim Du angelangt - „Hast du darauf geachtet, wo das passiert ist? In Leicestershire!“
Na und?“
Es kommt immer weiter nach Norden! Es folgt mir!“
Eura erschrak zutiefst bei der Vorstellung einer toten mumifizierten Hand, die unaufhaltsam auf sie zuwanderte. „Aber Jimmy, das ist unmöglich! Sie hat seine roten Augen gesehen, sagt sie!“
Der Ring!“
Eulas Hand wanderte zu ihrem Mund. „Du...du denkst wirklich, das Ding ist aus irgendeinem verrückten Grund hinter dir her? Wie ein Voodoo-Zauber oder sowas?“
Woher soll ich das wissen? Ich habe keine Ahnung von Voodoo.“
Aber du kommst doch aus Amerika, da müßtest du doch überall auf sowas stoßen, mit euren Negern aus Haiti... Töten sie da nicht Hühner mit ihren Zähnen und verschicken ominöse Geschenke? Kleine Puppen und Schlangen und Dinge, die verflucht sind, und dann...“
Tolle Vorstellungen hast du von Amerika!“ grummelte Jimmy.
Ich hab das jedenfalls irgendwo gelesen. Und übrigens, du bist derjenige, der darauf besteht, dass er verfolgt wird... Jimmy – ich ab Angst!“
DU hast Angst?“
Ja, also, ich meine, wenn das Ding wirklich real ist – und nicht nur eine Sommerferienhysterie – und wenn es eine Frau mit Kampfgeist anspringen kann, nachdem sie ihm den Schirm vor den Latz geknallt hat und sie dann am Bein packen und hinwerfen kann, dann...“
Sie drängte sich schaudernd an ihn.
Es war nun an Jimmy, sie zu trösten. „Naja, zumindest hat das Ding sie nicht gebissen, als ihr Kampfgeist erloschen ist wie eine schwache Kerzenflamme. Alles in allem, was kann es schon anrichten... durchs Land wandernd, wie ein Gespenst...“
Er wünschte sofort, er hätte dieses Wort nicht gebraucht.
Was ich sagen wollte: ich war einfach schockiert damals, als ich dieses ekelhafte Teil sah. Und dann hat mich die Sache verrückt gemacht“.
Könnte sein!“, fügte Eula hinzu. „Wahrscheinlich verfolgt dich eher dieser erste Anblick der Hand im Laden als das Ding selbst. Komm, lass und was essen gehen.“
Mrs. Medford servierte einen recht spärlichen Lunch. „Weil der Eismann ist nicht gekommen ist, mußte ich das kalte Huhn entsorgen. Ich habs Lady Lane gegeben.“
Lady Jane war ihr wolliger Pudel, der jeder Fliege hinterherkläffte und eifrig Kakerlaken in den Zimmerecken jagte. Die Kargheit des Mahls spielte aber ohnehin keine Rolle mehr, denn den beiden war jeglicher Appetit vergangen, nachdem Mrs. Medford, scheinbar aus dem Nichts heraus, bemerkte:
Es kommt hierher!“
Beide, Jimmy und Eula, saßen wie vom Donner gerührt auf ihren Stühlen. Mrs. Medford beantwortete ihre starren Blicke mit:
Ich habs in der Zeitung gelesen. Genau wie Sie. Und ich bin eine siebente Tochter. Ich sehe Dinge. Und ich habe ES gesehen!“
Großer Gott!“ Bis jetzt hatte Jimmy bereitwillig Eulas tröstende Theorie akzeptiert, dass er beim Anblick der toten Hand einen Schock erlitten hatte und das Ding auf diverse gruseligen Nachrichten aus der Zeitung projezierte.
Was meinen Sie damit, es kommt hierher, und Sie haben es gesehen?“
Ich weiß nicht genau, was es zu bedeuten hat. Alles, was ich dazu sagen kann, ist, dass ich eine Seance mit meiner alten Freundin Mrs. Shaughnessy abgehalten habe. Sie nämlich ein Mädchen...“
Ein Mädchen?“
Na Sie wissen schon, sie kann mit Geistern reden und so.“
Ach, ein Medium.“
Das sage ich ja. Also wir saßen da, und plötzlich seh ichs im Dunkeln vor meinen Augen! Meinen geistigen Augen, meine ich. Eine menschliche Hand! Und sie war an ein Brett genagelt! Und Mrs. Shaughnessy...also sie meinte: 'wenn nur Sie es gesehen haben, gehört es zu Ihnen, zu Ihrem Haus, sonst hätte ich es auch gesehen'.“
Jimmy, nicht an den Jargon und die Verquastheit des spiritistischen Denkens gewöhnt, winkte heftig ab.
Ach was! Sie haben das Zeug in der Zeitung gelesen, und dann saßen Sie da, sehnten sich nach Monstern und beschworen das Ganze in Ihrer Einbildung herauf. Und überhaupt“, fügte er hinzu, um sich selber Mut zu machen, „ selbst wenn es wahr wäre - was könnte so ein Ding schon tun!?“
Ah!“ machte Mrs. Medford bedeutungsschwer, „Aa-aah!“
Die nächste Morgenzeitung gab einen Hinweis drauf, was so ein Ding tun konnte.

Ein Mister Dibbs aus Kirkby-Sheperd in Westmoreland“, berichtete sie, „ein Gentleman, der gewisse Schwierigkeiten mit Lord Gravelys Wildhüter hatte, schlenderte mit zwei Hunden und einer Flinte harmlos nachts durch den Wald, um das schöne Mondlicht zu genießen, wie er sagte, als seine Hunde in einem Graben den SPIDER-HORROR aufschreckten. Das Ding raste, erzählte er, den Waldweg mit unglaublicher Geschwindigkeit entlang. Ganz zufällig, erklärte Dibbs, hatte er grade eine Patrone in seinem Gewehr, und er hätte es erschossen, was auch immer es war, wenn seine Hunde dem Ding nicht zu nahe gekommen wären. Sie jagten es in ein Gebüsch, von dort hörte er wütendes Rascheln und Bellen, ganz ähnlich wie bei einer Kaninchenjagd. Doch plötzlich stieß einer der Hunde ein hohes Fiepen aus und kam zu ihm in winselndem Schrecken zurückgekrochen, als ob er statt des Kaninchens einen Bären vorgefunden hätte, und der andere Hund war unheilverkündend still. Seine Flinte im Anschlag für alle Fälle, näherte er sich dem Gebüsch, um es zu untersuchen, und dort, zu seinem Erstaunen, fand er seinen Hund – tot. 'Erdrosselt!Erwürgt!' versicherte Mr. Dibbs, 'als ob ein starker Mann es getan hätte!'
Der Wildhüter wiederum versichert, nichts Bedrohlicheres als Kaninchen im umliegenden Waldgebiet entdeckt zu haben. Die lokale Polizeibehörde drückt ihr Bedauern darüber aus, dass solche Dinge immer nur nachts passieren und stets von unzuverlässigen Zeugen beobachtet werden.“

Jimmys einzige Frage war: „Wo liegt Westmoreland?“
Das ist die Grafschaft südlich von Cumberland, wo wir uns befinden!“ Eula hing an seinem Arm. „Jimmy...so etwas kann es doch nicht wirklich geben...Oder?“
Es wandert hierher!“ zitierte Jimmy finster. „Was muß man hier in England tun, um zu einem Gewehr zu kommen? Und gibt es irgendeinen Experten, der uns sagen kann, was dieses Ding will und was für Motive es hat? Ich meine die ganze Angelegenheit. All diese Geschichten summieren sich zu etwas, das zwingend etwas zu tun haben muß mit dieser grauenhaften, brutalen Hand, die ich in dem Shop gesehen habe. 'Die Hand von St. Ury' hat der Verkäufer sie genannt; und er sagte etwas von...keine heiligen Stigmata, sondern...ein Nagelloch. Und unsere graue Lady hatte ihren Rappel und sah sie - genagelt an ein Brett! Also? Wer kann uns sagen, was sie lebendig gemacht hat? Warum ist sie nachts unterwegs hierher? Warum hierher? Will sie mich? Kommt sie meinetwegen den ganzen Weg aus London? Wenn sie dann hier ist, was dann? Ist das gut oder schlecht? Wer kann uns in die Regeln und Gesetze der Monster-Gewerkschaft einweihen?“
Eula sah nachdenklich aus dem Fenster. „Es gibt hier eine ganze Menge Okkult-Detektive und Geisterjäger. Ich denke, der beste ist Dr. Eugene Harries. Er gehört zur W.T.Stead-Gesellschaft und ist Mitglied der Psychic Reserch Society. Sie durchlöchern fadenscheinige Geistergeschichten, die hin und wieder auftauchen, und sie publizieren Stellungnahmen zu ihren Forschungen. Was ich nicht an ihnen mag, ist, dass sie zugeben, hin und wieder auf Sachen zu stoßen, die sie nicht lustig finden.“
Wir sollten ihn einladen und ihm die ganze Sache aufhalsen“ schlug Jimmy prompt vor. „Dann können wir auch in Ruhe an unserem eigenen Projekt weiterarbeiten und die alten britischen Familienmitglieder ausgraben. Je tiefer wir uns in diese alten Wälzer hineinwühlen, desto begeisterter wird Daddy sein. Süße, mach uns Ducks zu respektablen Oldtimern, und ich bringe ihn dazu, unsere Hochzeitsreise zu bezahlen!“
Waaas??“
Eula sprang von ihm weg und brachte den alten geschnitzten Schreibtisch zwischen sich und ihn. Ihre Augen waren weiter geöffnet als beim Staunen über Mrs. Medfords Enthüllungen.
Du willst mich heiraten?“
Naja, wir Ducks sind eben nicht nur eine alte, sondern auch eine altmodische Familie. Und außerdem ist eine Verlobung der einzige Weg, um auf längere Sicht Mrs. Medfords vernichtenden Blicken zu entgehen.“
Allmächtiger!“ Der Schock hatte Eulas Haare verwirrt, die nun aufrecht standen und wirkten wie rote Flammen. „Ihr Amerikaner seid ziemlich direkt! Ist das die Art, in der ihr eure Anträge macht?“
Tja...Manchmal machen wir sie auch im Auto oder an andern romantischen Plätzen. Aber ich nehme an, ihr Engländer, mit all euern Spukschlössern und so, wollt es ein bißchen anders haben.“
Eula hatte etwas an Selbsticherheit zurückgewonnen. „Hier heiraten wir fast nie unseren Boß. Und außerdem haben wir beide zu viel zu tun.“
Tun wirs zusammen!“ meinte Jimmy fröhlich. „Auf Augenhöhe! Du mußt mich nicht als Boß betrachten. Komm, lass uns buddeln. Wir vernachlässigen unsere Goldgrube.“

7.

