Wohl
kein anderes weltberühmtes Magazin ist in großen Teilen so
unbekannt und verkannt geblieben wie Weird Tales (1923-54), ein
amerikanisches Blatt, das sich auf beträchtlichem literarischem
Niveau über dreißig Jahre lang ganz der bizarren Erzählung in
allen Spielarten widmete. Die späten Jahrgänge der Zeitschrift von
1940-54 haben ihren schlechten Ruf paradoxerweise ausgerechnet den
H.-P.-Lovecraft-Fans zu verdanken. Seit der Lovecraft-Kult blüht,
ist seine Anhängerschaft bemüht, zwischen „Weird Tales“ und ihm
gewissermaßen ein Gleichheitszeichen zu konstruieren. Deswegen wurde
lange alle Literatur in der Zeitschrift, die dem ästhetischen
Blickwinkel des großen Horror-Autors entspricht, wohlwollend
betrachtet, Anderes abgelehnt. Das Schicksal des Magazins nach seinem
Tod (1937) schien deshalb konsequenterweise zweitrangig. Dabei wurde
übersehen, dass Weird Tales viele Varianten der ungewöhnlichen und
seltsamen Erzählung pflegte, auch solche, die Lovecrafts Stil und
Weltanschaung fremd waren.
Die
Geschichte der Zeitschrift nach H.P. Lovecrafts Tod 1938-54 ist
geprägt von einer allmählichen Emanzipation von ihm – bei
gleichzeitiger Pflege seines Stils durch neue Cthulhu-Mythos-Storys
und Erstveröffentlichungen von Prosa aus seinem Nachlaß. In den
40er und 50er Jahren kommt eine neue Autorengeneration zu Wort, die
eine eigenwillige, zuweilen auch geniale neue Sicht aufs Unheimliche
und Phantstische präsentiert: Robert Bloch, Henry Kuttner, Fritz
Leiber, Ray Bradbury, Russell Wakefield, Malcolm Jameson und viele
andere liefern prägnante Beiträge. Auch mehr Frauen schreiben nun
für das Blatt, wie die hochbegabte Mary Elisabeth Counselman und die
Mark-Twain-Schülerin Dorothy Quick. Kein Wunder – ab 1940 sitzt ja
auch eine Frau auf dem Chefredakteursposten, Dorothy McIlwraith, die
erfahrene Leiterin des erfolgreichen Magazins „Short Stories“.
Nicht
allen Geschichten der späten Weird-Tales-Jahre ist ihre Qualität
sofort anzusehen. Doch grade die auf den ersten Blick halbseiden
wirkenden haben mich immer faszniert, weil in diesen Werken
Traditionelles und Klischeehaftes oft mit einem neuen modernen Touch
der Lässigkeit, ja der Ironie erzählt wird. Alte Plots der
Trivialliteratur werden aufpoliert, ihre Trivialität nun aber nicht
mehr beschönigt oder durch amibionierten Prosa-Stil abgemildert,
sondern das Material wird augenzwinkernd als das präsentiert, was es
ist: Nonsens, der nicht trotz, sondern wegen seiner haarsträubenden
Absurdität gern konsumiert wird.
Man
könnte diese Richtung als Neo-Gothic bezeichnen, irgendwo
angesiedelt zwischen Parodie, Nostalgie und Postmoderne.
Ein
schönes Beispiel ist „Die Hand von St. Ury“ von Gordon McCreagh
(1886-1953). Der war eigentlich Abenteuerschriftsteller und wandte
sich nur selten der Gruselgeschichte zu – einigemale jedoch sehr
erfolgreich und atmosphärisch, wie in „The Case of the Sinister
Shape“ (Der Fall des finsteren Schattens, Strange Tales, März
1932).
Dieses
späte Werk hier hat für mich einen gewissen Tarantino-Touch. Da ist
die schöne Idee eines rachsüchtigen Monsters, das sich Ende selbst
von seinen genervten Opfern gejagt sieht, und das hochbeinige,
herrlich verquaste pseudowissenschaftliche Okkult-Gelaber des
Geisterexperten Dr. Harries, eindeutig eine Parodie auf Dr. van
Helsing in Bram Stokers „Dracula“. Der zunächst leichtherzige
Ton der Erzählung hindert den Autor nicht, am Ende einen spannenden
und düsteren Showdown zu inszenieren.
Vielleicht
ist die Story in manchen Teilen etwas weitschweifig, doch ich habe
mich entschlossen, sie ungekürzt zu präsentieren, allein schon
deshalb, um eine typische Arbeit der späten Weird-Tales-Jahre in
Deutsch vorszustellen. Diese Periode ist – abgesehen von einigen
Erzählungen von Bradbury und Bloch - bisher hierzulande kaum
dokumentiert.
1.
Unser
junger Held, Jimmy Duck, präsentierte seine Anzeige im Büro der
Londoner Times.
GESUCHT!
EXPERTE, ERFAHREN IN DER AHNENFORSCHUNG. Mr. DUCK, HOTEL CECIL.
Das
Mädchen hinterm Schalter lächelte. Jimmy brauste sofort auf. „Mein
Vorname ist nicht
Donald!“
Die
junge Frau wirkte beleidigt. Ihr Lächeln war ein Tribut an Jimmys
Erscheinung gewesen, und er war wirklich ein gutaussehender Typ mit
seinen dunklen Haaren und ernsten Augen. Selbst der ärgerlich
verzogene Mund konnte seine Attraktivität nicht beeinträchtigen.
„Glauben
Sie, ich bin zum Spaß hier?“ fauchte er herausfordernd.
„Aber
nein!“ versicherte das Mädchen hastig. „Tausende Amerikaner
kommen hier rüber, um ihre Familiengeschichte zu erforschen.
Meistens, weil sie hoffen, einen alten Adelstitel zu finden – oder
zumindest ein Familiengespenst.“
„Ach,
so viele?“ grummelte Jimmy. „Tsiss...Antiken Familien nachjagen
...Da jage ich lieber Antiquitäten nach.“
Was
er dann auch stehenden Fußes tat.
Es
war am etwas verwunschenen Ende einer Gasse in der Nähe der
Marrowbone Road, als er auf einen ebenso verwunschenen
Kuriositätenladen stieß, der direkt aus Dickens' berühmten Roman
hätte stammen können. Mit seinem zerschrammten Ladenschild und den
dicken Spinnweben vor den Butzenscheiben war er einfach perfekt –
und im wahrsten Sinne des Wortes so, wie er im Buche stand.
„Bah!
Bestimmt künstlich!“ Jimmy hatte mal zugesehen, wie Spinnweben für
einen Hollywood-Film hergestellt wurden. „Aber sehr einladend zum
Stöbern“.
Und
genau so einen Gedankengang hatte der Besitzer wohl auch vom
Betrachter seines Ladens erwartet. Er blickte jedenfalls wenig
überrascht über den Rand seiner Brille, als Jimmy eintrat, und
krächzte rauh, aber herzlich: „Sagen Sie einfach Bescheid, wenn
etwas sehen, das Sie interessiert.“
Und
er fuhr fort, an der Sorte ausgewähltem Plunder herumzuzupfen und
herumzupolieren, den man in solch einem Laden vorzufinden erwartet.
Ein schabendes Kratzen auf einem Regalbrett über ihm ließ ihn
nervös aufblicken. „Verdammte Viecher! Soweit hoch klettern sie
normalerweise gar nicht...“
Bald
aber war er wieder in seine Tätigkeit vertieft.
Es
dauerte nicht lange, bis Jimmy einen kleinen Krug auf den Ladentisch
stellte. „Was wollen Sie für die Majolika-Keramik haben?“
Der
alte Mann wirke gnatzig, aber ehrlich. „Tja, nun, Sir, ich würde
Sie natürlich nie im Leben übers Ohr hauen wollen! Um ehrlich zu
sein, ich glaube nicht, dass das Ding echt ist. Sehen Sie hier...“
Das Schaben und Kratzen über ihnen lenkte ihn ab. „Selbst wenn ich
hundert verdammte Fallen aufstellen würd', ich würd diese
Mistviecher nicht kleinkriegen! Dachte, ich wär sie los – hab sie
nie so frech erlebt wie heut'!“ Er drehte den Krug in seiner Hand,
als einige Gegenstände über ihm heftig zu klirren begannen und ein
greuliches Ding mit einem Plop auf dem Ladentisch landete. Jimmy
schreckte angewidert mit verzerrter Miene zurück. Dieses Ding war
eine menschliche Hand! Alt und ausgedörrt, die Finger auf
ekelerregende Weise krallenartig gekrümmt, so als befände sich ihr
Besitzer im Todeskampf. Eine feine Schicht von Spinnweben umhüllte
die seltsam verdrehten Fingerspitzen. Besonders entsetzlich war ein
Ring, der am ersten Glied des verwelkten Zeigefingers rasselte und
dort nur durch die dickeren Fingerknöchel festgehalten wurde. Es
schien ein Siegelring zu sein, in dem zwei winzige rote Steine
steckten, die wie kleine böse Schlangenaugen funkelten. Als Jimmy
zurückwich, stupste der Besitzer das Ding behutsam an. „Kann auch
nicht behaupten, dass ich's besonders gerne mag, Sir. Fieses kleines
Teil, nicht?“
„Was
– was zum Teufel ist das?“ fragte Jimmy. „Ich meine, woher...“
Im Laden war es plötzlich muffig und stickig. Er zog seinen Mantel
aus und legte ihn über den Tresen. „Wo in aller Welt haben Sie
sowas aufgetrieben?“
„Das
ist angeblich die Hand von Saint Ury, Sir! Keine Ahnung, ob das
stimmt. Das Loch in der Mitte soll ne Art Stigma sein, und das macht
sie heilig, wissen Sie? Aber wenn Sie mich fragen“, schnaubte der
Mann mit einer desillusionierten Kaltblütigkeit, die nur ein
Antiquitätenhändler aufbringen konnte, „hat da einfach einer 'nen
Nagel durchgekloppt.“
Jimmy
schauderte angewidert. Er ließ den Krug dort stehen, wo er war und
wandte sich dem entfernteren Teil des Ladens zu, um andere Dinge in
Augenschein zu nehmen. Doch das gruselige Objekt schwebte ständig
vor seinem geistigen Auge. Es wirkte anklagend wie das Körperteil
eines Kriegsopfers, für dessen Tod er indirekt verantwortlich war –
vielleicht durch das Abfeuern einer Granate. Er konnte sich gut
vorstellen, wie solch ein Gliedmaß, voller Haß auf Gott und die
Welt, infernalische Rache an ihm plante. Plötzlich hatte er keinen
Spaß mehr am Herumstöbern.
„Ich
denke, ich gehe jetzt,“ sagte er laut. „Und komme vielleicht ein
andermal...“
Der
Besitzer war dabei, diversen Krimskrams in die Regale zu dem andern
Schnickschnack zu stopfen. „Kein Problem, Sir. Schön, dass Sie
reingeschaut haben.“
Jimmy
nahm seine Jacke und ging. Er war kaum um die Ecke, als er
Fußschritte hinter sich trappeln hörte – und da stand er
plötzlich vor ihm, der Besitzer, keuchend und stinkwütend.
„Geben
Sie mir die Hand zurück, junger Mann“, fauchte er, „Oder ich
hole die Polizei!“
Jimmy
prallte zurück. „Was meinen Sie mit der Hand? Sie glauben doch
nicht allen Ernstes, ich würde dieses eklige Ding auch nur
anfassen?“
„Sie
habens aber getan, Freundchen! Oh, ich habe Typen wie Sie schon
früher im Laden gehabt! Da lag sie eben noch – und dann waren Sie
weg und die Hand auch. Sie mit Ihren tiefen Taschen...“ Er sprang
auf ihn zu, vergrub die Hände in seinen Manteltaschen, und
tatsächlich! Aus einer von ihnen fischte der das gräßliche Objekt.
Jimmys
Magen hob sich. Sein Mund öffnete sich zum Protest – und schloß
sich wieder, als ihn die Übelkeit fast überwältigte.
„Na,
was haben wir denn da?“ triumphierte der Besitzer. „Ich
verdammten Yankees schreckt vor nichts zurück, wenns um Londoner
Souvenire geht, was? Ein Pfund will ich dafür!“
„Ein
Pfund für die olle Hand?“
„Nee,
nicht für die Hand, als Strafe für den Diebstahl! Die Hand nehm ich
schön wieder mit!“
„Das...ist
Erpressung!“ Jimmy dämmerte es jetzt. Uralter übler Trick. Pack
irgendwelchen Mist in die Taschen deiner Kunden, wenn der Laden nicht
läuft, und dann mach Krawall wegen Ladendiebstahl.
„Ein
Pfund!“ Der Besitzer hielt ihm die Hand hin – in diesem Fall
seine eigene.
Tja,
was konnte Jimmy tun außer bezahlen? Er war geschäftlich hier, er
konnte seine Zeit nicht mit einer dämlichen und beschämenden
Anklage wegen Ladendiebstahl vor Gericht verschwenden.
Er
ging in sein Hotel zurück, mehr verärgert über diese alberne
Angelegenheit, als sie es eigentlich verdient hätte. Was ihn
natürlich noch mehr verärgerte.
Nachts
wälzte er sich hin und her und träumte von vertrockneten Händen,
die wie riesige haarige Spinnen über sein Bett krabbelten.
2.
Nach
einem fantastischen Frühstück mit Räucherhering auf Toast und
Porridge wurde er unaufdringlich von einem dieser uniformierten
Blechknopfheinis des Hotels angesprochen (und nicht etwa wie in
Amerika durchdringend angeschrien). Der Angestellte beugte sich
diskret über seinen Tisch.
„Eine
Lady möchte Sie sprechen, Sir.“
„Eine
Lady? Ich - ich glaube nicht, das ich hier in London irgendwelche
Ladies kenne.“
„Sie
bezog sich auf eine gewisse Anzeige von Ihnen, Sir.“
Jimmy
trabte etwas unsicher zur Lobby. Eigentlich hatte er erwartet, daß
auf das Inserat hin irgendein männlicher Experte aufkreuzen würde,
der sein Handwerk verstand. Doch sehr bald war er froh, dass er damit
falsch lag. Ein wirklich entzückender Anblick erwartete ihn – eine
junge Frau, geschmackvoll gekleidet in etwas, das eine klasse Figur
hervorhob, mit lebhaften Augen in einem frischen runden Gesicht,
kecker Stupsnase und vollen Lippen.
„Ich
habe mich beeilt, weil ich die erste sein wollte!“ Sie lächelte
ihn unbefangen an. „Denn, ehrlich gesagt – ich brauche den Job.
Und die Konkurrenz in meiner Branche ist brutal!“
„Ah?“
machte Jimmy. „Sind Sie...äh ich meine, kennen Sie sich aus mit
diesem ganzen schrecklichen Zeug, Ausgraben von toten Verwandten und
so?