Die Goldgrube stellte sich bald, wie Johnny es nannte, als alte vergrabene Landmine heraus. Doch zunächst, als die beiden sie fanden, waren sie fasziniert.
Oh, sieh mal! Der Sir D'Auk war 'Lord der Hohen, Mittleren und Niederen Justiz und ein gar tapferer Träger des Kreuzes!'“
Heißt das, er war ein Prediger? Ein Heiliger?“
Ach Quatsch. Ein Kreuzritter! Er zog aus, um Ungläubige abzumurksen.“
Das macht uns Ducks in der Tat ziemlich respektabel.“
Und hier ist dein – du, das ist ja aufregend – hier ist St. Ury!“
Ich seh nichts.“
Du schaust ja auch nicht ins Buch. Er ist nicht in meinen Haaren. Hier – Benoit De La Ceinture. Benoit mit dem Gürtel. Er war gar kein Heiliger. Er war „Senechal Of Ye Keepe“, das heißt, er war Chef der Wache, und stellvertretender Befehlshaber, also immer wenn Ihre Tapfere Kreuzritter-Hoheit beruflich im Ausland Heiden schlachtete, war er hier der Chef. Und als dann das normannische Französisch ausstarb und es keiner mehr verstand, verwandelte das Grimmsche Gesetz der umgangssprachlichen Anpassung den Namen in St. Ury. Ceinture – Saint Ury.“
Bei weiteren Recherchen stellte sich heraus, dass dieser Ceinture weit davon entfernt war, ein Heiliger zu sein, und die beiden Ahnen-Forscher blickten sich mit grauen Gesichtern an.
Der gar tapfere Kreuzritter d'Auk war zurückgekommen, und zwar, wie es Kreuzritter in der Ära vor Telegraph und Telefon zu tun pflegten, überraschend. Und er fand heraus, wie schon viele Krieger vor ihm, das seine Hohe Frau, etwas gelangweilt von seiner langen Abwesenheit, etwas freundlicher zum Kapitän der Wache war, als es der Anstand gebot. Und da er die Rechte einer Hohen, Mittleren und Niederen Justiz für sich in Anspruch nahm, stürzte er sich in berechtigter nobler Raserei auf den Senechal, schlug ihm die rechte Hand ab und nagelte sie an die große Eichentür, um allen sichtbar zu machen, wie die Strafe für Flirts dieser Art aussah, um das Kind beim Namen zu nennen. Und a propos Kind – bei dieser Liebesaffaire mußte wohl mehr als nur eine Hand im Spiel gewesen sein, denn die Chronik sprach von einem „eingestandenen Bastard, und derentwegen beraubet aller Rechte des Erbthums.“
Jimmy legte seine eigene Hand auf die ziemlich kalte von Eula. „Also das ist die Hand von Ury! Und sie kommt hierher! Natürlich! Sie kehrt – heim!“
Er versuchte sich an einem ziemlich lahmen Scherz. „Naja, dieser Stammbaum läßt uns Ducks dann doch nicht ganz so respektabel aussehen...“
Mach keine Witze darüber!“ Eula schauderte. „Deine Linie könnte von einem früheren ehelichen Kind abstammen – vielleicht bist ein direkter Nachfahre von D'Auk.“
Doch Jimmy dämmerten die schrecklichen Implikationen dieser Möglichkeit in vollem Umfang erst, als Doktor Eugene Harries auftauchte.
Der Doktor erläuterte seine Theorien zu diesem Fall mit professioneller Dunkelheit.
Faszinierend! Höchst faszinierend! Aus dem, was Sie mir erzählt haben, läßt sich unzweifelhaft schließen, dass diese wuselnde Kreatur der Finsternis eben die Hand ist, die Sie in Ihrer Familienchronik entdeckt haben! Ganz klar einer der ganz eindeutigen, echten Fälle!“
Na schön“ resümierte Jimmy, „es ist also eine tote Hand, die hier einst an die Eingangstür genagelt wurde. Sie überlebt irgendwie – wenn die Bezeichnung 'überleben' überhaupt auf so ein Ding anwendbar ist, und dann taucht sie plötzlich spinnenwebenverklebt in einem alten Raritätenladen wieder auf. Was mich interessiert, ist: Was hat sie wieder aufgeweckt? Und wie? Warum krabbelt sie die nächtlichen Straßen entlang und ist auf dem Weg nach Hause? Hinter wem oder was ist sie her?
Ah!“ machte der Doktor, fast so unheilsschwanger, wie es Mrs. Medford gemacht hätte. „Solche Sachen sind nicht einfach zu erklären. Es gibt da eine uralte okkulte Theorie, die heutzutage fast wieder als wahr akzeptiert wird, dass nämlich Gedanken physische Kräfte besitzen. Der Gedanke an Haß etwa kann so stark sein, dass er den Erzeuger des Gedankens überlebt.“ Er hob eine Hand. „Einen Moment, bitte! Ich sagte, diese Theorie der physisch wirkenden Gedankenkräfte wäre nun wieder akzeptiert. Und zwar deshalb, weil die Experimente Ihres Landsmanns Dr. Rhine in Amerika das nahelegen. Er scheint demonstriert zu haben, das hohe Gedankenkonzentration tatsächlich Materie bewegen kann – zum Beispiel kann sie Würfel rollen lassen. Es gab solche Versuchsreihen an der Universität in Ohio, oder?“
Ja schon.“ Jimmy hörte aufmerksam zu. „Ich habe davon gelesen. Aber das waren lebende Gedanken!“
Ah!“ machte der Doktor erneut. „Aber wie erklären Sie das – einen 'lebenden' Gedanken? Ein Gedanke, also Energie mit, wie wir glauben, meßbarer Kraft, wurde kreiert und dann projiziert in – wie nennen wir das am besten – den umgebenden Äther? Gut, sagen wir, da ist er nun, wie lange kann er da existieren? Um das kurz und bündig zu erklären, lassen Sie mich eine moderne Analogie benutzen – das Radio. Ein meßbarer Impuls wird ausgesendet. Wo genau ist er? Er ist überall. Er kann auf einen Empfänger in großer Distanz wirken. Es ist nachgewiesen worden, dass das Signal mit einer gewissen meßbaren Zeitverzögerung und nachlassender Stärke die Erde umrundet, doch es kann dann nach der Erdumrundung noch einmal von fein justierten Geräten empfangen werden. Gut – wenn es zweimal empfangen werden kann, dann kann es theoretisch unendlich oft empfangen werden. Angenommen, wir hätten einen unendlich feinen Empfänger – wo ist dann der Punkt, an dem das Signal erlischt? Das, was Sie eine tote Hand nennen, ist nichts anderes als solch ein Empfänger, genauestens ausgerichtet auf die Wellenlänge eines kraftvoll projizierten Gedankens – den Gedanken des Hasses, ausgesendet vom Originalprojektor!“
Klingt schrecklich logisch. Aber da bohren Sie ein ziemlich dünnes Brett, stimmts?“
Zugegeben. Aber wenn wir die Möglichkeit erst einmal in Betracht ziehen, müssen wir einräumen, das es hier nicht entscheidend ist, wie stark oder schwach das Signal des Projektors ist, sondern nur, wie groß die Möglichkeit ist, dass der Empfänger reagiert. Im Falle des Radios bedeutet das – dass es spricht. Oder Musik macht. In unserem Fall heißt das: der Empfänger wird mobil gemacht! Er wird in Bewegung gesetzt! Er wird wiederbelebt! Er wird den Impuls ausführen, den das Original projiziert hat!“
Jimmy und Eula folgten den Worten des Doktors mit Spannung - und zunehmendem Unbehagen.
Sie meinen, dieser starke Haß könnte ein ekliges Ding wie diese Hand beeinflussen und sie in Bewegung setzten?“ fragte Jimmy. „Na gut, aber warum ist das nicht schon vor langer Zeit passiert? Ich meine, es hätte doch jederzeit passieren können, nachdem sie sich – Gott weiß wie – von diesem Brett gelöst hat, an das sie genagelt war. Weshalb fällt es ihr grade jetzt ein?“
Der Doktor strahlte seine Zwei-Personen-Klasse gütig an.
Wir haben eben über die Analogie von schwindenden, aber weiter existierenden Impulswellen gesprochen. Lasen Sie uns jetzt eine andere uralte magische Theorie in Augenschein nehmen, die von der modernen Wissenschaft akzeptiert wurde – die der Transmutation. Wir haben uns lange lustig gemacht über den Glauben der mittelalterlichen Mystiker, dass man Metall einer Transmutation unterziehen könne, also zum Beispiel unedle Metalle in Gold verwandeln. Aber unsere jüngsten Experimente haben gezeigt, dass die atomare Struktur einer toten Substanz wie etwa einem metallischen Erz durch das Beschießen mit Elektronen so manipuliert werden kann, dass sich die atomare Struktur anders arrangiert. Das, was wir tote Materie genannt haben, kann also vitalisiert und zu so etwas Zerstörerischem verwandelt werden wie einer Bombe.“
Diese Theorie“, warf Jimmy ein, „scheint uns ziemlich weit von unserem Thema wegzuführen.“
Überhaupt nicht! Diese Theorie vorausgesetzt – wer würde es in unseren Tagen wagen, den Möglichkeiten der Transmutation Grenzen zu setzen? Die Analogie ist folgende: Sie, ein Abkömmling des Sir d'Auk, besitzen immer noch die Gene, die in der Lage sind, eine – lassen Sie uns nicht länger sagen, psychische Kraft, sondern eine elektronische Energie – oder wir können auch sagen, eine magnetische – abzustrahlen, die auf die atomare Struktur einer Hand einwirkt, die wir allzu vorschnell als „tot“ bezeichnet haben. Also war es nichts anderes als Ihre Präsenz, die im Kuriositätenshop die immanente Haß-Energie der Hand reaktiviert hat – und damit auch ihre gegenwärtige destruktive Manifestation.“
Haß, Haß, Haß!“ schluchze Eula. „Ich ich nehme an, Sie glauben, dieses Ding krabbelt jetzt durch die Abflußrinnen der Straßen auf uns zu und weiß irgendwie auf eine boshafte Weise, dass der Nachkomme des Mannes, der sie abgehackt hat, hier ist, und sinnt auf schreckliche Rache.“
Doktor Harries blickte Jimmy an und nickte sehr ernst. Und Jimmy stellte zum drittenmal dieselbe Frage, ganz ohne zweifelnden oder zornigen Unterton.
Und was können wir dagegen machen?“
Wir haben bisher“ - der Doktor wog die Möglichkeiten mit gnadenloser Unparteilichkeit ab - „nur die materiellen Quellen seiner Fähigkeiten diskutiert, und wir wissen aus den Zeitungsberichten, dass es einen Jagdhund mühelos strangulieren kann. Wir müssen also auch die Wahrscheinlichkeit einräumen, dass es in der Lage ist, einen Menschen zu erdrosseln. Wenn Sie die Energiereserven solcher Erscheinungen in Betracht ziehen, die vermutlich vergleichbar sind mit den seltsamen physischen Kraftpotentialen von Wahnsinnigen, müssen wir uns eingestehen, dass wir es hier mit einer tödlichen Gefahr zu tun haben, einem Wesen, dass nicht nur für das Objekt seiner Rache lebensbedrohlich ist, sondern auch für jeden, der sich dieser Rache in den Weg stellt.“
Hm“ grunzte Jimmy und spürte Eulas Schaudern, die sich eng an ihn gedrängt hatte. Sein schmaler, entschlossener Mund zeigte, dass er nicht mehr willens war, die Angelegenheit so leichtfertig abzutun, wie er es bisher getan hatte.
Ich nehme mal an“, fragte er nicht sehr hoffnungsvoll, “Dass es wenig Zweck hat, einfach davonzulaufen? Wenn das verdammte Ding auf den eigenen Fingerspitzen so blitzschnell laufen kann, kann es uns auch überallhin folgen. Wie groß sind die Chancen, dass der Hand das Benzin ausgeht?“
Wir wissen es einfach nicht“, sagte der Doktor abwägend. „Die Protokolle unserer spiritistischen Gesellschaft zeigen, dass die destruktiven Kräfte der Jernseitswelt mitunter viele hundert Jahre fortbestehen können.“
Tja, das würde mich auf die Dauer wohl etwas erschöpfen,“ seufzte Jimmy. „Also können wir genausogut hierbleiben und es vor Ort ausfechten. Bloß wie?“
Da bliebe noch eine weitere Möglichkeit“, meinte der Doktor hoffnungsvoll. „Sie erinnern sich, dass es keinen Versuch unternahm, Sie zu verletzen, als Sie das erste Mal auf das Ding gestoßen sind? Bisher hat es sich nur gegen diejenigen gewandt, die es belästigt haben, die Dame mit dem Schirm, der Hund des Wilddiebs. Es wäre immerhin möglich – wenn ich diese etwas beschämende Option hier präsentieren darf – dass es sich in Ihre Tasche geschmuggelt und Ihnen später gefolgt ist, weil es eine gewisse Zuneigung verspürt!“
Großer Gott!“ Jimmy riß die Augen auf. „Was meinen Sie damit? Zuneigung von einem Wesen wie diesem...Wieso?“
Naja, es könnte doch sein, wissen Sie...daß, ähm, Ihr Zweig der Familie von jenem illegitimen Nachkommen abstammt, und dass diese Hand, genauer gesagt, ihr Besitzer, Ihr Vorfahre war.“
Allmächtiger!“ Jimmy bekam eine Gänsehaut bei dem Gedanken. „Und jetzt will sie kuscheln? Sich in der Dunkelheit heranrobben und – Händchen halten? In kalten Nächten in mein Bett schlüpfen und...“
Eula quiekte auf. Jimmy sah sich rasch nach ihr um, einen Moment seine eigenen Schrecken vergessend. Eula war entsetzt über Jimmys morbide Assoziationen.
Auf jeden Fall“, fuhr der Doktor fort, „sind die Fähigkeiten dieser Manifestation so faszinierend, dass ich, angesichts eines so authentischen Falles, in Erwägung ziehe, trotz der großen Gefahren, aus wissenschaftlichem Interesse heraus, Sie bei der Abwehr des Objekts zu unterstützen.“
Eula packte seinen Arm und klammerte sich an ihn.
Oh bitte! Wir sind so hilflos - und verängstigt! Wir wüßten allein gar nicht, was wir machen sollen!“
Ihr kam anscheinend gar nicht in den Sinn, dass sie, da sie ja nicht direkt ins Geschehen involviert war, einfach ihre Koffer packen und sich davonmachen konnte.
Halten Sie es für ratsam,“ fragte Jimmy, „dass wir uns bewaffnen?“
Auf jeden Fall, und zwar sofort! Wir müssen von der Annahme ausgehen, dass das Ding unmittelbar auf dem Weg hierher ist, und, da es vermutlich nicht gutartig ist, sich verheerend auf dies Haus und seine Bewohner auswirken könnte. Es scheint nachtaktiv zu sein, sozusagen. Äh, diese große Lady in Grau, die hier im Haus herumschwebt – kann man auf sie zählen - in einer gefährlichen Situation wie dieser, die gewisse Aspekte übernatürlichen Horrors mit einschließt?“
Sie ist eine der drei Nornen“ bemerkte Eula trocken. „Sie lebt inmitten all der Schrecken dieses Hauses. Wenn Sie Ihren Annahmen zustimmt, was die Hand angeht, ist sie auf unserer Seite.“
Mrs. Medford stimmte den Ansichten von Dr. Harries zu. Sie kannte sich mit „parapschüchigen Manifestationen“ aus, wie sie sagte. Dr. Harries wiederum stimmte ihrer Idee zu, eine Seance abzuhalten – mit ihrer Freundin Mrs. Shaughnessy als Medium.
Es gibt immer die Möglichkeit“, räumte er ein, „dass das wandernde Unbewußte des Mediums mit seinen Gedankenkräften wertvolle Informationen auftreibt und dann für uns visualisiert – Informationen, wie man sie manchmal in solchen Fällen auch durch Hypnose erhält.“
8.