„Natürlich,
Mister Duck. Ich habe ein Zertifikat von der Fachschule für
Heraldik.“ Sie fischte diverse Papiere aus ihrer Handtasche. „Wir
sind versiert auf allen Gebieten der Ahnenforschung. Sie wollen,
nehme ich an, feststellen, ob hier in England Vorfahren von Ihnen
gelebt haben, oder?
Jimmy
fühlte sich plötzlich sehr albern. „Es geht um meinen Vater...
seinen Namen, wissen Sie? Wie in einem Comicbuch. Naja, mein Vater
glaubt, kein Mensch im wirklichen Leben hätte sich freiwillig Duck
genannt. Oder nennen lassen. Er denkt, da muß irgendwas im Laufe der
Jahre durcheinandergeraten sein in unserer Linie. Er hat inzwischen
so viele Sticheleien gehört, das er dabei ist, einen Komplex zu
bekommen....“
„Gewiß.
Verstehe vollkommen. Und Ihr Vater könnte recht haben! Tausende
Entstellungen sind während des Mittelalters an Nachnamen vorgenommen
worden, vermutlich wegen des hohen Analphabetismus. Oft wurden sie
Schreibern oder Sekretären genannt, die nicht die geringste Ahnung
hatten, wie man die mündlich vorgetragenen Namen buchstabiert, und
dann folgte die Aussprache wiederum der falschen Niederschrift. Wir
haben alte Bücher und Aufzeichnungen über diese Dinge.“
„Hm.
Sie scheinen sich ja wirklich auszukennen damit. Dann fühlen Sie
sich der Sache gewachsen?
Das
Mädchen lächelte zuversichtlich. „Deswegen bin ich hier!“ Und
dann, etwas zaghafter: „Ähm, wir werden üblicherweise nach Tagen
bezahlt, plus Spesen.“
„Jimmy
fühlte sich plötzlich sehr erleichtert bei dem Gedanken, daß es
außer ihm noch weitere Menschen gab, die dringend wünschten, er
hieße anders – wenn auch aus abweichenden Motiven.
„Oh,
natürlich. Sie brauchen einen festen Tagessatz oder etwas in der
Art.“
Auf
ihrem Gesicht erschienen zwei hinreißende Grübchen. „Ja, ich den
brauche ich wirklich. Ich werde sofort ins Museum gehen und schon bis
morgen einige Informationen für Sie ausgegraben haben. Sie könnten
in der Zwischenzeit auch was Nützliches tun.“
„Zum
Beispiel?“
„Die
Zeitung anrufen und die Anzeige abbestellen. Okey? Cheerio!“
3.
Jimmy
holte sich die Times, um die Telefonnummer herauszusuchen – und die
alptraumhafte Story von gestern starrte ihm entgegen.
AMERIKANER
BEIM LADENDIENSTAHL ERWISCHT!
Der
Schreiberling war fähig, Jimmys beschämendes Erlebnis durch die
Brille eines etwas an den Haaren herbeigezogenen britischen Humors zu
sehen. Doch selbst durch diese Brille erschien ihm die Geschichte
noch ziemlich übel. Ja die Sache war noch schlimmer, als er gedacht
hatte:
„..So
scharf war dieser schräge Vogel auf die antike Hand, dass er
anscheinend in derselben Nacht zurückkehrte und in den Shop
einbrach, um sie zu bekommen. Dennoch bleibt die Angelegenheit
mysteriös. Laut Polizeibericht war nur eine der kleinen
Butzenscheiben zerbrochen. Doch der seltsamste Teil der Geschichte
ist der, dass die zerschlagenen Scherben außen lagen! Fast so, als
ob dieses Ding sich auf den ersten Blick in ihn verliebt hätte und
ihm voller Sehnsucht hinterhergekrabbelt wäre. Und wen wunderts?
Heilige Hände, so steht es schon in der Bibel, haben bekanntlich
ganz erstaunliche Tricks drauf...“
Was
für ein schwachsinniger Einfall! Ein Ding wie das und verliebt...
Plötzlich
wurde Jimmy von der unerklärlichen Furcht davor befallen, in seine
Tasche zu greifen und dort auf das hornige Ding zu stoßen, das sich
in leidenschaftlicher Extase um seine Finger schließen würde.
Auch
kam ihm mit einer gewissen Logik in den Sinn, dass er jetzt ein
flüchtiger Schurke geworden war, dessen Bewegungen fortan von
luchsäugigen Scottland-Yard-Schergen verfolgt werden würden.
Allerdings fand sich in dem Artikel keine Beschreibung von ihm. Er
atmete auf. Schließlich hatte dieses Ding ja auch keinen großen
Wert. Es hatte verstaubt auf einem Regalbrett gelegen, und das, wie
die Spinnweben deutlich bewiesen, wahrscheinlich seit vielen Jahren,
bevor es dort oben herunter gesprungen war, und...
Jimmy
sprang plötzlich ebenfalls, nämlich von seinem Stuhl auf. Er
schaute gehetzt um sich. Das da oben auf dem Regal gestern – das
waren keine Ratten! Wenn das Ding nicht mit eigener Willenskraft von
dort heruntergesprungen war, wie konnte das ekelhafte Etwas dann in
seine Manteltasche schlüpfen? War es wirklich möglich, daß es hier
derartige spukende Monstrositäten gab, in diesem uralten Land mit
seinen archaischen Traditionen...?
Aus
einem wahnwitzigen Impuls heraus raste Jimmy in sein Zimmer, um
erneut seine Manteltaschen zu durchstöbern. Nein, Gottseidank! Er
grinste sich verlegen vor sich hin. Was für ein idiotischer Gedanke!
Aber das biestige Ding hatte einen so grausligen Eidruck auf ihn
gemacht... Und wer wäre nicht geschockt, wenn so etwas in jemandes
Tasche auftauchen würde? Dann wanderten seine Augen durch den Raum
und blieben an seinem Koffer hängen. Vielleicht...er stürzte sich
auf das Gepäckstück. Nichts... Verdammt, die ekelhafte Phantasie
des Reporters hatte Besitz von ihm ergriffen! Er stand auf und
begann, jeden einzelnen Gegenstand auf seinem Bett zu genau zu
mustern. Endlich gab er sich erleichtert zufrieden. Er zündete sich
eine tröstende Pfeife an und setzte sich, um sich eine einigermaßen
vernünftige Theorie zusammenzubasteln. Die logischste war, dass der
Ladenbesitzer, offensichtlich ein boshafter alter Spinner, einen
Tobsuchtsanfall bekommen hatte und in seiner Wut die Hand durch seine
eigene Fensterscheibe geworfen hatte. Und dann, seinen Ausbruch
bereuend, war er herausgegangen, um den Köder für seinen listigen
Kundentrick wieder hereinzuholen und mit ansehen zu müssen, wie
irgendeine streunende Katze oder etwas in der Art sich das Ding
geschnappt hatte und davongeeilt war. Vermutlich war er zu beschämt
gewesen, sein albernes Verhalten der Polizei gegenüber zuzugeben.
Blöder
Schwachkopf, schimpfte Jimmy laut vor sich hin. Aber was solls, ich
bin ja selber einer. Dieses Rumgraben in der toten Vergangenheit
macht einen ganz morbid. Bloß...huaahh...Was für ein Erlebnis!
Am
nächsten Morgen kam das Mädchen, triumphierend und berstend voller
Neuigkeiten. „Sie haben mich noch nicht mal nach meinem Namen
gefragt!“, warf sie sich selbst und ihm in einem Atemzug vor. „Und
ich war so aufgeregt in der Vorfreude auf das viele Geld, das Sie mir
versprochen haben, dass ich den ganzen Weg hierher gerannt bin. Ich
bin Eula Bogue.“ Ihre Grübchen zeigten sich. „Früher hieß es
mal Boggs, wie ich rausgefunden habe. So bin ich zu meinem Job
gekommen. Ach, ich habe einen Haufen Neuigkeiten! Setzen Sie sich und
schauen Sie sich das an!“
In
einer sehr geschäftlichen Manier breitete sie einen Haufen
Notizblätter auf dem Tisch aus. „Überspringen wir gleich mal
meine frühen falschen Ansätze. Schauen wir gleich auf das, was uns
definitiv weiterbringt. Und das hier bringt uns weiter, nämlich weit
in die Vergangenheit! Es scheint da einen angelsächsischen Namen
gegeben zu haben, Dork, oder Dawk, oder Dock, geschrieben in
verschiedenen Varianten. Meistens im Norden Englands.“
Jimmy
pfiff. „Wow! So weit zurück? Dad wäre begeistert. Und es könnte
sein, dass dieser Name...sich dann verwandelt hat in...Duck?“
„Oh,
sehr wahrscheinlich sogar! Weitergetragen durch die sehr ungebildeten
Puritaner, als sie emigrierten, wissen Sie? Und hier ist etwas noch
viel aufregenderes. Oben in Cumberlandshire gibt er einen kleinen Ort
mit dem Namen Dockbridge, anscheinend der Heimatsitz der Familie, und
dort steht eins dieser schrecklich alten Herrenhäuser, das später
umgebaut wurde, und nochmal umgebaut und dann nochmal, und das ist
voll mit Ratten und klapprigen Fenstern und einer vermoderten
Bibliothek und einer Haushälterin und – man kann es mieten!!!“
Sie sprudelte den ganzen letzten Satz in einem Atemzug hervor.
Jimmy
wurde allmählich von ihrer Begeisterung angesteckt. „Sie meinen,
wir können da hin und in der Bibliothek rumwühlen?“
„Klar!
Das heißt, wenn Sie selbst... also alle Amerikaner sind doch reich,
oder? - Also wenn Sie es sich leisten können, den Kasten zu mieten –
für eine Woche oder so...“
„Jeu!“
rief Jimmy. „Eine Forschungsreise in die Geschichte! Ich werde
Daddy kabeln, daß wir eine heiße Spur haben. Na dann – nichts wie
hin!“
4.
Dockbridge
Manour House war nicht ganz so, wie Eula es beschrieben hatte. Der
moderne Teil stellte sich als rattenlos heraus und besaß sogar ein
Badezimmer. Das Anwesen war auf einem Hügel erbaut worden;
offensichtlich hatte es früher auch einen Burggraben gegeben, der
sich nun in einen eingesunkenen ungepflegten Garten verwandelt hatte,
in dem wenige nützliche Pflanzen und viel Unkraut wuchsen. Es gab
bröckelige Mauern und einige moosüberwachsene Trümmerhügel, auf
denen jemand vor langer Zeit Steingartenexperimente durchgeführt
hatte, um das Ganze dann irgendwann aufzugeben. Im gegenwärtigen
schlichten Zustand war es zu kostspielig, das Anwesen komplett zu
sanieren, und so wartete es hoffnungsvoll auf einen Mieter.
Die
Haushälterin, eine hagere Dame, in geisterhaftes Grau gekleidet,
hatte so lange in Übereinstimmung mit den alten Konventionen gelebt,
dass sie nur einen sehr strengen und abschätzigen Blick für die
jungen Störenfriede übrig hatte.
„Ich
bin Mrs. Medford“ stellte sie sich vor. „Und Sie können in mir
getrost so etwas wie die Anstandsdame sehen. Wenn also der junge Mann
so freundlich wäre, das Gepäck aufzunehmen, werde ich Ihnen Ihre
Zimmer zeigen. Ihre getrennten
Zimmer, versteht sich.“
Und
tatsächlich präsentierte sie ihnen zwei weit auseinanderliegende
Räume, die an den äußersten Enden eines rechtwinkligen Korridors
gelegen waren. Sie selbst schien ebenfalls auf diesem Flur zu hausen.
„Sollten
Sie Hilfe benötigen, Miss – ich höre Sie rufen.“
„Aber...was
für eine Idee!“ Eulas Gesicht flammte rot auf.
„Oh,
ich meine nicht ihn!
Obwohl ich ihm an Ihrer Stelle nicht über den Weg trauen würde. Wir
wissen schließlich, was diese gutaussehenden jungen Yankees
anrichten können – seit ihrer letzten Invasion 1944. Nein, es ist
nur so, dass der Geist vom alten Sir Harry hier in den mondlosen
Nächten zu miauen pflegt. Das ist der greise Stallmeister von Prinz
Charlie, der hier lebte, als es noch das alte Haus gab, das auf
diesen Grundmauern stand.“
Eula
lachte vergnügt. „Bei meinen vielen Recherchen (als hätte sie
zwanzig Jahre Berufserfahrung auf dem Buckel!) ist mir noch nie ein
Geist begegnet!“
Die
Geringschätzung der Haushälterin sank noch einige Etagen tiefer.
„Ihr modernen Leute habt keinen Respekt vor so etwas. Aber ich sehe
ihn!“
Jimmy
starrte sie an. Er hatte sich das Starren bei all den vielen
Überraschungen der letzten Tage zur Gewohnheit gemacht. Aber Mrs.
Medford schien überraschte Leute gewöhnt zu sein. Sie fügte hinzu:
„Sie, Sir, werden das Miauen und Gerumpel auf Ihrer Seite nicht
hören. Sie schlafen über der alten Kapelle. Deswegen sind Ihre
Fenster auch vergittert.“
Jimmy
sah Eula fragend an, als ob sie sich mit allen Gebräuchen eines
alten britischen Herrenhauses auskennen würde. Doch es war die
Haushälterin, die eine logische Erklärung anbot.
„Weil
diejenigen, die dort keine Gebete sprechen, regelmäßig verrückt
werden und aus dem Fenster zu springen pflegen. - Ich serviere das
Dinner bei Einbruch der Dunkelheit, Sir und Madame. Wir kleiden uns
zum Essen nicht mehr um – heutzutage.“ Sie marschierte ab, um
sich um ihre Angelegenheiten zu kümmern.
„Was
für ein Auftritt!“ Jimmy flüsterte, ohne es zu merken.
Eula
kicherte. „Ich glaube, die arme Seele ist selbst bißchen gaga –
so allein hier in dem vergammelten alten Kasten. Naja, die Bibliothek
könnte pures Gold enthalten. Wir werden morgen graben.“
5.
Nicht
einmal die helle Morgensonne konnte für ein fröhliches Frühstück
sorgen, denn die Morgenzeitung brachte ein neues Juwel britischen
Humors vom gestrigen Autor.
ALKIS
VON NORD-LONDON HABEN EIN NEUES SCHRECKGESPENST!
Für
eine Gruppe heimkehrender Stammgäste des „Coach-and-Horn“-Pubs
in der Lincoln Road sind es nicht mehr die klassischen rosaroten
Elefanten, die sie in Angst und Schrecken versetzen. Nein, der neue
Star ist eine fünfbeinige Spinne von der Größe einer Untertasse,
die die dunklen Abflußrinnen der Bordsteige mit dem Tempo eines
Windhunds entlangrast...