Die Seance stellte sich als qualvolle Angelegenheit heraus mit verschwommenen Andeutungen, Gekreisch und boshaften Drohungen. Mrs. Shaughnessy stöhnte zuerst, wiegte sich hin und her und begab sich in ihre „Trance“, aus der sie dann die Anwesenheit eines „dunklen Geistes“ verkündete, der angeblich den Raum ausfüllte und von jemandem Besitz ergreifen wollte, doch nicht von ihr - er begehrte die „Kontrolle“ über jemanden, „der dem Haus näherstand.“ Woraufhin Mrs. Medford eine Reihe von Anfällen erlitt, in denen sie ächzte und zitterte, um schließlich in eine Art starres Koma zu verfallen. Dann krächzte eine seltsame Stimme aus ihrem Bauch.
Ich bin hier!“ sagte sie. „Nicht hier, aber in diesem Haus, bevor es hier war. Ich schaue durch ein Fenster in einen Gemüsegarten, doch da ist kein Gemüse, sondern moosiges Kopfsteinpflaster! Und da sind Menschen und Soldaten in Rüstung und Edle in Samt...“
Plötzlich schrie sie: „Ich sehe ihn! Da kommt er! Ein schrecklicher großer haariger Mann! Wird von Soldaten gezerrt...ist mit Eisen-Ketten gefesselt... Ich sehe ihn!“ Dann schien sie der Mann selbst zu sein und stöhnte und schauderte mit gequälter tiefer Stimme.
Es war eine schreckliche, große, haarige Hand“ bestätigte Jimmy.
Mrs. Medford begann nach kurzem Schweigen erneut aufzuschreien. „Er hebt seine Hände mit den Ketten und rüttelt die Fäuste. Es ist...ein Fluch! Er sagt etwas von...essen und trinken...wachen und schlafen...leben und steben... 'Ich werde auf dich warten, Lord von Auberge!' Und die samtenen Edlen lachen, und der Lord sagt: 'Lasst uns das Urteil des Hohen Gerichts ausführen'“!
Und dann griff Mrs. Medford nach ihrem Handgelenk, wand sich in ängstlichem Widerstand und schrie erneut voller Qual auf, um dann halb von Sinnen zu einem bibbernden und stöhnenden Haufen zusammenzusinken.
Jimmy und Eula kamen zitternd aus dem dunklen Raum. Eula rieb sich unbewußt ihr eigenes Handgelenk. Dr. Harries schien nicht sehr beeindruckt. „Die meisten dieser Manifestationen sind eigentlich nur Äußerungen des Unbewußten“, fasste er das bizarre Experiment zusammen, „obwohl sie eifrig drauf bestehen, 'geist-gesteuert' zu sein, Verschiedene Eindrücke, lose geformt von einem nicht gut ausbalanciertem und empfindlichen Gehirn, und gespeist von Gelesenem oder vom Hörensagen, werden mit erstaunlicher Realität visualisiert. Dieses Phänomen ist auch die Erklärung für die meisten Visionen von Heiligen und Madonnen. Obwohl wir natürlich“ fügte er mit kalter Objektivität hinzu, „die Möglichkeit nicht komplett ausschließen können, dass mache sensiblen Medien quasi als Empfangsgerät für Wellenlängen einer äußeren Quelle dienen. Wir waren eben also entweder Zeugen der Visualisierung eines unausgegorenen Unbewußten, oder“ - seine Akzeptanz dieser Möglichkeit war furchteinflößend - „ es waren die Ausstrahlungen einer immer noch sehr starken aktiven Haß-Energie. Kurz: wir können eigentlich nichts Definitives tun, bevor die Hand hier ist.“
9.