Natürlich,
an der Sache war nicht viel dran. Doch Jimmy starrte paralysiert und
voller Entsetzen auf die Seite. Denn weiter hieß es dort:
Eine
merkwürdige Bestätigung dieser Aussagen kam von zwei Jungen –
höchst aufrichtigen Rangen, wie ihre Eltern eifrig versichern –
die behaupteten, im ersten Dämmerlicht des Tages dasselbe Tier auf
einer Landstraße zehn Meilen weiter nördlich in Middlesex gesehen
zu haben. Nur diesmal sah es - gemäß ihrer jugendlichen
Einbildungskraft und nicht allzuweit entfernt von der klassischen
Gruselmärchentradition - aus wie...
-
und das war die Stelle, die Jimmys Augen in weitem Starren gefangen
hielten -
...aus
wie eine Hand, die auf ihren Fingerspitzen lief.
„Was
ist los?“ Eula war beunruhigt angesichts von Jimmys Blässe.
Er
schob ihr die Zeitung herüber und wartete, während sie las. Auf
ihren fragenden Blick hin sagte er schließlich: „Haben Sie gestern
diese Sache gelesen von dem diebischen Yankee, der eine alte
Menschenhand geklaut haben soll, nachdem er ein Fenster in einem
Antiquitätenlanden zerbrochen hat?“ Und, als sie nickte, wies er
mit dem Finger auf seine Brust.
„Sie?
Guter Gott! Aber Sie warens natürlich nicht!“
„Nein.
Ich würde das dreckige Ding nicht mal anrühren“
Und
er erzählte ihr sein unheimliches Londoner Erlebnis.
Schließlich
fragte er: „Sie wissen mehr über diese uralten Incubi. Was hat das
alles zu bedeuten? Warum folgt es mir nach Norden?“
Eula
wurde, zum ersten Mal an diesem Morgen, sehr ernst. „Warum sagen
Sie „Incubi“? Als ob es etwas wäre, das über Ihnen hängt.
Natürlich, wir haben eine Menge seltsame Legenden in einem alten
Land wie diesem, einige wurden von Professoren der Völkerkunde sogar
für wahr erklärt. So etwas wie die unheimliche Glastonbury-Gruft
oder das Monster von Glamis Castle. Aber eine mumifizierte Hand...
Sie schloß ihre Augen und dachte scharf nach. „Warten Sie. Lassen
Sie mich überlegen...Was ist mit diesem Aberglauben um die „Hand
of Glory“ - den vielen Mumienhänden in den britischen Museen, alle
von der linken Hand eines Gehängten...? Aber nein, das passt hier
nicht... Das hat bloß mit schwarzer Magie zu tun... “
„Bloß
mit schwarzer Magie? Na toll! Und was ist dieses Ding? Das reine
weiße Symbol der Gnade?“
Eula
lachte nun doch wieder. „Ach, das ist doch alles dummes Zeug! Ein
paar Betrunkene hatten Delirium tremens, und ein paar Jungs haben zu
viele Horrorgeschichten gelesen, und ihre Einbildungskraft ist
übergesprudelt. Das ist unsere übliche Saure-Gurken-Zeit – da
füllen sie doch immer die Lücken mit solchen Sachen. Das ist alles.
Sie werden schon sehen.“
Nach
ein paar Tagen sahen sie es in der Tat. Ein Times-Leser und
Hobby-Entymologe schrieb eine bierernste Epistel auf der
Meinungsseite, die Hysterie der Bevölkerung tadelnd, und verkündete
seine Theorie, nach der es sich bei dem beobachteten Tier um eine
Tarantel (eine große zentralamerikanische Spinne, fügte er hinzu,
um seine Bildung ins rechte Licht zu rücken) handeln könne, die
sehr leicht mit einer Kiste Bananen importiert worden sein konnte,
und die, wie alle Spinnentiere, durchaus in der Lage war, mit
erstaunlicher Geschwindigkeit zu laufen, so daß Leute, unter dem
Einfluß starker alkoholischer Getränke etc. etc.
„Da!
Na bitte!“ sagte Eula. „So, und jetzt könnten Sie mir wirklich
beim Lesen dieser modrigen alten Schwarten helfen.“
Das
Lesen stellte sich als ziemlich aufregend heraus. Die Bibliothek, die
ein Durcheinander von Büchern enthielt, von denen, wie es schien,
einige noch aus der Zeit der Erfindung des Buchdrucks stammten,
verfügte auch über eine beeindruckende Anzahl von Inkunabeln und
sogar Manuskripten. Nichts davon war allerdings in irgendeiner Form
geordnet worden.
„Unschätzbar“
seufzte Eula inmitten des Chaos. „Und ich meine das wörtlich, auch
in Geldwerten. Und zu denken, dass der Besitzer niemals herkommt,
geschweige denn je ein Buch zu öffnen scheint!“
Die
Haushälterin stand an der Tür. Sie hatte ein geradezu unheimliches
Gedächtnis für die alten Schwarten, staubte ein paar ab, und wenn
alte Familiennamen auf ihnen auftauchten, erinnerte sie sich prompt
an sie.
„Er
erscheint hier nicht“, deklamierte sie wie eine Hekuba, „weil
dieses Haus ihn in Schrecken versetzt.“
„Ich
glaube“, sagte Jimmy, „einige dieser Bücher über Schlachten und
Mord und raschen Tod würden mich auch in die Flucht schlagen, wenn
sich sie lesen würde.“
„Schlachten
und Mord und rascher Tod...“ wiederholte sie anklagend, „das ist
doch eine Phrase aus einem Gebet, nicht? Wenn man das nicht mit
gebührendem Ernst zitiert... Der Herr in der Schrift sagt: Die
Lästerer werden umkommen. Und wenn Sie mir gleich gesagt hätten,
dass Sie nach alten Familienchroniken suchen, hätte ich der jungen
Lady, dem armen Ding, längst empfohlen, dort in dem Buch mit der
braunen Bindung nachzuschauen, das von den Kakerlaken fast
aufgefressen wurde.“
„Was
für ein armes Ding?“ fragte Eula amüsiert.
„Ah!“
machte Mrs. Medford. Nur „Ah!“. Dann schwebte sie grau und
beleidigt von dannen.
Aber
das Buch erwies sich durchaus als eine der Goldminen, die Eula hier
erwartet hatte.
„Schau!
Da! Ähm, schauen Sie, hier, meine ich! Hier haben wir: 'Die
Historie der Familie des gar noblen Sir Armand d'Auk, erzählet mit
all seinen Battaglien und Ehrenhändeln'.“
„Die
hatten wirklich eine Schwäche für lange Titel damals“, stellte
Jimmy begriffsstutzig fest.
„Jaja,
du Dummkopf, aber...Sehen Sie's denn nicht? Das ist Ihr Name! D'Auk!
Oder Dork, Dock, Doak, und vermutlich gibts noch viele andere
Schreibweisen. Also normannischer Abstammung, nicht angelsächsischer.
Ich könnte mir vorstellen, dass Ihr Dad einer unserer ältesten
Familien entstammt!“
„Doll!“
staunte Jimmy. „Will verdammt sein, wenn da nicht was dran ist!
Kannst...können Sie dieses altenglische Zeug lesen?“
„Na
klar! Das heißt, das, was die Kakerlaken nicht aufgefressen haben.
Und wie es scheint, sollte es noch drei weitere Bände davon geben.
Vielleicht weiß Mrs. Medford, wo man sie finden kann. Wir müssen
tonnenweise Papier durchforsten. Sie machen sich Notizen, während
ich es entziffere.“
Die
Aufregung über den Fund war so groß, daß sie die Morgenzeitung
nicht vor dem Nachmittag lasen. Und danach sahen sich beide an, sich
fragend, was der andere wohl denken mochte.
Denn
ein nüchterner Wissenschaftler hatte inzwischen seinen Sermon in der
Times abgegeben, mit all der beißenden Aggressivität, zu der
Wissenschaftler für gewöhnlich fähig sind, wenn es um ihr
Fachgebiet geht. Der Gelehrte hatte die Meinung des „unzureichend
informierten“ Laien, der es gestern gewagt hatte, sich zu
Spinnentieren zu äußern, in der Luft zerrissen.
Die
Tarantel, so konstatierte er, sei zwar tatsächlich in der Lage, sich
mit beträchtlicher Geschwindigkeit zu bewegen, wenn sie auf
Beutejagd war, doch gehöre sie zu den äußerst seßhaften Spinnen,
genau wie die Wolfsspinne oder unser ganz gewöhnlicher Opa Langbein.
All diese Spinnen lebten ihr Leben innerhalb eines Radius von
ungefähr 15 Metern; eine Spinnenwanderung von 10 Kilometern sei
deshalb ebenso lächerlich wie unmöglich. Was auch immer die beiden
Jungen in Middlesex gesehen hatten, sei mit Sicherheit keine Tarantel
gewesen, denn über die Unmöglichkeit einer solch weiten Wanderung
hinaus sei die Tarantel kein Nachtjäger, auch könne sie die tiefen
Nachttemperaturen der britischen Insel nicht vertragen, bestenfalls
würde sie eine englische Nacht lethargisch und schlafend verbringen.
Diese
gründliche Abhandlung der Angelegenheit führte zu Jimmys logischer
und düsterer Frage:
„Was
wars dann? Wenn nicht meine...“ sein unfreiwilliger Versprecher
ließ ihn schaudern. „Wenn nicht diese verdammte Hand?“
Eula
versuchte ihn zu beruhigen. „Och, was spielt er denn für eine
Rolle, was es war? Irgendwas. Eine dahinrasende Ratte, ein Kaninchen,
ein Wasauchimmer. Wir haben hier viel wichtigere und aufregendere
Dinge, über die wir uns den Kopf zerbrechen können. Sehen Sie –
Dieser d'Auks hieß mit vollem Namen Sir Armand d'Auk d'Auberge,
und...“ Plötzlich klatschte sie in die Hände. „Da haben wirs!
D'Auk d'Auberge – wenn man dem Grimmschen Gesetz der
umgangssprachlichen Sublimierung folgt, wird Dockbridge daraus!
Dieses Dorf und dieses Anwesen! Jetzt kümmern wir uns mal um seine
„Battaglien und Ehrenhändel“ - und wahrscheinlich gibt’s da
auch noch irgendwo diverse Nachkommen, die hier aufgezeichnet sind.“
6.
Die
Recherchen der nächsten Tage, so faszinierend sie waren, kamen mehr
als einmal abrupt zum Stillstand, wenn die Morgenzeitung eintraf, und
beide suchten die Seiten dann aufmerksam nach Fortsetzungen der
„Tarantel-oder-nicht-Tarantel“-Debatte ab.
Der
humoristische Journalist war nun überhaupt nicht mehr lustig. Er
nannte das Ganze nun dramatisch „THE SPIDER HORROR“. Da war der
Fall einer Dame, eine strenge und psychisch stabile Sozialarbeiterin,
die von einem abendlichen Kirchentreffen zurückgekehrt war, um vom
SPIDER-HORROR attackiert zu werden. „Ich sah das Ding im
Mondlicht“, versicherte sie ihrem Interviewer, „es huschte an mir
vorbei wie... nun, wie nichts, das ich vorher je gesehen habe! Ich
schlug nach ihm mit meinem Schirm, und...also ich würde jetzt nicht
direkt sagen, dass es mich angefaucht hätte, doch ich konnte seine
boshaften roten Augen sehen! Und dann sprang es mich an! Aus dem
Stand machte es einen Satz von etwa anderthalb Metern – ich kann
das gut einschätzen, wegen der Länge des Schirms, wissen Sie? Es
packte mich am Knöchel und riß mich zu Boden, und dann...Also ich
würde jetzt nicht direkt sagen, dass ich ohnmächtig wurde, ich bin
in meinem ganzen Leben noch nie ohnmächtig geworden. Aber ich weiß
nicht mehr so genau, was dann passiert ist. Als ich zu mir kam...
Also, ich meine, als ich wieder etwas sehen konnte, war das Ding
verschwunden.“
„Hast
du darauf geachtet“, fragte Jimmy unheilsschwanger – sie waren
endlich beim Du angelangt - „Hast du darauf geachtet, wo das
passiert ist? In Leicestershire!“
„Na
und?“
„Es
kommt immer weiter nach Norden! Es folgt mir!“
Eura
erschrak zutiefst bei der Vorstellung einer toten mumifizierten Hand,
die unaufhaltsam auf sie zuwanderte. „Aber Jimmy, das ist
unmöglich! Sie hat seine roten Augen gesehen, sagt sie!“
„Der
Ring!“
Eulas
Hand wanderte zu ihrem Mund. „Du...du denkst wirklich, das Ding ist
aus irgendeinem verrückten Grund hinter dir her? Wie ein
Voodoo-Zauber oder sowas?“
„Woher
soll ich das wissen? Ich habe keine Ahnung von Voodoo.“
„Aber
du kommst doch aus Amerika, da müßtest du doch überall auf sowas
stoßen, mit euren Negern aus Haiti... Töten sie da nicht Hühner
mit ihren Zähnen und verschicken ominöse Geschenke? Kleine Puppen
und Schlangen und Dinge, die verflucht sind, und dann...“
„Tolle
Vorstellungen hast du von Amerika!“ grummelte Jimmy.
„Ich
hab das jedenfalls irgendwo gelesen. Und übrigens, du bist
derjenige, der darauf besteht, dass er verfolgt wird... Jimmy – ich
ab Angst!“
„DU
hast Angst?“
„Ja,
also, ich meine, wenn das Ding wirklich real ist – und nicht nur
eine Sommerferienhysterie – und wenn es eine Frau mit Kampfgeist
anspringen kann, nachdem sie ihm den Schirm vor den Latz geknallt hat
und sie dann am Bein packen und hinwerfen kann, dann...“
Sie
drängte sich schaudernd an ihn.
Es
war nun an Jimmy, sie zu trösten. „Naja, zumindest hat das Ding
sie nicht gebissen, als ihr Kampfgeist erloschen ist wie eine
schwache Kerzenflamme. Alles in allem, was kann es schon anrichten...
durchs Land wandernd, wie ein Gespenst...“
Er
wünschte sofort, er hätte dieses Wort nicht gebraucht.
„Was
ich sagen wollte: ich war einfach schockiert damals, als ich dieses
ekelhafte Teil sah. Und dann hat mich die Sache verrückt gemacht“.
„Könnte
sein!“, fügte Eula hinzu. „Wahrscheinlich verfolgt dich eher
dieser erste Anblick der Hand im Laden als das Ding selbst. Komm,
lass und was essen gehen.“
Mrs.
Medford servierte einen recht spärlichen Lunch. „Weil der Eismann
ist nicht gekommen ist, mußte ich das kalte Huhn entsorgen. Ich habs
Lady Lane gegeben.“
Lady
Jane war ihr wolliger Pudel, der jeder Fliege hinterherkläffte und
eifrig Kakerlaken in den Zimmerecken jagte. Die Kargheit des Mahls
spielte aber ohnehin keine Rolle mehr, denn den beiden war jeglicher
Appetit vergangen, nachdem Mrs. Medford, scheinbar aus dem Nichts
heraus, bemerkte:
„Es
kommt hierher!“
Beide,
Jimmy und Eula, saßen wie vom Donner gerührt auf ihren Stühlen.
Mrs. Medford beantwortete ihre starren Blicke mit:
„Ich
habs in der Zeitung gelesen. Genau wie Sie. Und ich bin eine siebente
Tochter. Ich sehe Dinge. Und ich habe ES gesehen!“
„Großer
Gott!“ Bis jetzt hatte Jimmy bereitwillig Eulas tröstende Theorie
akzeptiert, dass er beim Anblick der toten Hand einen Schock erlitten
hatte und das Ding auf diverse gruseligen Nachrichten aus der Zeitung
projezierte.
„Was
meinen Sie damit, es kommt hierher, und Sie haben es gesehen?“
„Ich
weiß nicht genau, was es zu bedeuten hat. Alles, was ich dazu sagen
kann, ist, dass ich eine Seance mit meiner alten Freundin Mrs.
Shaughnessy abgehalten habe. Sie nämlich ein Mädchen...“
„Ein
Mädchen?“
„Na
Sie wissen schon, sie kann mit Geistern reden und so.“
„Ach,
ein Medium.“
„Das
sage ich ja. Also wir saßen da, und plötzlich seh ichs im Dunkeln
vor meinen Augen! Meinen geistigen Augen, meine ich. Eine menschliche
Hand! Und sie war an ein Brett genagelt! Und Mrs. Shaughnessy...also
sie meinte: 'wenn nur Sie es gesehen haben, gehört es zu Ihnen, zu
Ihrem Haus, sonst hätte ich es auch gesehen'.“
Jimmy,
nicht an den Jargon und die Verquastheit des spiritistischen Denkens
gewöhnt, winkte heftig ab.
„Ach
was! Sie haben das Zeug in der Zeitung gelesen, und dann saßen Sie
da, sehnten sich nach Monstern und beschworen das Ganze in Ihrer
Einbildung herauf. Und überhaupt“, fügte er hinzu, um sich selber
Mut zu machen, „ selbst wenn es wahr wäre - was könnte so ein
Ding schon tun!?“
„Ah!“
machte Mrs. Medford bedeutungsschwer, „Aa-aah!“
Die
nächste Morgenzeitung gab einen Hinweis drauf, was so ein Ding tun
konnte.
„Ein
Mister Dibbs aus Kirkby-Sheperd in Westmoreland“, berichtete
sie, „ein
Gentleman, der gewisse Schwierigkeiten mit Lord Gravelys Wildhüter
hatte, schlenderte mit zwei Hunden und einer Flinte harmlos nachts
durch den Wald, um das schöne Mondlicht zu genießen, wie er sagte,
als seine Hunde in einem Graben den SPIDER-HORROR aufschreckten. Das
Ding raste, erzählte er, den Waldweg mit unglaublicher
Geschwindigkeit entlang. Ganz zufällig, erklärte Dibbs, hatte er
grade eine Patrone in seinem Gewehr, und er hätte es erschossen, was
auch immer es war, wenn seine Hunde dem Ding nicht zu nahe gekommen
wären. Sie jagten es in ein Gebüsch, von dort hörte er wütendes
Rascheln und Bellen, ganz ähnlich wie bei einer Kaninchenjagd. Doch
plötzlich stieß einer der Hunde ein hohes Fiepen aus und kam zu ihm
in winselndem Schrecken zurückgekrochen, als ob er statt des
Kaninchens einen Bären vorgefunden hätte, und der andere Hund war
unheilverkündend still. Seine Flinte im Anschlag für alle Fälle,
näherte er sich dem Gebüsch, um es zu untersuchen, und dort, zu
seinem Erstaunen, fand er seinen Hund – tot. 'Erdrosselt!Erwürgt!'
versicherte Mr. Dibbs, 'als ob ein starker Mann es getan hätte!'
Der
Wildhüter wiederum versichert, nichts Bedrohlicheres als Kaninchen
im umliegenden Waldgebiet entdeckt zu haben. Die lokale
Polizeibehörde drückt ihr Bedauern darüber aus, dass solche Dinge
immer nur nachts passieren und stets von unzuverlässigen Zeugen
beobachtet werden.“
Jimmys
einzige Frage war: „Wo liegt Westmoreland?“
„Das
ist die Grafschaft südlich von Cumberland, wo wir uns befinden!“
Eula hing an seinem Arm. „Jimmy...so etwas kann es doch nicht
wirklich geben...Oder?“
„Es
wandert hierher!“ zitierte Jimmy finster. „Was muß man hier in
England tun, um zu einem Gewehr zu kommen? Und gibt es irgendeinen
Experten, der uns sagen kann, was dieses Ding will und was für
Motive es hat? Ich meine die ganze Angelegenheit. All diese
Geschichten summieren sich zu etwas, das zwingend etwas zu tun haben
muß mit dieser grauenhaften, brutalen Hand, die ich in dem Shop
gesehen habe. 'Die Hand von St. Ury' hat der Verkäufer sie genannt;
und er sagte etwas von...keine heiligen Stigmata, sondern...ein
Nagelloch. Und unsere graue Lady hatte ihren Rappel und sah sie -
genagelt an ein Brett! Also? Wer kann uns sagen, was sie lebendig
gemacht hat? Warum ist sie nachts unterwegs hierher? Warum hierher?
Will sie mich? Kommt sie meinetwegen den ganzen Weg aus London? Wenn
sie dann hier ist, was dann? Ist das gut oder schlecht? Wer kann uns
in die Regeln und Gesetze der Monster-Gewerkschaft einweihen?“
Eula
sah nachdenklich aus dem Fenster. „Es gibt hier eine ganze Menge
Okkult-Detektive und Geisterjäger. Ich denke, der beste ist Dr.
Eugene Harries. Er gehört zur W.T.Stead-Gesellschaft und ist
Mitglied der Psychic Reserch Society. Sie durchlöchern
fadenscheinige Geistergeschichten, die hin und wieder auftauchen, und
sie publizieren Stellungnahmen zu ihren Forschungen. Was ich nicht an
ihnen mag, ist, dass sie zugeben, hin und wieder auf Sachen zu
stoßen, die sie nicht lustig finden.“
„Wir
sollten ihn einladen und ihm die ganze Sache aufhalsen“ schlug
Jimmy prompt vor. „Dann können wir auch in Ruhe an unserem eigenen
Projekt weiterarbeiten und die alten britischen Familienmitglieder
ausgraben. Je tiefer wir uns in diese alten Wälzer hineinwühlen,
desto begeisterter wird Daddy sein. Süße, mach uns Ducks zu
respektablen Oldtimern, und ich bringe ihn dazu, unsere
Hochzeitsreise zu bezahlen!“
„Waaas??“
Eula
sprang von ihm weg und brachte den alten geschnitzten Schreibtisch
zwischen sich und ihn. Ihre Augen waren weiter geöffnet als beim
Staunen über Mrs. Medfords Enthüllungen.
„Du
willst mich heiraten?“
„Naja,
wir Ducks sind eben nicht nur eine alte, sondern auch eine
altmodische Familie. Und außerdem ist eine Verlobung der einzige
Weg, um auf längere Sicht Mrs. Medfords vernichtenden Blicken zu
entgehen.“
„Allmächtiger!“
Der Schock hatte Eulas Haare verwirrt, die nun aufrecht standen und
wirkten wie rote Flammen. „Ihr Amerikaner seid ziemlich direkt! Ist
das die Art, in der ihr eure Anträge macht?“
„ Tja...Manchmal
machen wir sie auch im Auto oder an andern romantischen Plätzen.
Aber ich nehme an, ihr Engländer, mit all euern Spukschlössern und
so, wollt es ein bißchen anders haben.“
Eula
hatte etwas an Selbsticherheit zurückgewonnen. „Hier heiraten wir
fast nie unseren Boß. Und außerdem haben wir beide zu viel zu tun.“
„Tun
wirs zusammen!“ meinte Jimmy fröhlich. „Auf Augenhöhe! Du mußt
mich nicht als Boß betrachten. Komm, lass uns buddeln. Wir
vernachlässigen unsere Goldgrube.“
7.
Die
Goldgrube stellte sich bald, wie Johnny es nannte, als alte
vergrabene Landmine heraus. Doch zunächst, als die beiden sie
fanden, waren sie fasziniert.
„Oh,
sieh mal! Der Sir D'Auk war 'Lord der Hohen, Mittleren und Niederen
Justiz und ein gar tapferer Träger des Kreuzes!'“
„Heißt
das, er war ein Prediger? Ein Heiliger?“
„Ach
Quatsch. Ein Kreuzritter! Er zog aus, um Ungläubige abzumurksen.“
„Das
macht uns Ducks in der Tat ziemlich respektabel.“
„Und
hier ist dein – du, das ist ja aufregend – hier ist St. Ury!“
„Ich
seh nichts.“
„Du
schaust ja auch nicht ins Buch. Er ist nicht in meinen Haaren. Hier –
Benoit De La Ceinture. Benoit mit dem Gürtel. Er war gar kein
Heiliger. Er war „Senechal Of Ye Keepe“, das heißt, er war Chef
der Wache, und stellvertretender Befehlshaber, also immer wenn Ihre
Tapfere Kreuzritter-Hoheit beruflich im Ausland Heiden schlachtete,
war er hier der Chef. Und als dann das normannische Französisch
ausstarb und es keiner mehr verstand, verwandelte das Grimmsche
Gesetz der umgangssprachlichen Anpassung den Namen in St. Ury.
Ceinture – Saint Ury.“
Bei
weiteren Recherchen stellte sich heraus, dass dieser Ceinture weit
davon entfernt war, ein Heiliger zu sein, und die beiden
Ahnen-Forscher blickten sich mit grauen Gesichtern an.
Der
gar tapfere Kreuzritter d'Auk war zurückgekommen, und zwar, wie es
Kreuzritter in der Ära vor Telegraph und Telefon zu tun pflegten,
überraschend. Und er fand heraus, wie schon viele Krieger vor ihm,
das seine Hohe Frau, etwas gelangweilt von seiner langen Abwesenheit,
etwas freundlicher zum Kapitän der Wache war, als es der Anstand
gebot. Und da er die Rechte einer Hohen, Mittleren und Niederen
Justiz für sich in Anspruch nahm, stürzte er sich in berechtigter
nobler Raserei auf den Senechal, schlug ihm die rechte Hand ab und
nagelte sie an die große Eichentür, um allen sichtbar zu machen,
wie die Strafe für Flirts dieser Art aussah, um das Kind beim Namen
zu nennen. Und a propos Kind – bei dieser Liebesaffaire mußte wohl
mehr als nur eine Hand im Spiel gewesen sein, denn die Chronik sprach
von einem „eingestandenen Bastard, und derentwegen beraubet aller
Rechte des Erbthums.“
Jimmy
legte seine eigene Hand auf die ziemlich kalte von Eula. „Also das
ist die Hand von Ury! Und sie kommt hierher! Natürlich! Sie kehrt –
heim!“
Er
versuchte sich an einem ziemlich lahmen Scherz. „Naja, dieser
Stammbaum läßt uns Ducks dann doch nicht ganz so respektabel
aussehen...“
„Mach
keine Witze darüber!“ Eula schauderte. „Deine Linie könnte von
einem früheren ehelichen Kind abstammen – vielleicht bist ein
direkter Nachfahre von D'Auk.“
Doch
Jimmy dämmerten die schrecklichen Implikationen dieser Möglichkeit
in vollem Umfang erst, als Doktor Eugene Harries auftauchte.
Der
Doktor erläuterte seine Theorien zu diesem Fall mit professioneller
Dunkelheit.
„Faszinierend!
Höchst faszinierend! Aus dem, was Sie mir erzählt haben, läßt
sich unzweifelhaft schließen, dass diese wuselnde Kreatur der
Finsternis eben die Hand ist, die Sie in Ihrer Familienchronik
entdeckt haben! Ganz klar einer der ganz eindeutigen, echten Fälle!“
„Na
schön“ resümierte Jimmy, „es ist also eine tote Hand, die hier
einst an die Eingangstür genagelt wurde. Sie überlebt irgendwie –
wenn die Bezeichnung 'überleben' überhaupt auf so ein Ding
anwendbar ist, und dann taucht sie plötzlich spinnenwebenverklebt in
einem alten Raritätenladen wieder auf. Was mich interessiert, ist:
Was hat sie wieder aufgeweckt? Und wie? Warum krabbelt sie die
nächtlichen Straßen entlang und ist auf dem Weg nach Hause? Hinter
wem oder was ist sie her?
„Ah!“
machte der Doktor, fast so unheilsschwanger, wie es Mrs. Medford
gemacht hätte. „Solche Sachen sind nicht einfach zu erklären. Es
gibt da eine uralte okkulte Theorie, die heutzutage fast wieder als
wahr akzeptiert wird, dass nämlich Gedanken physische Kräfte
besitzen. Der Gedanke an Haß etwa kann so stark sein, dass er den
Erzeuger des Gedankens überlebt.“ Er hob eine Hand. „Einen
Moment, bitte! Ich sagte, diese Theorie der physisch wirkenden
Gedankenkräfte wäre nun wieder akzeptiert. Und zwar deshalb, weil
die Experimente Ihres Landsmanns Dr. Rhine in Amerika das nahelegen.
Er scheint demonstriert zu haben, das hohe Gedankenkonzentration
tatsächlich Materie bewegen kann – zum Beispiel kann sie Würfel
rollen lassen. Es gab solche Versuchsreihen an der Universität in
Ohio, oder?“
„Ja
schon.“ Jimmy hörte aufmerksam zu. „Ich habe davon gelesen. Aber
das waren lebende
Gedanken!“
„Ah!“
machte der Doktor erneut. „Aber wie erklären Sie das – einen
'lebenden' Gedanken? Ein Gedanke, also Energie mit, wie wir glauben,
meßbarer Kraft, wurde kreiert und dann projiziert in – wie nennen
wir das am besten – den umgebenden Äther? Gut, sagen wir, da ist
er nun, wie lange kann er da existieren? Um das kurz und bündig zu
erklären, lassen Sie mich eine moderne Analogie benutzen – das
Radio. Ein meßbarer Impuls wird ausgesendet. Wo genau ist er? Er ist
überall. Er kann auf einen Empfänger in großer Distanz wirken. Es
ist nachgewiesen worden, dass das Signal mit einer gewissen meßbaren
Zeitverzögerung und nachlassender Stärke die Erde umrundet, doch es
kann dann nach der Erdumrundung noch einmal von fein justierten
Geräten empfangen werden. Gut – wenn es zweimal empfangen werden
kann, dann kann es theoretisch unendlich oft empfangen werden.