Es war Lady Jane, die die ersten Anzeichen dafür lieferte, dass sich etwas Bedrohliches verstohlen näherte. Aus der Dämmerung kam das durchdringende Gewinsel eines Pudels, der fast zu Tode verängstigt war, und bald setzte die Kreatur ihr Gekläff unter einen Stuhl fort, zu dem sie mehr getaumelt als gerannt war.
Na gut!“ presste Jimmy durch seine Zähne, „Was können wir tun, um uns zu verteidigen?“ Er sagte nicht: „Um es zu bekämpfen.“
Tja...“ meditierte Dr. Harries vor sich hin, „Wenn wir nur wüßten, wie wir Sie immunisieren könnten – genauer gesagt, wie wir irgendein undurchdringliches Schild um Sie herum errichten könnten, etwa so, wie man mit Blei radioaktive Energie abschirmen kann. Dann würde Ihre Ausstrahlung vermutlich aufhören, auf das Ding zu einzuwirken“.
Verdammt!“ Jimmys Ungeduld schlug in Wut um. „Ich mach das schließlich nicht mit Absicht!“
Natürlich nicht. Und doch könnte in Ihnen ein unbewußter Willen existieren, der die Hand anlockt – schließlich wissen wir, dass solche Dinge sogar bewußt gesteuert werden können, so etwa bei den sogenannten „Magiern“ des Mittelalters oder afrikanischen Hexenmeistern unserer Gegenwart. Ein gewisser Schutz wird angeblich gewährleistet durch diverse „magische Kreise“ oder „heilige Pentagramme“ und so weiter, obwohl ich persönlich nicht viel Vertrauen zu derlei Abwehr habe. Etwas glaubwürdiger und verläßlicher ist da schon der bekannte mittelalterliche Glauben an die Kraft von kaltem Eisen gegen das, was sie damals Hexenkünste nannten – dafür spricht auch, dass die Hand einst mit einem Eisennagel gegen die Tür genagelt wurde. Auch war es üblich, Selbstmördern einen großen Eisennagel durch ihre Körpermitte zu schlagen, weil man glaubte, sie seien im Tode ruhe- und heimatlose Geister. Es gab aus diesem Grund auch eiserne Särge und so weiter. Dieser Glaube hat übrigens bis heute überlebt in Form von eisernen Amuletten und eisernen Kreuzen, sei es als Medallions oder auf Grabsteinen. Unglücklicherweise können wir Sie nicht in einen eisernen Sarg legen. Und um die Hand erneut mit eisernen Nägeln zu spicken, müssen wir sie erst fangen.“
Klingt wie eine Kobra-Jagd“, fluchte Jimmy grimmig.“Wie wärs mit dem Stahl einer Revolverpatrone?“
Das wäre eine Möglichkeit. Zwar könnte es sein, dass das Ding auch nach seiner, äh, Disintegration fortfährt, Sie zu hassen, da die Haßenergie selbst nicht aufgelöst werden kann, aber das ist dann vermutlich nur noch eine Frage von theoretischem Interesse, weil seine physische Möglichkeit, sich zu rächen, zerstört wurde.“
Jimmy entfuhr ein langer Seufzer, der fast etwas erleichtert klang. Doch der Doktor fuhr erbarmungslos fort. „Wir könnten damit den ganzen Spuk los sein, außer natürlich, die hassende Kraft besteht darauf, in irgendeiner anderen telekinetischen Form weiterzuexistieren. Sie könnte auf andere Weise Dinge bewegen, zum Beispiel einen Ziegelstein von einer hohen Mauer auf Sie plumsen lassen.“ Auf Jimmys gehetzten Blick hin erklärte der Doktor mit brutaler Fröhlichkeit: „Das Phänomen, warum ein Ziegelstein oder Eimer Farbe exakt auf eine 'unglückliche Person' niederfallen kann, ist nie befriedigend geklärt worden.“
Also ich gehe jetzt in die Stadt und besorge mir eine abgesägte Schrotflinte“, verkündete Jimmy düster.
Wär es möglich, gleich zwei zu besorgen?“ schlug Doktor Harries mit kühler Akzeptanz der schlimmsten Möglichkeiten vor. „Und obwohl es noch hell ist, wäre es vielleicht besser, ich leiste Ihnen auf Ihrem Weg Gesellschaft.“

10.
Sie kehrten mit einem ganzen Waffenarsenal und zwei riesigen Boxerhunden zurück.
Wenn die das Ding dabei erwischen, vor dem Haus herumzukrabbeln, und es fressen oder zerreißen, wird es ausreichend desintegriert sein, schätze ich,“ erklärte Jimmy Eula.
Eulas Antlitz verzerre sich angesichts einer so unappetitlichen Vorstellung. „Ich vermute, die Viecher werden sie zumindest auf Trab halten“, tröstete er sie. „Aber vergiß nicht, die Hunde des Wilderers...“
Die erste Nacht nach der Ankunft des Dings brachte ein wildes Chaos mit viel Gebell und Geraschel mit sich, das zu nichts führte. Verstohlene Geräusche drangen aus dem zugewucherten Garten herüber. Die Hunde verkündeten ihre Aufregung über das, was es auch immer sein mochte und galoppierten auf ihren großen Pfoten hierhin und dorthin wie wahnsinnig gewordene Brauereipferde. Bei jedem Zwischenfall stürzten Jimmy und der Doktor eifrig zu den Fenstern und durchforschten die dunkle Tiefe mit ihren Blicken. Sie konnten die schattigen Umrisse der großen Hunde über mondbeschienene Flecken huschen sehen – aber sonst nichts.
Es könnten natürlich auch Ratten sein“ schlug der Doktor vor.
Klar, Ratten!“ Eula legte ihre gesamte Verachtung in ihr britisches Idiom.
Vielleicht entdecken wir ja Spuren, wenn es hell wird“ überlegte Jimmy hoffnungsvoll, „dann wissen wir mehr.“
Die Spuren, die sie am nächsten Tag neben den Eindrücken der Hundepfoten fanden, waren hoffnungslos verschmiert. „Hatte dieses Ding“, fragte der Doktor, „als Sie es in dem Laden fanden, lange Fingernägel? Wie auch immer“, faßte er die Situation zusammen, „wir können auf jeden Fall davon ausgehen, dass das Ding nachtaktiv ist, wie alle dunklen Mächte. Wir werden deshalb mit großer Wahrscheinlichkeit tagsüber sicher sein – dann jedenfalls, wenn wir um dunkle Ecken einen großen Bogen machen. Wir wissen nun, es vermeidet eine überlegende Anzahl von Gegnern, wie zum Beispiel zwei wütende Hunde. Wir wissen aber auch, dass es, wie im Fall des Wilderers, in der Lage ist, listig einen Hund zu separieren und einzeln anzugreifen. Und, da es sich bisher noch nicht offen gezeigt hat, müssen wir, so sehr ich das bedaure, uns mit der Tatsache anfreunden, dass seine Absichten definitiv bösartig sind, und daß es mit tödlicher Intelligenz begabt ist.“
Vielleicht könnten wir dann ja tagsüber jagen?“ schlug Jimmy voller Hoffnung vor. „So können wir jedenfalls nicht weitermachen – mit dem Wissen, das ein höllisches Etwas in Gestalt einer haarigen Hand irgendwo auf dem Grundstück herumlungert und darauf wartet, nach Anbruch der Dämmerung auf jemanden zuzuspringen und ihm die Kehle zuzudrücken!“
Wenn wir es finden könnten! Sein fieser Vorteil ist, dass es sich mit Leichtigkeit in tausend Ritzen hier im zerbröckelnden Mauerwerk verstecken kann.“
Mrs. Medford wußte natürlich, wo „es“ zu finden war. „Es lebt im Kartoffelkeller!“ verkündete sie, und bevor sie nachfragen konnten, fügte sie hinzu: „Ich habe es gesehen!“
Vor Ihrem geistigen Auge, vermute ich mal“, meinte der Doktor. „Aber lassen Sie uns die Gewehre nehmen und nachschauen – wer weiß...“
Der Kartoffelkeller stellte sich als dunkles Gewölbe hinter einer schweren Tür heraus, erbaut aus riesigen Steinen, kalt und moderig. Aus den Löchern, die herausgefallene Steine hinterlassen hatten, tröpfelte Wasser. An den Mauern aufgereihte Tonnen enthielten Kartoffeln und die Sorte großer Steckrüben, nach denen die Landbevölkerung inklusive des Viehs so verrückt war. Der Doktor, der den Keller mit einer völlig unzureichenden funzeligen Taschenlampe sorgfältig erkundete, vermutete, dass dies einst, in den Tagen der Brutalität und der hygienischen Sorglosigkeit, ein lichtloses Verließ gewesen war.
Gott“ fluchte Jimmy. Die ständige Ungewißheit und wachsende Bedrohung zerrte an seinen Nerven. „Hier gibt es eine Million kleine Verstecke. Wenn wir vielleicht eine starke Lampe an einer Verlängerungsschnur aus dem Haus...“
Wir könnten auch dann nicht jedes einzelne Loch finden und erkunden“, unterbrach Harries. „Wer weiß, wie tief sie in die Wände reichen. Wir bräuchten Frettchen, wie in einem Kaninchenbau.“ Der Doktor konnte sich nicht enthalten, in seiner makabren Art warnend hinzuzusetzten: „Das Ding ist allerdings entschieden gefährlicher als ein Kaninchen.“
Ein raschelndes Geräusch in der Ecke ließ beide herumwirbeln. Ein leises hohes Krächzen entwich Jimmys Kehle, und panisch feuerte er beide Ladungen seines Gewehrs in diese Richtung.
Der Strahl der Taschenlampe zeigte, dass er ein paar Zwiebeln und eine Ratte gründlich „desintegriert“ hatte.
Und wir wissen“, konstatierte der Doktor, als ob er den Faden irgendeiner eben dozierten Theorie wieder aufnahm, „dass es auf Aggression mit wachsender Rachsucht reagiert.“ Seine wissenschaftliche Attitüde, selbst in der Stunde der Gefahr, war entnervend. Die beißende Dämpfe des Schießpulvers vertrieb sie von diesem unwirtlichen Ort.
Meine Güte“, hustete Jimmy. „Was sind Sie bloß für ein Pessimist!“
Wir können es uns nicht leisten“ grollte der Doktor, „angesichts einer Kreatur optimistisch zu sein, die in der Finsternis operiert. Es ist nicht nur christlicher Aberglaube, dass Licht und das Gute zusammengehören. Alles, was wir tun können, ist, auf der Hut zu sein.“
Bei einem späten Abendessen schlug er vor: „Miss Bogue, ich halte es für ratsam, dass Sie ab jetzt bei unserer formidablen Haushälterin übernachten.“
Eula wedelte heftig mit ihren weit gespreizten Fingen bei dieser Aussicht. „Huah! Das wäre noch grusliger, als...“
Und ich“, unterbrach der Experte sie rüde, „werde mit Mr. Duck zusammenziehen. Ich schlage vor, wir belegen Räume mit Verbindungstüren. Am besten die im alten Kapellen-Flügel mit den vergitterten Fenstern.“
Und so kam es, dass sich die vier zu einer Nachtwache versammelten, um gemeinsam durch die Fenster der Katastrophe ins Auge zu sehen. Tatsächlich schien spät am Abend rund ums Haus die Hölle losgebrochen zu sein. Krachende Gebüsche, wildes Galoppieren von Füßen, kläffende Hunde - manchmal bellten sie gemeinsam zur selben Zeit, wütend hinter etwas herjagend – und dann gab es wieder getrennte Konfusion; ein Hund schien hysterisch unter einem Busch etwas anzubellen, das er nicht erreichen konnte, der andere war wohl überzeugt davon, dass er etwas in einem Abflußrohr in die Enge getrieben hatte. Und dann wurden die vier Beobachter an den hochgelegenen Fenstern Zeugen eines echten Schreckens im Mondlicht.
Einer der beiden Hunde taumelte aus den Schatten hervor, hustend und würgend, und stolperte unsicher über ein Rasenstück. Im fahlen Licht sah es zunächst so aus, als hielte er etwas Schlaffes zwischen den Zähnen, um es furios zu schütteln. Doch als sein Kopf sich von einer Seite zur andern wand, konnten sie erkennen, dass nichts zwischen seinen Zähnen steckte, sondern etwas an seiner Kehle hing – etwas, das alles andere als schlaff war!
Jimmy und der Doktor schnappten sich ihre Gewehre. Sie rasten die Treppe hinunter und nach draußen. Doch der Hund war inzwischen in der Dunkelheit zwischen schattigen Büschen verschwunden. Auf ihre Rufe hin kam keine Antwort. Nicht einmal vom anderen Hund.
Wir sollten uns lieber nicht zu weit in die Schatten wagen“, warnte der Doktor. „Und auf keinen Fall die Frauen allein lassen!“
An der Tür standen beide einen Moment wie erstarrt.
Mein Gott, wir haben sie offengelassen!“
Im Haus war allerdings nichts Schlimmes passiert, sah man davon ab, dass Mrs. Medford sich grade bebend von einer kurzen Ohnmacht erholte. Eula rieb ihr die Hände. Wasser, das großzügig um das Waschbecken auf dem Boden verspritzt war, zeugte von Eulas nicht sehr zartfühlenden Wiederbelegungsversuchen.
Gott!“ murmelte Mrs. Medford. „Ich...habe es gesehen!“
Aber Sie haben es doch schon mal gesehen“, meinte Eula rüde, “und da sind Sie auch nicht umgefallen und haben mich allein gelassen.“
Ah“ machte Mrs. Medford. „Aber diesmal habe ich es wirklich gesehen! Es war eine schreckliche haarige Hand!“
Sie kann sie eigentlich nicht wirklich identifiziert haben“ widersprach der Doktor mit kalter Sachlichkeit. „Zu wenig Licht, und die Fenster liegen zu hoch. Wie auch immer, wir haben die Tür für einige Augenblicke lang nicht im Auge behalten, also bleibt uns nichts anderes übrig, als zusammen für den Rest der Nacht wachzubleiben.“
Jimmy war auf alles und jeden in der Welt wütend, im speziellen auf sich selbst und seine unkontrollierten Nerven, die es zugelassen hatten, dass die Tür weit offenstand. „Ja“, krächzte er zynisch, „wir können uns ja die Zeit mit Gruselgeschichten vertreiben!“ Seine Hand strich nervös über seine Kehle.
Eula warf ihm einen vorwurfsvollen Blick zu. „Doktor Harries hat uns nur gewarnt!“
Vielleicht“, gestand der Doktor streng, „habe ich meine Warnungen nicht deutlich genug ausgesprochen. Vielleicht habe ich das alles selbst nicht ernst genug genommen. Sonst hätten wir auf die Tür geachtet. Nun ja, morgen früh sind wir schlauer.“
Alles, was sie am nächsten Morgen erfuhren, war, dass die Hunde nicht mehr lebten. Beide Hundeköpfe mit ihren hängenden Backen waren gräßlich verzerrt, und die Zungen hingen heraus, widerwärtig schwarz verfärbt.
Tjjjaaa.“ Der Doktor zog das Wort zischend in die Länge. „Ausgekocht genug, um sie bis zur Erschöpfung herumzujagen, durcheinanderzubringen und sich dann einen nach dem andern vorzunehmen. Wir müssen, solange wir Tageslicht haben, das ganze Haus äußerst gründlich durchsuchen. Und zwar Raum für Raum.“
Hunde nützen hier nichts“, konstatierte Jimmy. „Ich werde in die Stadt gehen und einen Wachmann engagieren. Und ihn, bei Gott, mit einer Wagenladung Taschenlampen ausstaffieren. Und mit einem MG.“

11.

Jimmy kehrte spät zurück. „Ich hatte verdammte Mühe, jemanden zu finden, der den Job annehmen wollte! 'Nicht auf Dockbridge Manor!', sagten die meisten, mit hervorgequollenen Augen. Wieso nicht? 'Weil es verflucht ist'. Keine geisterhaften Verwandten des alten Geschlechts gehen da angeblich um, nein, 'schwarze Dinger', und es gäbe Skelette toter Männer unterm Haus, so die Legende, und jeder verdammte Bauerntölpel der Gegend macht sich vor Angst in die Hosen. Aber ich hab letztendlich einen guten Typen ergattert. War Wachmann im Whitehaven-Gefängnis, sagt er, und er würde auch einen Friedhof bewachen, wenn er gut bezahlt wird. Habt ihr hier inzwischen irgendwas gefunden?“
Dr. Harries schüttelte seinen Kopf. „Nichts, das uns wirklich weiterbringen würde; wir haben uns wahrscheinlich bei der Suche nur noch verrückter gemacht, und genützt hat sie kaum etwas. Dutzendweise Rattenlöcher in dunklen Ecken hinter Wandschränken und Küchenregalen. Manche davon groß genug für eine Katze. Jetzt, wo sich herausstellt, dass Hunde nutzlos sind, wünschte ich, dass wir eine Katze hätten – eine große, meine ich, einen Leoparden etwa – ein Jagd-Tier, das auch im Dunklen sehen kann...“ -
Es war fast so etwas wie eine Erleichterung nach all der Ungewißheit, als die Männer in der folgenden Nacht von Eulas Schreien im nächsten Raum wach wurden. Hineinstürzend, fanden sie sie hysterisch weinend in Mrs. Medfords Armen. Mrs. Medford orakelte: „Diesmal hat sie es gesehen! Ich habe friedlich wie ein Baby geschlafen, als ich wach wurde und sie kreischen hörte: 'Da, da ist ist sie!' und ich frag: 'Wo, wo denn?', aber was immer sie gesehen hat, war zu schrecklich, und da ist sie durchgedreht...“
Eula fiel Jimmy um den Hals. „Bing mich hier weg!“ stöhnte sie. „Oh, bring mich weg hier, vor diesem schrecklichen Ort!“
Alles was er dazu sagen konnte, war: „Ich könnte dich hier wegbringen. Aber bei mir hätte es keinen Zweck, davonzulaufen. Wir wissen, dass es uns immer weiter verfolgen kann, ohne müde zu werden. Wir müssen hier ausharren! Das stimmt doch, Doktor?“
Ich fürchte ja. Flucht würde die Sache nur in die Länge ziehen, und hier kennen wir wenigstens die Bedingungen. Wir müssen es hier durchstehen -
und da wir nicht wissen, wie man seine Kräfte neutralisiert, muss es vernichtet werden. Hoffen wir, dass es zerstörbar ist. - Versuchen Sie uns zu erzählen, was Sie gesehen haben!“
Eula zeigte bebend zum Fenster. „ Da draußen... Ich konnte nicht schlafen...natürlich nicht... und vom Bett aus konnte ich die Silhouette dieser Äste sehen. Und plötzlich war es da! Diese Augen! Es hat boshafte kleine rote Augen. Es saß auf einem Zweig und wartete.“
Verwirrt sah der Doktor Jimmy an.
Diese Regenschirmfrau“ erinnerte ihn Jimmy. „Auch sie sah die roten Augen. Eng, wie bei einer Spinne, und alle Welt hat das Ding ja auch für eine Spinne gehalten. Jedenfalls hat es einen ekelhaften Ring an einem Finger. Ich dachte, ich hätte Ihnen davon erzählt – eine schwarze flache Scheibe mit zwei roten Steinen.“
Hm... ich frage mich...Ich frage mich, ob das der Schwarze Spiegel und die Roten Augen des Anubis sein könnten...“
Was sind die Roten Augen des Anubis?“
Aber nein.“ Der Doktor verwarf die Theorie. „Das ist alte ägyptische Magie von schrecklicher Stärke. Das trifft hier nicht zu... Das hier ist schwarzer normannischer Haß – die Geschichte der Hand hat es klar genug bewiesen. Und Sie, meine Liebe, müssen versuchen, noch etwas Schlaf zu bekommen. Wir können uns keinen weiteren Nervenzusammenbruch in dieser alles entscheidenden Zeitspanne leisten. Lassen Sie Ihre Tür offen. Jimmy und ich werden uns mit der Wache abwechseln.“
Ich schätze“, grollte Jimmy, „Wir können diesem idiotischen Wachmann keine Schuld geben – wie soll er so etwas Flüchtiges wie eine Ratte ausmachen, die auf einen Baum klettert? A propos klettern – sie könnte die Distanz doch nicht gesprungen sein, oder?“
Sechs Meter hoch? Sehr unwahrscheinlich. Na jedenfalls, an unserem Zimmerfenster steht kein Baum. - Irgendwelche Präferenzen, was Ihre Schicht angeht?“
Ich nehme die erste“ beschloß Jimmy. „Ich könnte sowieso nicht schlafen – selbst unter Drogen nicht... Ich werde mir eine Pfeife anzünden und wachbleiben. Ich denke, wir können nun wirklich endgültig ausschließen, dass das Ding, wie Sie neulich schrecklicherweise vorgeschlagen haben, freundlich gesinnt ist. Es ist auf Rache aus.“
Ich fürchte ja. Ich fürchte es sogar sehr. Also – riskieren Sie es nicht, auch nicht für eine Sekunde, einzunicken! Wecken Sie mich, wenn Sie irgendwas hören.“
Dazu hatte Jimmy nur allzu bald Gelegenheit. Der Doktor gehörte zu den Menschen, die die Fähigkeit besitzen, sofort hellwach zu sein. „Was gibt’s?“
Da ist ein kratzendes Geräusch im Efeu draußen unterm Fenster!“ flüsterte Jimmy.
Doktor Harries' Antworet war laut. „Ich wünschte, wir könnten so tun, als wenn es Ratten wären. Oder ein Einbrecher. - Es scheint nicht sehr ängstlich zu sein. Klingt so, als hätte es inzwischen die Fensterbank erreicht... Licht! Um Himmels willen, schnell! Licht!“
Die altmodische Glühlampe an der Decke leuchte zwar den Raum aus, erreichte aber nicht die Außenwelt. Mir demselben Impuls griffen die beiden Männer nach ihren Waffen, rannten zum Fenster und lenken die Strahlen ihrer starken Taschenlampen durchs Fensterglas.
Was immer auch dort entlang gekrabbelt war, war flink genug gewesen, um rechtzeitig zu verschwinden. Jimmy riß das Fenster auf, noch bevor der Doktor schreien konnte: „Nein! Großer Gott, nicht!!“ Der helle Lampenschein enthüllte nichts. Nur ein Rückzugs-Geraschel ertönte aus dem Efeu.
Ha!“ Der Dokor wirkte etwas befriedigt. „Wie ich mir gedacht habe. Es existiert am liebsten im Dunkeln. Licht ist bis zu einem gewissen Grad eine Verteidigungsmöglichkeit.“
Schauen Sie!“ Jimmy flüsterte wieder, ziemlich heiser. Er hatte den Strahl seine Lampe auf das Fensterbrett gerichtet.
Dort, im Staub, war ein Abdruck! Der Abdruck einer Hand! Der Abdruck von langen verdrehten Fingern und einer Handfläche – und dünne Kratzer von ungeschnittenen Nägeln.
Von unten blitzte plötzlich der Strahl einer weiteren Taschenlampe auf. Die undeutlichen Umrisse des Wachmanns waren dahinter zu erkennen. „Alles o.k.?“ rief er.
Wissen wir nicht!“ antwortete der Doktor schnell, bevor Jimmy die gräßliche Entdeckung hinausposaunen und den Mann trotz seiner vorgeblichen Tapferkeit verschrecken konnte. „Wir haben etwas im Efeu gehört. Sollten Sie es auch hören – stellen Sie keine Fragen! Schießen sie sofort auf das Geräusch!“
Will ich gern machen, Sir. Aber das Efeuzeug ist ein guter Ort für allerlei Ungeziefer, Ratten und Spatzen und was weiß ich alles, hier mitten auf dem Land.“
Tja, wie es aussieht“ seufzte Doktor Harries, „ist so ein Wachmann hier genauso unnütz wie ein Hund.“ Energisch schloß er das Fenster.
Wieso hat...“ Jimmy konnte sich das ehrfürchtige Flüstern nicht abgewöhnen. Etwas weigerte sich in ihm, in dieser turbulenten Nacht normal zu sprechen. „Wieso hat es nicht das Glas zerbrochen und ist hier hereingesprungen? Es konnte damals doch auch das Ladenfenster zertrümmern.“
Ich weiß nicht recht...“ Doktor Harries zog die Augenbrauen zusammen. „Das waren damals kleine Bleifenster, oder? Könnte es sein, dass es weiß, dass wir bewaffnet sind und dass wir es – desintegrieren können? Oder könnte es sein...das wäre doch immerhin möglich... dass die kalten Eisenstäbe an den Fenstern... Wir wissen so wenig. Wirklich, wie wenig wissen wir über die Dunklen Mächte! Wir wissen nur eins – das Ding hat tödliche Kräfte.“
Die Hand eines Toten!“ murmelte Jimmy, seine Augen starrten ins Nichts. „Aufgeladen mit Haß! Fähig zu krabbeln! Fähig zu rennen! Fähig – zu würgen...!“
He, he!“ Der Doktor packte und schüttelte ihn. „Reißen Sie sich zusammen! Wenn Sie zulassen, dass Ihre Nerven schlappmachen, sind Sie verloren! Sehen Sie denn nicht, dass die Hand genau das versucht zu erreichen? Wie bei den Hunden – erst macht sie Sie konfus und hysterisch...und dann... Kommen Sie, lassen Sie sich nicht gehen!“
Puuh!“ Jimmy stieß einen langen Seufzer aus und schüttelte seinen Kopf. „Die ganze Sache ist nur so schrecklich ekelhaft! Ein bösartiges Ding von der dunklen Seite der Welt...mit allen Vorteilen auf seiner Seite...“
Nicht mit allen“, ermutigte der Doktor ihn. „Wir haben zum Beispiel das Licht auf unserer Seite. Sogar Taschenlampen helfen. Keine Ahnung, warum das so ist. Es scheint so, dass eben die dunklen Mächte eben auch am besten im Dunkeln funktionieren. Was natürlich auch ein Grund dafür ist, dass wir sie so fürchten.“
Jimmy schüttelte sich, um die Anspannung seiner Nerven, die sich durch die ständige Angst wie Drahtseile anfühlten, zu lockern. „Da haben Sie verdammt recht, Doc. Und wir werden nicht aufgeben. Was ist mit dem Wachmann da unten? Sollten wir ihm nicht einen Hinweis geben? Könnten wir nicht zumindest andeuten, mit welcher Art von Bedrohung wir es zu tun haben?“
Vor allem, mit welcher Art von Bedrohung er zu rechnen hat. Falls das Ding an ihm hochkrabbelt, ohne daß er weiß...“
Ich sags ihm gleich morgen früh“, seufzte Jimmy. „Bevor er nach Hause geht. Ich hoffe, er kommt danach wieder her!“