Angenommen, wir hätten einen unendlich feinen Empfänger – wo ist
dann der Punkt, an dem das Signal erlischt? Das, was Sie eine tote
Hand nennen, ist nichts anderes als solch ein Empfänger, genauestens
ausgerichtet auf die Wellenlänge eines kraftvoll projizierten
Gedankens – den Gedanken des Hasses, ausgesendet vom
Originalprojektor!“
„Klingt
schrecklich logisch. Aber da bohren Sie ein ziemlich dünnes Brett,
stimmts?“
„Zugegeben.
Aber wenn wir die Möglichkeit erst einmal in Betracht ziehen, müssen
wir einräumen, das es hier nicht entscheidend ist, wie stark oder
schwach das Signal des Projektors ist, sondern nur, wie groß die
Möglichkeit ist, dass der Empfänger reagiert. Im Falle des Radios
bedeutet das – dass es spricht. Oder Musik macht. In unserem Fall
heißt das: der Empfänger wird mobil gemacht! Er wird in Bewegung
gesetzt! Er wird wiederbelebt! Er wird den Impuls ausführen, den das
Original projiziert hat!“
Jimmy
und Eula folgten den Worten des Doktors mit Spannung - und
zunehmendem Unbehagen.
„Sie
meinen, dieser starke Haß könnte ein ekliges Ding wie diese Hand
beeinflussen und sie in Bewegung setzten?“ fragte Jimmy. „Na gut,
aber warum ist das nicht schon vor langer Zeit passiert? Ich meine,
es hätte doch jederzeit passieren können, nachdem sie sich – Gott
weiß wie – von diesem Brett gelöst hat, an das sie genagelt war.
Weshalb fällt es ihr grade jetzt ein?“
Der
Doktor strahlte seine Zwei-Personen-Klasse gütig an.
„Wir
haben eben über die Analogie von schwindenden, aber weiter
existierenden Impulswellen gesprochen. Lasen Sie uns jetzt eine
andere uralte magische Theorie in Augenschein nehmen, die von der
modernen Wissenschaft akzeptiert wurde – die der Transmutation. Wir
haben uns lange lustig gemacht über den Glauben der
mittelalterlichen Mystiker, dass man Metall einer Transmutation
unterziehen könne, also zum Beispiel unedle Metalle in Gold
verwandeln. Aber unsere jüngsten Experimente haben gezeigt, dass die
atomare Struktur einer toten Substanz wie etwa einem metallischen Erz
durch das Beschießen mit Elektronen so manipuliert werden kann, dass
sich die atomare Struktur anders arrangiert. Das, was wir tote
Materie genannt haben, kann also vitalisiert und zu so etwas
Zerstörerischem verwandelt werden wie einer Bombe.“
„Diese
Theorie“, warf Jimmy ein, „scheint uns ziemlich weit von unserem
Thema wegzuführen.“
„Überhaupt
nicht! Diese Theorie vorausgesetzt – wer würde es in unseren Tagen
wagen, den Möglichkeiten der Transmutation Grenzen zu setzen? Die
Analogie ist folgende: Sie, ein Abkömmling des Sir d'Auk, besitzen
immer noch die Gene, die in der Lage sind, eine – lassen Sie uns
nicht länger sagen, psychische Kraft, sondern eine elektronische
Energie – oder wir können auch sagen, eine magnetische –
abzustrahlen, die auf die atomare Struktur einer Hand einwirkt, die
wir allzu vorschnell als „tot“ bezeichnet haben. Also war es
nichts anderes als Ihre Präsenz, die im Kuriositätenshop die
immanente Haß-Energie der Hand reaktiviert hat – und damit auch
ihre gegenwärtige destruktive Manifestation.“
„Haß,
Haß, Haß!“ schluchze Eula. „Ich ich nehme an, Sie glauben,
dieses Ding krabbelt jetzt durch die Abflußrinnen der Straßen auf
uns zu und weiß irgendwie auf eine boshafte Weise, dass der
Nachkomme des Mannes, der sie abgehackt hat, hier ist, und sinnt auf
schreckliche Rache.“
Doktor
Harries blickte Jimmy an und nickte sehr ernst. Und Jimmy stellte zum
drittenmal dieselbe Frage, ganz ohne zweifelnden oder zornigen
Unterton.
„Und
was können wir dagegen machen?“
„Wir
haben bisher“ - der Doktor wog die Möglichkeiten mit gnadenloser
Unparteilichkeit ab - „nur die materiellen Quellen seiner
Fähigkeiten diskutiert, und wir wissen aus den Zeitungsberichten,
dass es einen Jagdhund mühelos strangulieren kann. Wir müssen also
auch die Wahrscheinlichkeit einräumen, dass es in der Lage ist,
einen Menschen zu erdrosseln. Wenn Sie die Energiereserven solcher
Erscheinungen in Betracht ziehen, die vermutlich vergleichbar sind
mit den seltsamen physischen Kraftpotentialen von Wahnsinnigen,
müssen wir uns eingestehen, dass wir es hier mit einer tödlichen
Gefahr zu tun haben, einem Wesen, dass nicht nur für das Objekt
seiner Rache lebensbedrohlich ist, sondern auch für jeden, der sich
dieser Rache in den Weg stellt.“
„Hm“
grunzte Jimmy und spürte Eulas Schaudern, die sich eng an ihn
gedrängt hatte. Sein schmaler, entschlossener Mund zeigte, dass er
nicht mehr willens war, die Angelegenheit so leichtfertig abzutun,
wie er es bisher getan hatte.
„Ich
nehme mal an“, fragte er nicht sehr hoffnungsvoll, “Dass es wenig
Zweck hat, einfach davonzulaufen? Wenn das verdammte Ding auf den
eigenen Fingerspitzen so blitzschnell laufen kann, kann es uns auch
überallhin folgen. Wie groß sind die Chancen, dass der Hand das
Benzin ausgeht?“
„Wir
wissen es einfach nicht“, sagte der Doktor abwägend. „Die
Protokolle unserer spiritistischen Gesellschaft zeigen, dass die
destruktiven Kräfte der Jernseitswelt mitunter viele hundert Jahre
fortbestehen können.“
„Tja,
das würde mich auf die Dauer wohl etwas erschöpfen,“ seufzte
Jimmy. „Also können wir genausogut hierbleiben und es vor Ort
ausfechten. Bloß wie?“
„Da
bliebe noch eine weitere Möglichkeit“, meinte der Doktor
hoffnungsvoll. „Sie erinnern sich, dass es keinen Versuch
unternahm, Sie zu verletzen, als Sie das erste Mal auf das Ding
gestoßen sind? Bisher hat es sich nur gegen diejenigen gewandt, die
es belästigt haben, die Dame mit dem Schirm, der Hund des Wilddiebs.
Es wäre immerhin möglich – wenn ich diese etwas beschämende
Option hier präsentieren darf – dass es sich in Ihre Tasche
geschmuggelt und Ihnen später gefolgt ist, weil es eine gewisse
Zuneigung verspürt!“
„Großer
Gott!“ Jimmy riß die Augen auf. „Was meinen Sie damit? Zuneigung
von einem Wesen wie diesem...Wieso?“
„Naja,
es könnte doch sein, wissen Sie...daß, ähm, Ihr Zweig der Familie
von jenem illegitimen Nachkommen abstammt, und dass diese Hand,
genauer gesagt, ihr Besitzer, Ihr Vorfahre war.“
„Allmächtiger!“
Jimmy bekam eine Gänsehaut bei dem Gedanken. „Und jetzt will sie
kuscheln? Sich in der Dunkelheit heranrobben und – Händchen
halten? In kalten Nächten in mein Bett schlüpfen und...“
Eula
quiekte auf. Jimmy sah sich rasch nach ihr um, einen Moment seine
eigenen Schrecken vergessend. Eula war entsetzt über Jimmys morbide
Assoziationen.
„Auf
jeden Fall“, fuhr der Doktor fort, „sind die Fähigkeiten dieser
Manifestation so faszinierend, dass ich, angesichts eines so
authentischen Falles, in Erwägung ziehe, trotz der großen Gefahren,
aus wissenschaftlichem Interesse heraus, Sie bei der Abwehr des
Objekts zu unterstützen.“
Eula
packte seinen Arm und klammerte sich an ihn.
„Oh
bitte! Wir sind so hilflos - und verängstigt! Wir wüßten allein
gar nicht, was wir machen sollen!“
Ihr
kam anscheinend gar nicht in den Sinn, dass sie, da sie ja nicht
direkt ins Geschehen involviert war, einfach ihre Koffer packen und
sich davonmachen konnte.
„Halten
Sie es für ratsam,“ fragte Jimmy, „dass wir uns bewaffnen?“
„Auf
jeden Fall, und zwar sofort! Wir müssen von der Annahme ausgehen,
dass das Ding unmittelbar auf dem Weg hierher ist, und, da es
vermutlich nicht gutartig ist, sich verheerend auf dies Haus und
seine Bewohner auswirken könnte. Es scheint nachtaktiv zu sein,
sozusagen. Äh, diese große Lady in Grau, die hier im Haus
herumschwebt – kann man auf sie zählen - in einer gefährlichen
Situation wie dieser, die gewisse Aspekte übernatürlichen Horrors
mit einschließt?“
„Sie
ist eine der drei Nornen“ bemerkte Eula trocken. „Sie lebt
inmitten all der Schrecken dieses Hauses. Wenn Sie Ihren Annahmen
zustimmt, was die Hand angeht, ist sie auf unserer Seite.“
Mrs.
Medford stimmte den Ansichten von Dr. Harries zu. Sie kannte sich mit
„parapschüchigen Manifestationen“ aus, wie sie sagte. Dr.
Harries wiederum stimmte ihrer Idee zu, eine Seance abzuhalten –
mit ihrer Freundin Mrs. Shaughnessy als Medium.
„Es
gibt immer die Möglichkeit“, räumte er ein, „dass das wandernde
Unbewußte des Mediums mit seinen Gedankenkräften wertvolle
Informationen auftreibt und dann für uns visualisiert –
Informationen, wie man sie manchmal in solchen Fällen auch durch
Hypnose erhält.“
8.
Die
Seance stellte sich als qualvolle Angelegenheit heraus mit
verschwommenen Andeutungen, Gekreisch und boshaften Drohungen. Mrs.
Shaughnessy stöhnte zuerst, wiegte sich hin und her und begab sich
in ihre „Trance“, aus der sie dann die Anwesenheit eines „dunklen
Geistes“ verkündete, der angeblich den Raum ausfüllte und von
jemandem Besitz ergreifen wollte, doch nicht von ihr - er begehrte
die „Kontrolle“ über jemanden, „der dem Haus näherstand.“
Woraufhin Mrs. Medford eine Reihe von Anfällen erlitt, in denen sie
ächzte und zitterte, um schließlich in eine Art starres Koma zu
verfallen. Dann krächzte eine seltsame Stimme aus ihrem Bauch.
„Ich
bin hier!“ sagte sie. „Nicht hier, aber in diesem Haus, bevor es
hier war. Ich schaue durch ein Fenster in einen Gemüsegarten, doch
da ist kein Gemüse, sondern moosiges Kopfsteinpflaster! Und da sind
Menschen und Soldaten in Rüstung und Edle in Samt...“
Plötzlich
schrie sie: „Ich sehe ihn! Da kommt er! Ein schrecklicher großer
haariger Mann! Wird von Soldaten gezerrt...ist mit Eisen-Ketten
gefesselt... Ich sehe ihn!“ Dann schien sie der Mann selbst zu sein
und stöhnte und schauderte mit gequälter tiefer Stimme.
„Es
war eine schreckliche, große, haarige Hand“ bestätigte Jimmy.
Mrs.
Medford begann nach kurzem Schweigen erneut aufzuschreien. „Er hebt
seine Hände mit den Ketten und rüttelt die Fäuste. Es ist...ein
Fluch! Er sagt etwas von...essen und trinken...wachen und
schlafen...leben und steben... 'Ich werde auf dich warten, Lord von
Auberge!' Und die samtenen Edlen lachen, und der Lord sagt: 'Lasst
uns das Urteil des Hohen Gerichts ausführen'“!
Und
dann griff Mrs. Medford nach ihrem Handgelenk, wand sich in
ängstlichem Widerstand und schrie erneut voller Qual auf, um dann
halb von Sinnen zu einem bibbernden und stöhnenden Haufen
zusammenzusinken.
Jimmy
und Eula kamen zitternd aus dem dunklen Raum. Eula rieb sich unbewußt
ihr eigenes Handgelenk. Dr. Harries schien nicht sehr beeindruckt.
„Die meisten dieser Manifestationen sind eigentlich nur Äußerungen
des Unbewußten“, fasste er das bizarre Experiment zusammen,
„obwohl sie eifrig drauf bestehen, 'geist-gesteuert' zu sein,
Verschiedene Eindrücke, lose geformt von einem nicht gut
ausbalanciertem und empfindlichen Gehirn, und gespeist von Gelesenem
oder vom Hörensagen, werden mit erstaunlicher Realität
visualisiert. Dieses Phänomen ist auch die Erklärung für die
meisten Visionen von Heiligen und Madonnen. Obwohl wir natürlich“
fügte er mit kalter Objektivität hinzu, „die Möglichkeit nicht
komplett ausschließen können, dass mache sensiblen Medien quasi als
Empfangsgerät für Wellenlängen einer äußeren Quelle dienen. Wir
waren eben also entweder Zeugen der Visualisierung eines
unausgegorenen Unbewußten, oder“ - seine Akzeptanz dieser
Möglichkeit war furchteinflößend - „ es waren die Ausstrahlungen
einer immer noch sehr starken aktiven Haß-Energie. Kurz: wir können
eigentlich nichts Definitives tun, bevor die Hand hier ist.“
9.
Es
war Lady Jane, die die ersten Anzeichen dafür lieferte, dass sich
etwas Bedrohliches verstohlen näherte. Aus der Dämmerung kam das
durchdringende Gewinsel eines Pudels, der fast zu Tode verängstigt
war, und bald setzte die Kreatur ihr Gekläff unter einen Stuhl fort,
zu dem sie mehr getaumelt als gerannt war.