12.

Er sagte es dem Wachmann nicht gleich am Morgen. Weil da nämlich kein Wachmann mehr war. Ein widerliches Gefühl der Frucht ließ Jimmys Körperhaare sich kerzengrade aufrichten, als er das Grundstück durchstreifte, immer in der Erwartung, einen schlaffen Körper mit schwarzem Gesicht irgendwo unter einem Busch oder einer dunklen Ecke mit zerbröselndem Mauerwerk zu finden. Er entdeckte Fußspuren. Keine (Gott sei Dank!) Handspuren. Große plattfüßige Stiefelspuren. Der Mann war hier wacker auf- und abpatrouilliert. Und doch war er vollkommen verschwunden.
Also – dieses Teufelsding kann doch keinen Mann komplett dematerialisieren, oder?“ fragte Jimmy den Experten, als er mit ihm und Eula die Tagesplanung besprach. „Oder gibt’s da etwas, das wir dringend wissen sollten?“
Der Doktor schüttelte den Kopf. „Neinnein. Ich bin mir sicher, die Gefahr ist ganz und gar physischer Natur.“
Ich vermute mal, er hat das Viech gesehen und ist nach Amerika emigriert.“
In diesem Moment tauchte Mrs. Medford aus dem Nichts auf und sprach ihr legendäres „Ahhh!“. Und fügte hinzu: „Schauen Sie in den Kartoffelkeller!“
Oh nein!“ Das kam von allen dreien gleichzeitig. „Nicht schon wieder eine von Ihren Horror-Visionen!“
Keineswegs, Sirs und Madam. Aber ich kenne diese Wachmann-Typen. Ich wette, er ist in den Kartoffelkeller gegangen, um nach einem kühlen Bier zu suchen. Die meisten Leute in dieser Gegend sind ständig auf der Suche nach Bier und benehmen sich deswegen oft etwas – ähem - irregulär. Warum sonst hätte er seinen guten Job am Gefängnis aufgeben müssen? Können Sie mir das verraten?“
Ich geh runter“, verkündete Jimmy in das Schweigen hinein.
Sei bloß vorsichtig!“ rief Eula erschrocken.
Einen Moment noch!“ wiegelte der Doktor ab. „Mir kommt da eine Idee...ich muß dringend etwas in diesen alten Schwarten nachschlagen...es wird nicht lange dauern.“
Doch Jimmy war zu angespannt und ungeduldig. „Ich werde meinen kleinen 'Disintegrator' mitnehmen“!, verkündete er grimmig. „Und eine Taschenlampe. Ich habe selbst eine Idee, und außerdem kann es sein, dass der Mann dringend Hilfe braucht.“
Schön! Wenn Sie irgendetwas finden, rufen Sie“, gab der Doktor nach, offensichtlich zwischen Forschungs- und Tatendrang hin- und hergerissen.
Tatsächlich entdeckte Jimmy flache Stiefelspuren, die direkt in den Keller führten. Als sie dem Eingang näher kamen, waren nur noch die Zehenspitzen zu sehen. Die große Tür stand offen. Jimmy starrte die abgenutzten schleimigen Stufen hinunter. Er rief. Lauschte hoffnungsvoll auf den Atem eines Betrunkenen. Die einzige Antwort war das langsame mahlende Knarzen der Tür während einer Windböe. Es erinnerte ihn an ein altes Horror-Hörspiel. Fluchend klemmte er einen Pflasterstein unter die Leiste. Sich vorlehnend, sah er die Stiefelspitze auf der schlammigen Schwelle und, logischerweise, auch auf der ersten Stufe. „Idiot!“ grummelte er und stieg behutsam hinab, vorsichtig die glitschigen abgeschabten Steinplatten sondierend.
Nichts war im Keller. Es war derselbe düstere feuchte Ort, den er das letzte Mal gesehen hatte, säuerlich riechend, allerdings nicht nach schalem Bier, sondern gehortetem Gemüse. Diesmal feuerte er nicht hysterisch auf raschelnde Ratten. Er ließ den Strahl seiner Taschenlampe langsam über die Tonnen und die dunklen Lücken dazwischen gleiten. Nichts.
Oder doch? Da war noch eine weitere Tür. Grün in der moosigen Mauer, so dass er sie fast übersehen hätte. Der Schein der Lampe hätte sie wohl selbst kaum enthüllt, wären ihm nicht die helleren Reflexionen an Schwelle und Scharnieren aufgefallen. Jimmy trat näher. Und wahrhaftig – das schwammige Grünzeug war an diversen Stellen mit einem stumpfen Gegenstand weggekratzt worden, als ob jemand es von den uralten verwachsenen Trümmern befreien und die Öffnung freilegen wollte. Und da, auf der Schwelle, lag das Werkzeug – das splitterige Fragment einer Holzlatte, vermutlich von einer Laube draußen im Garten.
Ich frage mich...“ murmelte Jimmy laut vor sich hin, „ich frage mich, ob er gedacht hat, dass das Ding hier drin ist...?“
Ein grünspanverfärbter Messing-Türknauf zog seine Hand magisch an. Mit Leichtigkeit konnte der Tür zu sich aufziehen. Drinnen herrschte klamme Dunkelheit. Er stand unentschlossen im Türrahmen und leuchtete mit seiner Lampe hierhin und dahin. Auch dort standen wieder Tonnen herum – oder genauer gesagt, es gab jede Menge Eichenregale, und in den Eichenregalen befanden sich Eichentonnen. Ungewöhnlich lange schmale Eichentonnen. Eher Eichenkästen...
Eine vage Ahnung davon, was das hier wohl für eine Art „Lager“ sein mochte, kroch Jimmy den Rücken ins Hirn hinauf. Seine Nase kräuselte sich, unsicher schnüffelnd, als er sah, dass von einem der Kästen der Deckel seitlich-schief herunterhing. Der weißliche Schein, der durch den Schlitz im Strahl der Lampe reflektiert wurde, konnte nichts anderes sein als ein Knochen.
Alter Schwede -Eine Krypta!“ Jimmys natürlicher Impuls ließ ihn zurücktaumeln. Dabei huschte sein Lampenlicht über einen Körper am Boden. Kein Skelett. Die zusammengekrümmte Gestalt war unverkennbar der Wachmann!
Der rauhe Ärmel des Wächters bewegte sich schwach.
Oh Gott!“ Jimmy stürzte hin und beugte sich hinunter, um ihn aufzurichten. Er war schwer. Er rief über seine Schulter: „Hilfe! Ich hab ihn gefunden!“
Eine auffrischende Böe mußte seine Stimme verweht haben. Wumm! Ein Windstoß hatte innere Tür zufallen lassen, schnitt das Dämmerlicht ab und ließ Jimmy nur mit dem dünnen Strahl seiner Taschenlampe in pechschwarzer Finsternis zurück.
Er fluchte. Sein Blut gefror in den Adern. War das wirklich ein Windstoß gewesen? Er hatte keine Zugluft gefühlt. Er mußte den Mann unbedingt so schnell wie möglich hier herausschaffen. In einer Krypta zu stehen war zu schon gruselig genug. Aber in ihr einen bewußtlosen Wachmann zu finden -entweder verwundet oder stockbetrunken – wäre wohl ein Schock für jedermanns Nerven gewesen. Und in einem Leichenhaus eingeschlossen zu sein, abgeschnitten von Licht und Ventilation, das war... Jimmy konnte seinen Mut nur ,it hilfe von kräftigen Schimpftiraden aufrechterhalten.
Seine Lampe auf Permanent-Licht gestellt, beugte er sich erneut angewidert und in panischer Hast hinab, um dem Mann aufzuhelfen. Mit seiner abgesägten Flinte in der Armbeuge war es allerdings schwierig, ein so unhandliches steifes Ding in den Griff zu bekommen. Und plötzlich dämmerte ihm die Bedeutung dessen, was er da fühlte. Der Mann war steif! Totensteif!
Wie hatte sich dann sein Ärmel bewegen können? Jimmy schrie erneut um Hilfe. Vergeblich.
Und in diesem Moment schmetterte ihm ein knochenhartes Etwas die Lampe aus der Hand. Wie in Zeitlupe konnte er den kreiselnden Lichtbogen in der Luft sehen, dann schlug sie klirrend in einer Ecke auf und erlosch.
Jimmys Atem produzierte ein quiekendes Stöhnen. Sein Magen sackte eine Etage tiefer, sein Blutkreislauf schien zu stocken. Dichteste Schwärze und tiefste Stille umflossen ihn. Mit butterweichen Knien sank er auf den Boden, hinab zu dem Körper, den er versucht hatte zu retten. Sogar dieser Rest eines Menschen war ihm ein Trost in diesem Moment. In der Dunkelheit konnte er nur schwach die geisterhaft-grünlichen Nachbilder der Lichtbogen erkennen, die die fliegende Lampe auf seiner Netzhaut zurückgelassen hatte. Sie schienen das einzige Zeichen dafür zu sein, dass seine Sinnesorgane überhaupt noch funktionierten. Oder doch nicht? Eins schien jedenfalls nicht versagt zu haben – sein Gehör. Er lauschte verängstigt. Er konnte seinen Puls hören – wie einen hartnäckigen, nutzlosen kleinen Gummihammer. Also hatte der Schock ihn nicht taub gemacht.