„Na
gut!“ presste Jimmy durch seine Zähne, „Was können wir tun, um
uns zu verteidigen?“ Er sagte nicht: „Um es zu bekämpfen.“
„Tja...“
meditierte Dr. Harries vor sich hin, „Wenn wir nur wüßten, wie
wir Sie immunisieren könnten – genauer gesagt, wie wir irgendein
undurchdringliches Schild um Sie herum errichten könnten, etwa so,
wie man mit Blei radioaktive Energie abschirmen kann. Dann würde
Ihre Ausstrahlung vermutlich aufhören, auf das Ding zu einzuwirken“.
„Verdammt!“
Jimmys Ungeduld schlug in Wut um. „Ich mach das schließlich nicht
mit Absicht!“
„Natürlich
nicht. Und doch könnte in Ihnen ein unbewußter Willen existieren,
der die Hand anlockt – schließlich wissen wir, dass solche Dinge
sogar bewußt gesteuert werden können, so etwa bei den sogenannten
„Magiern“ des Mittelalters oder afrikanischen Hexenmeistern
unserer Gegenwart. Ein gewisser Schutz wird angeblich gewährleistet
durch diverse „magische Kreise“ oder „heilige Pentagramme“
und so weiter, obwohl ich persönlich nicht viel Vertrauen zu derlei
Abwehr habe. Etwas glaubwürdiger und verläßlicher ist da schon der
bekannte mittelalterliche Glauben an die Kraft von kaltem Eisen gegen
das, was sie damals Hexenkünste nannten – dafür spricht auch,
dass die Hand einst mit einem Eisennagel gegen die Tür genagelt
wurde. Auch war es üblich, Selbstmördern einen großen Eisennagel
durch ihre Körpermitte zu schlagen, weil man glaubte, sie seien im
Tode ruhe- und heimatlose Geister. Es gab aus diesem Grund auch
eiserne Särge und so weiter. Dieser Glaube hat übrigens bis heute
überlebt in Form von eisernen Amuletten und eisernen Kreuzen, sei es
als Medallions oder auf Grabsteinen. Unglücklicherweise können wir
Sie nicht in einen eisernen Sarg legen. Und um die Hand erneut mit
eisernen Nägeln zu spicken, müssen wir sie erst fangen.“
„Klingt
wie eine Kobra-Jagd“, fluchte Jimmy grimmig.“Wie wärs mit dem
Stahl einer Revolverpatrone?“
„Das
wäre eine Möglichkeit. Zwar könnte es sein, dass das Ding auch
nach seiner, äh, Disintegration fortfährt, Sie zu hassen, da die
Haßenergie selbst nicht aufgelöst werden kann, aber das ist dann
vermutlich nur noch eine Frage von theoretischem Interesse, weil
seine physische Möglichkeit, sich zu rächen, zerstört wurde.“
Jimmy
entfuhr ein langer Seufzer, der fast etwas erleichtert klang. Doch
der Doktor fuhr erbarmungslos fort. „Wir könnten damit den ganzen
Spuk los sein, außer natürlich, die hassende Kraft besteht darauf,
in irgendeiner anderen telekinetischen Form weiterzuexistieren. Sie
könnte auf andere Weise Dinge bewegen, zum Beispiel einen
Ziegelstein von einer hohen Mauer auf Sie plumsen lassen.“ Auf
Jimmys gehetzten Blick hin erklärte der Doktor mit brutaler
Fröhlichkeit: „Das Phänomen, warum ein Ziegelstein oder Eimer
Farbe exakt auf eine 'unglückliche Person' niederfallen kann, ist
nie befriedigend geklärt worden.“
„Also
ich gehe jetzt in die Stadt und besorge mir eine abgesägte
Schrotflinte“, verkündete Jimmy düster.
„Wär
es möglich, gleich zwei zu besorgen?“ schlug Doktor Harries mit
kühler Akzeptanz der schlimmsten Möglichkeiten vor. „Und obwohl
es noch hell ist, wäre es vielleicht besser, ich leiste Ihnen auf
Ihrem Weg Gesellschaft.“
10.
Sie
kehrten mit einem ganzen Waffenarsenal und zwei riesigen Boxerhunden
zurück.
„Wenn
die das Ding dabei erwischen, vor dem Haus herumzukrabbeln, und es
fressen oder zerreißen, wird es ausreichend desintegriert sein,
schätze ich,“ erklärte Jimmy Eula.
Eulas
Antlitz verzerre sich angesichts einer so unappetitlichen
Vorstellung. „Ich vermute, die Viecher werden sie zumindest auf
Trab halten“, tröstete er sie. „Aber vergiß nicht, die Hunde
des Wilderers...“
Die
erste Nacht nach der Ankunft des Dings brachte ein wildes Chaos mit
viel Gebell und Geraschel mit sich, das zu nichts führte.
Verstohlene Geräusche drangen aus dem zugewucherten Garten herüber.
Die Hunde verkündeten ihre Aufregung über das, was es auch immer
sein mochte und galoppierten auf ihren großen Pfoten hierhin und
dorthin wie wahnsinnig gewordene Brauereipferde. Bei jedem
Zwischenfall stürzten Jimmy und der Doktor eifrig zu den Fenstern
und durchforschten die dunkle Tiefe mit ihren Blicken. Sie konnten
die schattigen Umrisse der großen Hunde über mondbeschienene
Flecken huschen sehen – aber sonst nichts.
„Es
könnten natürlich auch Ratten sein“ schlug der Doktor vor.
„Klar,
Ratten!“ Eula legte ihre gesamte Verachtung in ihr britisches
Idiom.
„Vielleicht
entdecken wir ja Spuren, wenn es hell wird“ überlegte Jimmy
hoffnungsvoll, „dann wissen wir mehr.“
Die
Spuren, die sie am nächsten Tag neben den Eindrücken der
Hundepfoten fanden, waren hoffnungslos verschmiert. „Hatte dieses
Ding“, fragte der Doktor, „als Sie es in dem Laden fanden, lange
Fingernägel? Wie auch immer“, faßte er die Situation zusammen,
„wir können auf jeden Fall davon ausgehen, dass das Ding
nachtaktiv ist, wie alle dunklen Mächte. Wir werden deshalb mit
großer Wahrscheinlichkeit tagsüber sicher sein – dann jedenfalls,
wenn wir um dunkle Ecken einen großen Bogen machen. Wir wissen nun,
es vermeidet eine überlegende Anzahl von Gegnern, wie zum Beispiel
zwei wütende Hunde. Wir wissen aber auch, dass es, wie im Fall des
Wilderers, in der Lage ist, listig einen Hund zu separieren und
einzeln anzugreifen. Und, da es sich bisher noch nicht offen gezeigt
hat, müssen wir, so sehr ich das bedaure, uns mit der Tatsache
anfreunden, dass seine Absichten definitiv bösartig sind, und daß
es mit tödlicher Intelligenz begabt ist.“
„Vielleicht
könnten wir dann ja tagsüber jagen?“ schlug Jimmy voller Hoffnung
vor. „So können wir jedenfalls nicht weitermachen – mit dem
Wissen, das ein höllisches Etwas in Gestalt einer haarigen Hand
irgendwo auf dem Grundstück herumlungert und darauf wartet, nach
Anbruch der Dämmerung auf jemanden zuzuspringen und ihm die Kehle
zuzudrücken!“
„Wenn
wir es finden könnten! Sein fieser Vorteil ist, dass es sich mit
Leichtigkeit in tausend Ritzen hier im zerbröckelnden Mauerwerk
verstecken kann.“
Mrs.
Medford wußte natürlich, wo „es“ zu finden war. „Es lebt im
Kartoffelkeller!“ verkündete sie, und bevor sie nachfragen
konnten, fügte sie hinzu: „Ich habe es gesehen!“
„Vor
Ihrem geistigen Auge, vermute ich mal“, meinte der Doktor. „Aber
lassen Sie uns die Gewehre nehmen und nachschauen – wer weiß...“
Der
Kartoffelkeller stellte sich als dunkles Gewölbe hinter einer
schweren Tür heraus, erbaut aus riesigen Steinen, kalt und moderig.
Aus den Löchern, die herausgefallene Steine hinterlassen hatten,
tröpfelte Wasser. An den Mauern aufgereihte Tonnen enthielten
Kartoffeln und die Sorte großer Steckrüben, nach denen die
Landbevölkerung inklusive des Viehs so verrückt war. Der Doktor,
der den Keller mit einer völlig unzureichenden funzeligen
Taschenlampe sorgfältig erkundete, vermutete, dass dies einst, in
den Tagen der Brutalität und der hygienischen Sorglosigkeit, ein
lichtloses Verließ gewesen war.
„Gott“
fluchte Jimmy. Die ständige Ungewißheit und wachsende Bedrohung
zerrte an seinen Nerven. „Hier gibt es eine Million kleine
Verstecke. Wenn wir vielleicht eine starke Lampe an einer
Verlängerungsschnur aus dem Haus...“
„Wir
könnten auch dann nicht jedes einzelne Loch finden und erkunden“,
unterbrach Harries. „Wer weiß, wie tief sie in die Wände reichen.
Wir bräuchten Frettchen, wie in einem Kaninchenbau.“ Der Doktor
konnte sich nicht enthalten, in seiner makabren Art warnend
hinzuzusetzten: „Das Ding ist allerdings entschieden gefährlicher
als ein Kaninchen.“
Ein
raschelndes Geräusch in der Ecke ließ beide herumwirbeln. Ein
leises hohes Krächzen entwich Jimmys Kehle, und panisch feuerte er
beide Ladungen seines Gewehrs in diese Richtung.
Der
Strahl der Taschenlampe zeigte, dass er ein paar Zwiebeln und eine
Ratte gründlich „desintegriert“ hatte.
„Und
wir wissen“, konstatierte der Doktor, als ob er den Faden
irgendeiner eben dozierten Theorie wieder aufnahm, „dass es auf
Aggression mit wachsender Rachsucht reagiert.“ Seine
wissenschaftliche Attitüde, selbst in der Stunde der Gefahr, war
entnervend. Die beißende Dämpfe des Schießpulvers vertrieb sie von
diesem unwirtlichen Ort.
„Meine
Güte“, hustete Jimmy. „Was sind Sie bloß für ein Pessimist!“
„Wir
können es uns nicht leisten“ grollte der Doktor, „angesichts
einer Kreatur optimistisch zu sein, die in der Finsternis operiert.
Es ist nicht nur christlicher Aberglaube, dass Licht und das Gute
zusammengehören. Alles, was wir tun können, ist, auf der Hut zu
sein.“
Bei
einem späten Abendessen schlug er vor: „Miss Bogue, ich halte es
für ratsam, dass Sie ab jetzt bei unserer formidablen Haushälterin
übernachten.“
Eula
wedelte heftig mit ihren weit gespreizten Fingen bei dieser Aussicht.
„Huah! Das wäre noch grusliger, als...“
„Und
ich“, unterbrach der Experte sie rüde, „werde mit Mr. Duck
zusammenziehen. Ich schlage vor, wir belegen Räume mit
Verbindungstüren. Am besten die im alten Kapellen-Flügel mit den
vergitterten Fenstern.“
Und
so kam es, dass sich die vier zu einer Nachtwache versammelten, um
gemeinsam durch die Fenster der Katastrophe ins Auge zu sehen.
Tatsächlich schien spät am Abend rund ums Haus die Hölle
losgebrochen zu sein. Krachende Gebüsche, wildes Galoppieren von
Füßen, kläffende Hunde - manchmal bellten sie gemeinsam zur
selben Zeit, wütend hinter etwas herjagend – und dann gab es
wieder getrennte Konfusion; ein Hund schien hysterisch unter einem
Busch etwas anzubellen, das er nicht erreichen konnte, der andere war
wohl überzeugt davon, dass er etwas in einem Abflußrohr in die Enge
getrieben hatte. Und dann wurden die vier Beobachter an den
hochgelegenen Fenstern Zeugen eines echten Schreckens im Mondlicht.
Einer
der beiden Hunde taumelte aus den Schatten hervor, hustend und
würgend, und stolperte unsicher über ein Rasenstück. Im fahlen
Licht sah es zunächst so aus, als hielte er etwas Schlaffes zwischen
den Zähnen, um es furios zu schütteln. Doch als sein Kopf sich von
einer Seite zur andern wand, konnten sie erkennen, dass nichts
zwischen seinen Zähnen steckte, sondern etwas an seiner Kehle hing –
etwas, das alles andere als schlaff war!
Jimmy
und der Doktor schnappten sich ihre Gewehre. Sie rasten die Treppe
hinunter und nach draußen. Doch der Hund war inzwischen in der
Dunkelheit zwischen schattigen Büschen verschwunden. Auf ihre Rufe
hin kam keine Antwort. Nicht einmal vom anderen Hund.
„Wir
sollten uns lieber nicht zu weit in die Schatten wagen“, warnte der
Doktor. „Und auf keinen Fall die Frauen allein lassen!“
An
der Tür standen beide einen Moment wie erstarrt.
„Mein
Gott, wir haben sie offengelassen!“
Im
Haus war allerdings nichts Schlimmes passiert, sah man davon ab, dass
Mrs. Medford sich grade bebend von einer kurzen Ohnmacht erholte.
Eula rieb ihr die Hände. Wasser, das großzügig um das Waschbecken
auf dem Boden verspritzt war, zeugte von Eulas nicht sehr
zartfühlenden Wiederbelegungsversuchen.
„Gott!“
murmelte Mrs. Medford. „Ich...habe es gesehen!“
„Aber
Sie haben es doch schon mal gesehen“, meinte Eula rüde, “und da
sind Sie auch nicht umgefallen und haben mich allein gelassen.“
„Ah“
machte Mrs. Medford. „Aber diesmal habe ich es wirklich
gesehen!
Es war eine schreckliche haarige Hand!“
„Sie
kann sie eigentlich nicht wirklich identifiziert haben“ widersprach
der Doktor mit kalter Sachlichkeit. „Zu wenig Licht, und die
Fenster liegen zu hoch. Wie auch immer, wir haben die Tür für
einige Augenblicke lang nicht im Auge behalten, also bleibt uns
nichts anderes übrig, als zusammen für den Rest der Nacht
wachzubleiben.“
Jimmy
war auf alles und jeden in der Welt wütend, im speziellen auf sich
selbst und seine unkontrollierten Nerven, die es zugelassen hatten,
dass die Tür weit offenstand. „Ja“, krächzte er zynisch, „wir
können uns ja die Zeit mit Gruselgeschichten vertreiben!“ Seine
Hand strich nervös über seine Kehle.
Eula
warf ihm einen vorwurfsvollen Blick zu. „Doktor Harries hat uns nur
gewarnt!“
„Vielleicht“,
gestand der Doktor streng, „habe ich meine Warnungen nicht deutlich
genug ausgesprochen. Vielleicht habe ich das alles selbst nicht ernst
genug genommen. Sonst hätten wir auf die Tür geachtet. Nun ja,
morgen früh sind wir schlauer.“
Alles,
was sie am nächsten Morgen erfuhren, war, dass die Hunde nicht mehr
lebten. Beide Hundeköpfe mit ihren hängenden Backen waren gräßlich
verzerrt, und die Zungen hingen heraus, widerwärtig schwarz
verfärbt.
„Tjjjaaa.“
Der Doktor zog das Wort zischend in die Länge. „Ausgekocht genug,
um sie bis zur Erschöpfung herumzujagen, durcheinanderzubringen und
sich dann einen nach dem andern vorzunehmen. Wir müssen, solange wir
Tageslicht haben, das ganze Haus äußerst gründlich durchsuchen.
Und zwar Raum für Raum.“
„Hunde
nützen hier nichts“, konstatierte Jimmy. „Ich werde in die Stadt
gehen und einen Wachmann engagieren. Und ihn, bei Gott, mit einer
Wagenladung Taschenlampen ausstaffieren. Und mit einem MG.“
11.
Jimmy
kehrte spät zurück. „Ich hatte verdammte Mühe, jemanden zu
finden, der den Job annehmen wollte! 'Nicht auf Dockbridge Manor!',
sagten die meisten, mit hervorgequollenen Augen. Wieso nicht? 'Weil
es verflucht ist'. Keine geisterhaften Verwandten des alten
Geschlechts gehen da angeblich um, nein, 'schwarze Dinger', und es
gäbe Skelette toter Männer unterm Haus, so die Legende, und jeder
verdammte Bauerntölpel der Gegend macht sich vor Angst in die Hosen.
Aber ich hab letztendlich einen guten Typen ergattert. War Wachmann
im Whitehaven-Gefängnis, sagt er, und er würde auch einen Friedhof
bewachen, wenn er gut bezahlt wird. Habt ihr hier inzwischen
irgendwas gefunden?“
Dr.
Harries schüttelte seinen Kopf. „Nichts, das uns wirklich
weiterbringen würde; wir haben uns wahrscheinlich bei der Suche nur
noch verrückter gemacht, und genützt hat sie kaum etwas.
Dutzendweise Rattenlöcher in dunklen Ecken hinter Wandschränken und
Küchenregalen. Manche davon groß genug für eine Katze. Jetzt, wo
sich herausstellt, dass Hunde nutzlos sind, wünschte ich, dass wir
eine Katze hätten – eine große, meine ich, einen Leoparden etwa –
ein Jagd-Tier, das auch im Dunklen sehen kann...“ -
Es
war fast so etwas wie eine Erleichterung nach all der Ungewißheit,
als die Männer in der folgenden Nacht von Eulas Schreien im nächsten
Raum wach wurden. Hineinstürzend, fanden sie sie hysterisch weinend
in Mrs. Medfords Armen. Mrs. Medford orakelte: „Diesmal hat sie
es gesehen! Ich habe friedlich wie ein Baby geschlafen, als ich wach
wurde und sie kreischen hörte: 'Da, da ist ist sie!' und ich frag:
'Wo, wo denn?', aber was immer sie gesehen hat, war zu schrecklich,
und da ist sie durchgedreht...“
Eula
fiel Jimmy um den Hals. „Bing mich hier weg!“ stöhnte sie. „Oh,
bring mich weg hier, vor diesem schrecklichen Ort!“
Alles
was er dazu sagen konnte, war: „Ich könnte dich
hier wegbringen. Aber bei mir hätte es keinen Zweck, davonzulaufen.
Wir wissen, dass es uns immer weiter verfolgen kann, ohne müde zu
werden. Wir müssen hier ausharren! Das stimmt doch, Doktor?“
„Ich
fürchte ja. Flucht würde die Sache nur in die Länge ziehen, und
hier kennen wir wenigstens die Bedingungen. Wir müssen es hier
durchstehen -
und
da wir nicht wissen, wie man seine Kräfte neutralisiert, muss es
vernichtet werden. Hoffen wir, dass es zerstörbar ist. - Versuchen
Sie uns zu erzählen, was Sie gesehen haben!“
Eula
zeigte bebend zum Fenster. „ Da draußen... Ich konnte nicht
schlafen...natürlich nicht... und vom Bett aus konnte ich die
Silhouette dieser Äste sehen. Und plötzlich war es da! Diese Augen!
Es hat boshafte kleine rote Augen. Es saß auf einem Zweig und
wartete.“
Verwirrt
sah der Doktor Jimmy an.
„Diese
Regenschirmfrau“ erinnerte ihn Jimmy. „Auch sie sah die roten
Augen. Eng, wie bei einer Spinne, und alle Welt hat das Ding ja auch
für eine Spinne gehalten. Jedenfalls hat es einen ekelhaften Ring an
einem Finger. Ich dachte, ich hätte Ihnen davon erzählt – eine
schwarze flache Scheibe mit zwei roten Steinen.“
„Hm...
ich frage mich...Ich frage mich, ob das der Schwarze Spiegel und die
Roten Augen des Anubis sein könnten...“
„Was
sind die Roten Augen des Anubis?“
„Aber
nein.“ Der Doktor verwarf die Theorie. „Das ist alte ägyptische
Magie von schrecklicher Stärke. Das trifft hier nicht zu... Das hier
ist schwarzer normannischer Haß – die Geschichte der Hand hat es
klar genug bewiesen. Und Sie, meine Liebe, müssen versuchen, noch
etwas Schlaf zu bekommen. Wir können uns keinen weiteren
Nervenzusammenbruch in dieser alles entscheidenden Zeitspanne
leisten. Lassen Sie Ihre Tür offen. Jimmy und ich werden uns mit der
Wache abwechseln.“
„Ich
schätze“, grollte Jimmy, „Wir können diesem idiotischen
Wachmann keine Schuld geben – wie soll er so etwas Flüchtiges wie
eine Ratte ausmachen, die auf einen Baum klettert? A propos klettern
– sie könnte die Distanz doch nicht gesprungen sein, oder?“
„Sechs
Meter hoch? Sehr unwahrscheinlich. Na jedenfalls, an unserem
Zimmerfenster steht kein Baum. - Irgendwelche Präferenzen, was Ihre
Schicht angeht?“
„Ich
nehme die erste“ beschloß Jimmy. „Ich könnte sowieso nicht
schlafen – selbst unter Drogen nicht... Ich werde mir eine Pfeife
anzünden und wachbleiben. Ich denke, wir können nun wirklich
endgültig ausschließen, dass das Ding, wie Sie neulich
schrecklicherweise vorgeschlagen haben, freundlich gesinnt ist. Es
ist auf Rache aus.“
„Ich
fürchte ja. Ich fürchte es sogar sehr. Also – riskieren Sie es
nicht, auch nicht für eine Sekunde, einzunicken! Wecken Sie mich,
wenn Sie irgendwas hören.“
Dazu
hatte Jimmy nur allzu bald Gelegenheit. Der Doktor gehörte zu den
Menschen, die die Fähigkeit besitzen, sofort hellwach zu sein. „Was
gibt’s?“
„Da
ist ein kratzendes Geräusch im Efeu draußen unterm Fenster!“
flüsterte Jimmy.
Doktor
Harries' Antworet war laut. „Ich wünschte, wir könnten so tun,
als wenn es Ratten wären. Oder ein Einbrecher. - Es scheint nicht
sehr ängstlich zu sein. Klingt so, als hätte es inzwischen die
Fensterbank erreicht... Licht! Um Himmels willen, schnell! Licht!“
Die
altmodische Glühlampe an der Decke leuchte zwar den Raum aus,
erreichte aber nicht die Außenwelt. Mir demselben Impuls griffen die
beiden Männer nach ihren Waffen, rannten zum Fenster und lenken die
Strahlen ihrer starken Taschenlampen durchs Fensterglas.
Was
immer auch dort entlang gekrabbelt war, war flink genug gewesen, um
rechtzeitig zu verschwinden. Jimmy riß das Fenster auf, noch bevor
der Doktor schreien konnte: „Nein! Großer Gott, nicht!!“ Der
helle Lampenschein enthüllte nichts. Nur ein Rückzugs-Geraschel
ertönte aus dem Efeu.
„Ha!“
Der Dokor wirkte etwas befriedigt. „Wie ich mir gedacht habe. Es
existiert am liebsten im Dunkeln. Licht ist bis zu einem gewissen
Grad eine Verteidigungsmöglichkeit.“
„Schauen
Sie!“ Jimmy flüsterte wieder, ziemlich heiser. Er hatte den Strahl
seine Lampe auf das Fensterbrett gerichtet.
Dort,
im Staub, war ein Abdruck! Der Abdruck einer Hand! Der Abdruck von
langen verdrehten Fingern und einer Handfläche – und dünne
Kratzer von ungeschnittenen Nägeln.
Von
unten blitzte plötzlich der Strahl einer weiteren Taschenlampe auf.
Die undeutlichen Umrisse des Wachmanns waren dahinter zu erkennen.
„Alles o.k.?“ rief er.
„Wissen
wir nicht!“ antwortete der Doktor schnell, bevor Jimmy die
gräßliche Entdeckung hinausposaunen und den Mann trotz seiner
vorgeblichen Tapferkeit verschrecken konnte. „Wir haben etwas im
Efeu gehört. Sollten Sie es auch hören – stellen Sie keine
Fragen! Schießen sie sofort auf das Geräusch!“
„Will
ich gern machen, Sir. Aber das Efeuzeug ist ein guter Ort für
allerlei Ungeziefer, Ratten und Spatzen und was weiß ich alles, hier
mitten auf dem Land.“
„Tja,
wie es aussieht“ seufzte Doktor Harries, „ist so ein Wachmann
hier genauso unnütz wie ein Hund.“ Energisch schloß er das
Fenster.
„Wieso
hat...“ Jimmy konnte sich das ehrfürchtige Flüstern nicht
abgewöhnen. Etwas weigerte sich in ihm, in dieser turbulenten Nacht
normal zu sprechen. „Wieso hat es nicht das Glas zerbrochen und ist
hier hereingesprungen? Es konnte damals doch auch das Ladenfenster
zertrümmern.“
„Ich
weiß nicht recht...“ Doktor Harries zog die Augenbrauen zusammen.
„Das waren damals kleine Bleifenster, oder? Könnte es sein, dass
es weiß, dass wir bewaffnet sind und dass wir es – desintegrieren
können? Oder könnte es sein...das wäre doch immerhin möglich...
dass die kalten Eisenstäbe an den Fenstern... Wir wissen so wenig.
Wirklich, wie wenig wissen wir über die Dunklen Mächte! Wir wissen
nur eins – das Ding hat tödliche Kräfte.“
„Die
Hand eines Toten!“ murmelte Jimmy, seine Augen starrten ins Nichts.
„Aufgeladen mit Haß! Fähig zu krabbeln! Fähig zu rennen! Fähig
– zu würgen...!“
„He,
he!“ Der Doktor packte und schüttelte ihn. „Reißen Sie sich
zusammen! Wenn Sie zulassen, dass Ihre Nerven schlappmachen, sind Sie
verloren! Sehen Sie denn nicht, dass die Hand genau das versucht zu
erreichen? Wie bei den Hunden – erst macht sie Sie konfus und
hysterisch...und dann... Kommen Sie, lassen Sie sich nicht gehen!“
„Puuh!“
Jimmy stieß einen langen Seufzer aus und schüttelte seinen Kopf.
„Die ganze Sache ist nur so schrecklich ekelhaft! Ein bösartiges
Ding von der dunklen Seite der Welt...mit allen Vorteilen auf seiner
Seite...“
„Nicht
mit allen“, ermutigte der Doktor ihn. „Wir haben zum Beispiel das
Licht auf unserer Seite. Sogar Taschenlampen helfen. Keine Ahnung,
warum das so ist. Es scheint so, dass eben die dunklen Mächte eben
auch am besten im Dunkeln funktionieren. Was natürlich auch ein
Grund dafür ist, dass wir sie so fürchten.“
Jimmy
schüttelte sich, um die Anspannung seiner Nerven, die sich durch die
ständige Angst wie Drahtseile anfühlten, zu lockern. „Da haben
Sie verdammt recht, Doc. Und wir werden nicht aufgeben. Was ist mit
dem Wachmann da unten? Sollten wir ihm nicht einen Hinweis geben?
Könnten wir nicht zumindest andeuten, mit welcher Art von Bedrohung
wir es zu tun haben?“
„Vor
allem, mit welcher Art von Bedrohung er
zu
rechnen hat. Falls das Ding an ihm hochkrabbelt, ohne daß er
weiß...“
„Ich
sags ihm gleich morgen früh“, seufzte Jimmy. „Bevor er nach
Hause geht. Ich hoffe, er kommt danach wieder her!“
12.
Er
sagte es dem Wachmann nicht gleich am Morgen. Weil da nämlich kein
Wachmann mehr war. Ein widerliches Gefühl der Frucht ließ Jimmys
Körperhaare sich kerzengrade aufrichten, als er das Grundstück
durchstreifte, immer in der Erwartung, einen schlaffen Körper mit
schwarzem Gesicht irgendwo unter einem Busch oder einer dunklen Ecke
mit zerbröselndem Mauerwerk zu finden. Er entdeckte Fußspuren.
Keine (Gott sei Dank!) Handspuren. Große plattfüßige
Stiefelspuren. Der Mann war hier wacker auf- und abpatrouilliert. Und
doch war er vollkommen verschwunden.
„Also
– dieses Teufelsding kann doch keinen Mann komplett
dematerialisieren, oder?“ fragte Jimmy den Experten, als er mit ihm
und Eula die Tagesplanung besprach. „Oder gibt’s da etwas, das
wir dringend wissen sollten?“
Der
Doktor schüttelte den Kopf. „Neinnein. Ich bin mir sicher, die
Gefahr ist ganz und gar physischer Natur.“
„Ich
vermute mal, er hat das Viech gesehen und ist nach Amerika
emigriert.“
In
diesem Moment tauchte Mrs. Medford aus dem Nichts auf und sprach
ihr legendäres „Ahhh!“. Und fügte hinzu: „Schauen Sie in den
Kartoffelkeller!“
„Oh
nein!“ Das kam von allen dreien gleichzeitig. „Nicht schon wieder
eine von Ihren Horror-Visionen!“
„Keineswegs,
Sirs und Madam. Aber ich kenne diese Wachmann-Typen. Ich wette, er
ist in den Kartoffelkeller gegangen, um nach einem kühlen Bier zu
suchen. Die meisten Leute in dieser Gegend sind ständig auf der
Suche nach Bier und benehmen sich deswegen oft etwas – ähem -
irregulär. Warum sonst hätte er seinen guten Job am Gefängnis
aufgeben müssen? Können Sie mir das verraten?“
„Ich
geh runter“, verkündete Jimmy in das Schweigen hinein.