Er mußte sich bewegen!
Er schob sich von dem Kadaver weg, auf dem er gelegen hatte und robbte in Richtung Tür. Ein Schlag traf ihn ins Gesicht und ließ ihn benommen zurückwanken. Ausnahmsweise fluchte er nicht und segnete dankbar den Schmerz. Was ihn getroffen hatte, war faulig-feucht, es war die Ecke einer der alten Särge gewesen. Das brachte ihm seine Orientierung zurück, zumindest kannte er nun wieder die Richtung zum Ausgang.
Er krachte gegen die Tür. Das musste sie jedenfalls sein...Seine Hände fummelten verzweifelt herum und fanden schließlich die feuchten Rahmen, die geraden Linien der Pfosten. Er tastete in fliegender Hast auf jeder Seite die Fugen ab. Verbissen, immer wieder, rundherum.
Es gab keinen Knauf an der Innenseite!
Jimmy ließ sich schlaff gegen die Tür fallen. Er konnte fühlen, wie seine Knie sich gegen sie drückten und seine Brust langsam an den schleimigen Brettern nach unten rutschte.
Ein schreckliches Geräusch schreckte ihn alarmiert hoch. Ein Geräusch, das, für sich genommen, gewöhnlich und harmlos war. Nur hier drinnen war es entsetzlich.
Ein verstohlenes Rascheln.
Es kaum aus der greulichen Kiste mit dem halboffenen Deckel. Es war das Kratzen knochiger Finger mit zugespitzten Nägeln.
Jimmys Atem kehrte zurück mit einem absurd klingendem „whhoooohh“! Und aus der tiefen Finsternis heraus feuerte er auf das Geräusch.
Erneut Totenstille.
Eine winzige verzweifelte Hoffnung erhob ihr Haupt in ihm. Konnte es vielleicht sein, das es in dieser schwarzen Hölle einen gnadenvollen Gott gab und sein Schuß das „desintegriert“ hatte, (kein anderes Wort wollte ihm grade einfallen), was auch immer dies Geräusch hervorgerufen hatte? Jimmys verängstigtes Bewußtsein weigerte sich, dem „Ding“ den Namen zu geben, den es im Grunde nur zu gut kannte.
Und dann schrak sein ganzes Selbst nochmals heftig zusammen beim Geräusch kratzender Fingernägel. Nein, das waren keine Ratten. Ratten klangen auf keinen Fall so. Ratten tappelten mit weichen Pfoten. Sie huschten harmlos hin und her. Sie quiekten fröhlich. Ratten waren freundliche, warmherzige Mitbewohner menschlicher Behausungen. Sie waren...
Plop! Das Krabbelgeräusch verlagerte sich auf den feuchten Boden. Jimmy feuerte wie wahnsinnig in diese Richung. Lauschte angespannt. Seine Sinne nahmen schockierend klar die qualmverseuchte Luft wahr. Reflektierten schockierend klar, dass er das Pulver zum letzen Mal roch. Das eben war seine letzte effektive Verteidigung gewesen. Keine abgesägte Schrotflinte der Welt konnte öfter als zweimal abgefeuert werden. Und eigentlich waren mehr als zwei Schüsse auch nicht nötig bei solch einer Waffe. Jedenfalls nicht, wenn man sie gegen einen Feind von dieser Welt richtete.
Und dann kreischte Jimmy auf. Sämtlicher Atem entwich seinen Lungen, als er spürte, wie plötzlich etwas außen an seinem Hosenbein heraufkrabbelte, über seinen Rücken huschte und dann mit kalter Brutalität auf seine Kehle zusprang, um sie zu zermalmen!
Jimmy riß aus Leibeskräften an dem Ding. Auch nicht das klitzekleinste bißchen Hoffnung auf Gottes Gnade war in ihm verblieben. Das war ES! Vertrocknetes Fleisch, abstoßend drahtiges Haar und überlange Nägel! Sie rissen an Jimmys Hals mit manischem Haß.
Jimmy gelang es, mit all der Kraft seiner beiden Hände den Griff um ein Geringes zu lösen, um wenigstens die Luft in den Lungen zu ersetzen, die sein langgezogener Schrei hinausgepresst hatte. Das Ding, agiler als jede Ratte, ließ kurz von seiner Kehle ab, wand sich los, verschwand in der Dunkelheit, um Sekunden später erneut aus dem schwarzen Nichts heraus seinen Hals von hinten anzugreifen. Erneut zog es sich zurück, um mit furchtbarer Wucht in Jimmys Gesicht zu klatschen. Allerdings schien es von der modernen Technik, mit einem Kinnhaken den Gegner auszuknocken, keine Ahnung zu haben. Es zielte wahllos auf jeden Teil des Kopfes. So schnell wie die Angriffe aus der Finsternis kamen, war es Jimmy unmöglich, sie abzuwehren. Jeglicher Vorteil lag bei dem personifiziertem angestauten Haß, dem grausigen Wesen, das sich im Dunklen orientieren konnte. Das Ding konnte anscheinend einen Mann ganz nach seinem rachlustigen Gutdünken zusammenschlagen.
Mit Armen und Ellbogen , wie ein bereits geschlagener Boxer, versuchte Jimmy fuchtelnd sein Gesicht zu schützen. Dann war das Ding wieder an seiner Kehle, als ob es wußte, dass sein Opfer von den Schlägen und dem Qualm der Schüsse zu benommen war, um sich noch lange zu wehren.
Jimmys äußerste Verzweiflung gab ihm die Kraft, die mumifizeirte Hand abermals von der Kehle wegzureißen. Er konnte spüren, wie das Blut seinen Hals hinunterlief. Und das Ding, das keine Pause brauchte, hämmerte erneut auf sein Gesicht ein. Es flog durch die Luft, es schien von überall zu kommen und Schläge gegen seine Schultern, seine Arme, ja sogar gegen seine Brust auszuteilen, auf jeden Platz, den es mit einem Sprung erreichen konnte. Plötzlich verfehlte es einen Hieb. Sein eigener gewaltiger Schwung beförderte es mit hohlem Ploppen gegen einen Sarg. Es klatschte auf den Boden.
Mit wilder Hoffnung sprang Jimmy drauflos, beide Füße geschlossen, um es mit einem Satz zu zerquetschen. Daneben! Und da war es wieder, kletterte sein Hosenbein hinauf, ein teuflisches Insekt der Finsternis, voll boshafter Vitalität, überbordend mit dem Willen zu töten. Jimmys Beine stolperten über das andere tote Ding im Raum – die Leiche. Deren steife Gliedmaßen ließen ihn straucheln. Er fiel. In selben Augenblick fühlte er krabbelde Finger auf seiner Brust. Sein panischer Griff fing es diesmal ab. Mit wenig Effekt. Die Kraft der Hand war so gewaltig, dass es ihr gelang, Jimmys eigene Hände an den Hals zu legen. Tote Finger zwangen lebende ins Fleisch. Benommen glaubte Jimmy, Stimmen und Gehämmer an der Tür zu hören.
Das flößte ihm neuen verzweifelten Mut ein. Er wrang das Ding abermals von sich los. Er wußte, daß er mit den Krallen auch eigenes Fleisch mitriß. Die Monstrosität wand sich aus seinen Händen. Jimmy versuchte, von ihr wegzurollen. Schlechter Plan. Auf dem Boden konnte die Hand jeden erdenklichen Punkt wählen, um ihn erneut wirkungsvoll anzuspringen. Jimmy quälte sich hoch auf die Knie. Dann war es wieder soweit – ein neuer Spung an die Kehle. Seine überspannten Nerven ließen Lichtblitze vor seinen Augen tanzen...
Doch dann gab das Biest ihn plötzlich auf. Jimmy war in der Lage, ein paar lebensrettende Atemzüge zu machen und wild mit den Armen zu fuchteln. War es möglich, dass solch ein Geschöpf sich von so etwas Weichem wie einer menschlichen Faust für einen Moment aufhalten ließ...?
Nein - es waren nicht seine Fäuste, die das Ding zum Rückzug zwangen. Die Lichtblitze explodierten nicht in seinem Kopf. Sie waren real. Grelle Strahlen von Taschenlampen... Der Doktor versuchte, Jimmy dazu zu bringen, seine ziellosen hysterischen Schläge aufzugeben. Er mühte sich damit ab, ihm aufzuhelfen und wurde dabei von Eula behindert, die sich heftig schluchzend auf Jimmy geworfen hatte. Der Doktor gab ihr eine Ohrfeige. „Kommen Sie zu sich! Fassen Sie mit an! Dieser Ort ist verseucht mit den Ausdünstungen aller möglichen höllischen Dinge!“
Jimmy war in der Lage zu krächzen: „Paßt auf! Es ist hier! Es kommt von überall!“ Eula produzierte in ihrer Hysterie abgerissene Quieker. Zusammen zogen die beiden Jimmy aus der Krypta. Der Doktor trat mit dem Fuß die Tür ins Schloß – absurderweise, denn sie hatten vorher die Füllung herausgetreten. So schnell sie konnten, rutschend und sich an den Wänden anklammernd, zerrten sie ihn über die schleimigen grünen Stufen hinauf ans gesegnete Tageslicht. Auch oben schlug der Doktor die Tür zu.

13.

Es war Mrs. Medford, die zuerst den Mut aufbrachte vorzuschlagen, zurückzugehen. Nachdem Jimmy gesäubert, sein Hals verbunden war und ein hochprozentiger Aufmunterer die Runde machte, den nur Mrs. Medford ablehnte, erwog sie laut diesen Gedanken.
Jetzt nach dem Kampf ist es so schwach, wie es später vielleicht nie wieder sein wird. Licht, sagen Sie, erschreckt es. Wenn es überhaupt zerstört werden kann, dann jetzt.“
Der Doktor blickte versonnen auf diese außergewöhnliche Frau. Dann begann er langsam zu nicken. Auch Jimmy nickte mit verkniffenen Lippen. Selbst Eula schlug die Hände vors Gesicht – und nickte.
Und so kehrten sie zurück – mitsamt der abgesägten Schrotflinte und einer Taschenlampe für jeden. Die äußere Tür zum Keller war immer noch geschlossen. Die innere war zerbrochen – so, wie sie sie verlassen hatten.
Sie ziehen sie auf!“ befahl der Doktor Jimmy. „Ich stehe bereit – mit der Flinte!“
Innerhalb der Krypta bewegte sich nichts. Die Lampenstrahlen enthüllten nur die schmierigen Pfützen, in denen Jimmy sich gewälzt hatte. Pfützen - und eingekerbte Kratzer von Fingernägeln. Aus Jimmys Kehre röchelte ein gequältes Stöhnen der Erinnerung, und er ließ seinen Lichtstrahl zum Sarg hinaufwandern. Der weiße Knochen, den er schon vorher dort gesehen hatte, befand sich noch an Ort und Stelle – im Spalt zwischen Sarg und Deckel.
Eula schrie. Der Doktor erhob das Gewehr, um es gleich wieder sinken zu lassen. Dann pfiff er erstaunt. Mrs. Medford trompetete: „Aaah! Ich hätte es wissen müssen!“
Das weiße Ding war ein Armknochen – an dem die Hand fehlte!
Der Doktor sah die anderen mit runden Augen an. Er zeigte mit dem Finger auf den Sarg und flüsterte: „Es ist da drin! Genau da, wo es hingehört!“
So leise wie möglich, als handle es sich darum, eine giftige Schlange zu fangen, reichte er Jimmy sein Gewehr. Dann rannte er auf den Sarg zu, schob den Knochenarm hinein und zerrte den Deckel auf seinen Platz zurück.
Helft mir!“, rief er aufgeregt, „helft mir, es drinnen zu halten! Wir wissen nicht, wie stark es ist!“
Alle zusammen, ihre Abscheu überwindend, packten sie den langen hölzernen Kasten.
Licht!“, keuchte Dr. Harries. „Raus ins Sonnenlicht!“
Tollpatschig, ständig einer dem andern im Weg, verzweifelt den Deckel niederhaltend, zogen und schoben sie den Sarg aus dem Regal. Schleiften ihn die feuchten Stufen hinauf und stellten ihn in die warme Sommersonne.
Dann, mit erstaunlicher Courage, wuchtete der Doktor sein ganzes Gewicht auf den Sarg. Er winkte Jimmy, sich zu ihm zu gesellen. Winkte Eula. Sie kam, zog es aber vor, nicht direkt auf dem Sarg zu sitzen, sondern auf Jimmys Schoß.
Mrs Medford dröhnte: „So, nun haben Sie es also gefangen. Vielleicht können Sie uns nun auch verraten, sie Sie es schaffen wollen, dass es gefangen bleibt!“
Des Doktors Blick verschwamm, er kramte gedanklich in den Archiven seines dunklen Wissens.
Keine Ahnung!“, gab er zu. „Ich gehe mal davon aus, dass es fürs Erste im prallen Sonnenlicht keinen Versuch machen wird, auszubrechen. Lassen Sie mich nachdenken... Mein unmittelbarer Gedanke ist – Nägel. Eisennägel. Bestimmt weiß Mrs. Medford, wo welche sind. Ach übrigens, das wäre mein zweiter Gedanke – was ist eigentlich mit dem unglücklichen Wachmann passiert?“
Das können wir nur vermuten“, meinte Jimmy. „Ich schätze, er sah etwas und schlich hinterher, und dann, dort unten...“ Er schauderte in der warmen Sonne, und seine Finger berührten vorsichtig seinen Hals.
Ja, wahrscheinlich war es so. Wir müssen ihn da rausholen und die Behörden informieren.“
Mrs. Medford kam mit Hammer und Nägeln zurück. „Nicht daß Sie es lange aufhalten werden. Nicht nach Anbruch der Dunkelheit.“
Nein...Wir müssen uns etwas Besseres einfallen lassen.“
Eula, mit gekräuselter Nase, sah mit rachsüchtiger Genugtuung zu, wie der Doktor den Deckel zunagelte. Plötzlich wies sie auf eine Stelle, wo seine Hand den grauen Schimmel beiseitegewischt hatte.
Sehrt nur! Er war es wirklich! Ohne Zweifel!“
Verblichene gotische Buchstaben waren sichtbar geworden:
B-n-t d- Ceinture“.
Ja, stimmte Doktor Harries zu. „Das hier wäre ein unschätzbares Museumsstück! Aber je länger ich darüber nachdenke, desto sicherer bin ich, daß Licht die teuflische Macht zerstören würde... Moment mal...Licht... Feuer! Warum verbrennen wir es nicht? Gleich jetzt auf der Stelle?“
Hier liegt weiß Gott genug altes Baugerümpel herum!“ Jimmy, ohne den Vorschlag auch nur im geringsten in Frage zu stellen, begann hölzerne Bruchstücke einzusammeln. Eula half ihm mit entschlossenem Enthusiasmus. „Das einzige, das ich an diesem baufälligen Kasten wirklich schätze“, murmelte sie, „ist sein Riesenvorrat an Brennholz.“
Bald hatten sie im hellen Sonnenschein einen Scheiterhaufen errichtet, auf den sie den grauen, vermoderten Sarg hievten. Eula zündete ihn grimmig an, und sie traten zurück.
Die trockenen Trümmer flammten auf wie Zunder und verwandelten sich schnell in einen rot leuchtenden Hochofen, in dessen Mitte der Sarg zu qualmen begann. Bald begannen die Seiten aufzureißen, und lange Feuerzungen fraßen sich weiter an den Bruchlinen entlang, die fauligen Eingeweide des Kastens gierig verschlingend. Eula schlug plötzlich die Hände vor die Augen und schrie. Mit wilder Genugtuung sah Jimmy die graue spinnenhafte Schreckenskreatur durch die brennende Seite brechen, in der Glut gräßlich zappeln und dann erstarren.
Still, mit aufeinandergepressten Lippen, alle Nerven angespannt, sah er zu, wie die grauen Finger sich schwarz verfärbten, dann zusammenkrümmten, rot aufglühen, um schließlich in kleinen blauen Flämmchen zu vergehen.
Tja“ sagte der Doktor. „Das wars dann wohl.“
Jimmy legte seinen Arm um Eula. „Auf jeden Fall“, meinte er, „beweist das Ganze doch eins: Unsere Linie ist die respektable Linie. Das Ding kroch damals in meine Tasche, um sich zu rächen. Komisch, dass ich ausgerechnet in den Laden gegangen bin, in dem es die ganzen Jahre über herumlag. Aber was machen wir jetzt daraus? Wie sprechen wir unseren Namen aus? Duck? D'Auk?“
Eula stieß ihn von sich. „Ich will nichts mehr mit der Vergangenheit deiner Familie zu tun haben!“
Aber...meinst du...du willst doch nicht...“
Wir heißen so, wie du jetzt heißt! Neumodisches Amerikanisch ist mir nach dieser Geschichte grade recht.“
Okie-Duckie“ gab Jimmy nach, und zum erstenmal seit langem brachte er wieder so etwas wie ein Grinsen zustande. „Ich frage mich nur, wie wir das Dad beibringen...“

Gordon MacCreagh:
Hand of St. Ury
Weird Tales 1951/01
Übersetzung © 2018/19













Laurence Kirk: Dr. Macbeth (1940)

Heute möchte man es kaum noch glauben: Die „Cosmopolitan“ war mal ein richtig gutes Literaturmagazin! Bereits im 19. Jahrhundert gegründe...