„Sei
bloß vorsichtig!“ rief Eula erschrocken.
„Einen
Moment noch!“ wiegelte der Doktor ab. „Mir kommt da eine
Idee...ich muß dringend etwas in diesen alten Schwarten
nachschlagen...es wird nicht lange dauern.“
Doch
Jimmy war zu angespannt und ungeduldig. „Ich werde meinen kleinen
'Disintegrator' mitnehmen“!, verkündete er grimmig. „Und eine
Taschenlampe. Ich habe selbst eine Idee, und außerdem kann es sein,
dass der Mann dringend Hilfe braucht.“
„Schön!
Wenn Sie irgendetwas finden, rufen Sie“, gab der Doktor nach,
offensichtlich zwischen Forschungs- und Tatendrang hin- und
hergerissen.
Tatsächlich
entdeckte Jimmy flache Stiefelspuren, die direkt in den Keller
führten. Als sie dem Eingang näher kamen, waren nur noch die
Zehenspitzen zu sehen. Die große Tür stand offen. Jimmy starrte die
abgenutzten schleimigen Stufen hinunter. Er rief. Lauschte
hoffnungsvoll auf den Atem eines Betrunkenen. Die einzige Antwort war
das langsame mahlende Knarzen der Tür während einer Windböe. Es
erinnerte ihn an ein altes Horror-Hörspiel. Fluchend klemmte er
einen Pflasterstein unter die Leiste. Sich vorlehnend, sah er die
Stiefelspitze auf der schlammigen Schwelle und, logischerweise, auch
auf der ersten Stufe. „Idiot!“ grummelte er und stieg behutsam
hinab, vorsichtig die glitschigen abgeschabten Steinplatten
sondierend.
Nichts
war im Keller. Es war derselbe düstere feuchte Ort, den er das
letzte Mal gesehen hatte, säuerlich riechend, allerdings nicht nach
schalem Bier, sondern gehortetem Gemüse. Diesmal feuerte er nicht
hysterisch auf raschelnde Ratten. Er ließ den Strahl seiner
Taschenlampe langsam über die Tonnen und die dunklen Lücken
dazwischen gleiten. Nichts.
Oder
doch? Da war noch eine weitere Tür. Grün in der moosigen Mauer, so
dass er sie fast übersehen hätte. Der Schein der Lampe hätte sie
wohl selbst kaum enthüllt, wären ihm nicht die helleren Reflexionen
an Schwelle und Scharnieren aufgefallen. Jimmy trat näher. Und
wahrhaftig – das schwammige Grünzeug war an diversen Stellen mit
einem stumpfen Gegenstand weggekratzt worden, als ob jemand es von
den uralten verwachsenen Trümmern befreien und die Öffnung
freilegen wollte. Und da, auf der Schwelle, lag das Werkzeug – das
splitterige Fragment einer Holzlatte, vermutlich von einer Laube
draußen im Garten.
„Ich
frage mich...“ murmelte Jimmy laut vor sich hin, „ich frage mich,
ob er gedacht hat, dass das Ding hier drin ist...?“
Ein
grünspanverfärbter Messing-Türknauf zog seine Hand magisch an. Mit
Leichtigkeit konnte der Tür zu sich aufziehen. Drinnen herrschte
klamme Dunkelheit. Er stand unentschlossen im Türrahmen und
leuchtete mit seiner Lampe hierhin und dahin. Auch dort standen
wieder Tonnen herum – oder genauer gesagt, es gab jede Menge
Eichenregale, und in den Eichenregalen befanden sich Eichentonnen.
Ungewöhnlich lange schmale Eichentonnen. Eher Eichenkästen...
Eine
vage Ahnung davon, was das hier wohl für eine Art „Lager“ sein
mochte, kroch Jimmy den Rücken ins Hirn hinauf. Seine Nase kräuselte
sich, unsicher schnüffelnd, als er sah, dass von einem der Kästen
der Deckel seitlich-schief herunterhing. Der weißliche Schein, der
durch den Schlitz im Strahl der Lampe reflektiert wurde, konnte
nichts anderes sein als ein Knochen.
„Alter
Schwede -Eine Krypta!“ Jimmys natürlicher Impuls ließ ihn
zurücktaumeln. Dabei huschte sein Lampenlicht über einen Körper am
Boden. Kein Skelett. Die zusammengekrümmte Gestalt war unverkennbar
der Wachmann!
Der
rauhe Ärmel des Wächters bewegte sich schwach.
„Oh
Gott!“ Jimmy stürzte hin und beugte sich hinunter, um ihn
aufzurichten. Er war schwer. Er rief über seine Schulter: „Hilfe!
Ich hab ihn gefunden!“
Eine
auffrischende Böe mußte seine Stimme verweht haben. Wumm! Ein
Windstoß hatte innere Tür zufallen lassen, schnitt das Dämmerlicht
ab und ließ Jimmy nur mit dem dünnen Strahl seiner Taschenlampe in
pechschwarzer Finsternis zurück.
Er
fluchte. Sein Blut gefror in den Adern. War das wirklich ein Windstoß
gewesen? Er hatte keine Zugluft gefühlt. Er mußte den Mann
unbedingt so schnell wie möglich hier herausschaffen. In einer
Krypta zu stehen war zu schon gruselig genug. Aber in ihr einen
bewußtlosen Wachmann zu finden -entweder verwundet oder
stockbetrunken – wäre wohl ein Schock für jedermanns Nerven
gewesen. Und in einem Leichenhaus eingeschlossen zu sein,
abgeschnitten von Licht und Ventilation, das war... Jimmy konnte
seinen Mut nur ,it hilfe von kräftigen Schimpftiraden
aufrechterhalten.
Seine
Lampe auf Permanent-Licht gestellt, beugte er sich erneut angewidert
und in panischer Hast hinab, um dem Mann aufzuhelfen. Mit seiner
abgesägten Flinte in der Armbeuge war es allerdings schwierig, ein
so unhandliches steifes Ding in den Griff zu bekommen. Und plötzlich
dämmerte ihm die Bedeutung dessen, was er da fühlte. Der Mann war
steif! Totensteif!
Wie
hatte sich dann sein Ärmel bewegen können? Jimmy schrie erneut um
Hilfe. Vergeblich.
Und
in diesem Moment schmetterte ihm ein knochenhartes Etwas die Lampe
aus der Hand. Wie in Zeitlupe konnte er den kreiselnden Lichtbogen in
der Luft sehen, dann schlug sie klirrend in einer Ecke auf und
erlosch.
Jimmys
Atem produzierte ein quiekendes Stöhnen. Sein Magen sackte eine
Etage tiefer, sein Blutkreislauf schien zu stocken. Dichteste
Schwärze und tiefste Stille umflossen ihn. Mit butterweichen Knien
sank er auf den Boden, hinab zu dem Körper, den er versucht hatte zu
retten. Sogar dieser Rest eines Menschen war ihm ein Trost in diesem
Moment. In der Dunkelheit konnte er nur schwach die
geisterhaft-grünlichen Nachbilder der Lichtbogen erkennen, die die
fliegende Lampe auf seiner Netzhaut zurückgelassen hatte. Sie
schienen das einzige Zeichen dafür zu sein, dass seine Sinnesorgane
überhaupt noch funktionierten. Oder doch nicht? Eins schien
jedenfalls nicht versagt zu haben – sein Gehör. Er lauschte
verängstigt. Er konnte seinen Puls hören – wie einen
hartnäckigen, nutzlosen kleinen Gummihammer. Also hatte der Schock
ihn nicht taub gemacht.
Er
mußte sich bewegen!
Er
schob sich von dem Kadaver weg, auf dem er gelegen hatte und robbte
in Richtung Tür. Ein Schlag traf ihn ins Gesicht und ließ ihn
benommen zurückwanken. Ausnahmsweise fluchte er nicht und segnete
dankbar den Schmerz. Was ihn getroffen hatte, war faulig-feucht, es
war die Ecke einer der alten Särge gewesen. Das brachte ihm seine
Orientierung zurück, zumindest kannte er nun wieder die Richtung zum
Ausgang.
Er
krachte gegen die Tür. Das musste sie jedenfalls sein...Seine Hände
fummelten verzweifelt herum und fanden schließlich die feuchten
Rahmen, die geraden Linien der Pfosten. Er tastete in fliegender Hast
auf jeder Seite die Fugen ab. Verbissen, immer wieder, rundherum.
Es
gab keinen Knauf an der Innenseite!
Jimmy
ließ sich schlaff gegen die Tür fallen. Er konnte fühlen, wie
seine Knie sich gegen sie drückten und seine Brust langsam an den
schleimigen Brettern nach unten rutschte.
Ein
schreckliches Geräusch schreckte ihn alarmiert hoch. Ein Geräusch,
das, für sich genommen, gewöhnlich und harmlos war. Nur hier
drinnen war es entsetzlich.
Ein
verstohlenes Rascheln.
Es
kaum aus der greulichen Kiste mit dem halboffenen Deckel. Es war das
Kratzen knochiger Finger mit zugespitzten Nägeln.
Jimmys
Atem kehrte zurück mit einem absurd klingendem „whhoooohh“! Und
aus der tiefen Finsternis heraus feuerte er auf das Geräusch.
Erneut
Totenstille.
Eine
winzige verzweifelte Hoffnung erhob ihr Haupt in ihm. Konnte es
vielleicht sein, das es in dieser schwarzen Hölle einen gnadenvollen
Gott gab und sein Schuß das „desintegriert“ hatte, (kein anderes
Wort wollte ihm grade einfallen), was auch immer dies Geräusch
hervorgerufen hatte? Jimmys verängstigtes Bewußtsein weigerte sich,
dem „Ding“ den Namen zu geben, den es im Grunde nur zu gut
kannte.
Und
dann schrak sein ganzes Selbst nochmals heftig zusammen beim Geräusch
kratzender Fingernägel. Nein, das waren keine Ratten. Ratten klangen
auf keinen Fall so. Ratten tappelten mit weichen Pfoten. Sie huschten
harmlos hin und her. Sie quiekten fröhlich. Ratten waren
freundliche, warmherzige Mitbewohner menschlicher Behausungen. Sie
waren...
Plop!
Das Krabbelgeräusch verlagerte sich auf den feuchten Boden. Jimmy
feuerte wie wahnsinnig in diese Richung. Lauschte angespannt. Seine
Sinne nahmen schockierend klar die qualmverseuchte Luft wahr.
Reflektierten schockierend klar, dass er das Pulver zum letzen Mal
roch. Das eben war seine letzte effektive Verteidigung gewesen. Keine
abgesägte Schrotflinte der Welt konnte öfter als zweimal abgefeuert
werden. Und eigentlich waren mehr als zwei Schüsse auch nicht nötig
bei solch einer Waffe. Jedenfalls nicht, wenn man sie gegen einen
Feind von dieser Welt richtete.
Und
dann kreischte Jimmy auf. Sämtlicher Atem entwich seinen Lungen, als
er spürte, wie plötzlich etwas außen an seinem Hosenbein
heraufkrabbelte, über seinen Rücken huschte und dann mit kalter
Brutalität auf seine Kehle zusprang, um sie zu zermalmen!
Jimmy
riß aus Leibeskräften an dem Ding. Auch nicht das klitzekleinste
bißchen Hoffnung auf Gottes Gnade war in ihm verblieben. Das war ES!
Vertrocknetes Fleisch, abstoßend drahtiges Haar und überlange
Nägel! Sie rissen an Jimmys Hals mit manischem Haß.
Jimmy
gelang es, mit all der Kraft seiner beiden Hände den Griff um ein
Geringes zu lösen, um wenigstens die Luft in den Lungen zu ersetzen,
die sein langgezogener Schrei hinausgepresst hatte. Das Ding, agiler
als jede Ratte, ließ kurz von seiner Kehle ab, wand sich los,
verschwand in der Dunkelheit, um Sekunden später erneut aus dem
schwarzen Nichts heraus seinen Hals von hinten anzugreifen. Erneut
zog es sich zurück, um mit furchtbarer Wucht in Jimmys Gesicht zu
klatschen. Allerdings schien es von der modernen Technik, mit einem
Kinnhaken den Gegner auszuknocken, keine Ahnung zu haben. Es zielte
wahllos auf jeden Teil des Kopfes. So schnell wie die Angriffe aus
der Finsternis kamen, war es Jimmy unmöglich, sie abzuwehren.
Jeglicher Vorteil lag bei dem personifiziertem angestauten Haß, dem
grausigen Wesen, das sich im Dunklen orientieren konnte. Das Ding
konnte anscheinend einen Mann ganz nach seinem rachlustigen Gutdünken
zusammenschlagen.
Mit
Armen und Ellbogen , wie ein bereits geschlagener Boxer, versuchte
Jimmy fuchtelnd sein Gesicht zu schützen. Dann war das Ding wieder
an seiner Kehle, als ob es wußte, dass sein Opfer von den Schlägen
und dem Qualm der Schüsse zu benommen war, um sich noch lange zu
wehren.
Jimmys
äußerste Verzweiflung gab ihm die Kraft, die mumifizeirte Hand
abermals von der Kehle wegzureißen. Er konnte spüren, wie das Blut
seinen Hals hinunterlief. Und das Ding, das keine Pause brauchte,
hämmerte erneut auf sein Gesicht ein. Es flog durch die Luft, es
schien von überall zu kommen und Schläge gegen seine Schultern,
seine Arme, ja sogar gegen seine Brust auszuteilen, auf jeden Platz,
den es mit einem Sprung erreichen konnte. Plötzlich verfehlte es
einen Hieb. Sein eigener gewaltiger Schwung beförderte es mit hohlem
Ploppen gegen einen Sarg. Es klatschte auf den Boden.
Mit
wilder Hoffnung sprang Jimmy drauflos, beide Füße geschlossen, um
es mit einem Satz zu zerquetschen. Daneben! Und da war es wieder,
kletterte sein Hosenbein hinauf, ein teuflisches Insekt der
Finsternis, voll boshafter Vitalität, überbordend mit dem Willen zu
töten. Jimmys Beine stolperten über das andere tote Ding im Raum –
die Leiche. Deren steife Gliedmaßen ließen ihn straucheln. Er fiel.
In selben Augenblick fühlte er krabbelde Finger auf seiner Brust.
Sein panischer Griff fing es diesmal ab. Mit wenig Effekt. Die Kraft
der Hand war so gewaltig, dass es ihr gelang, Jimmys eigene Hände
an den Hals zu legen. Tote Finger zwangen lebende ins Fleisch.
Benommen glaubte Jimmy, Stimmen und Gehämmer an der Tür zu hören.
Das
flößte ihm neuen verzweifelten Mut ein. Er wrang das Ding abermals
von sich los. Er wußte, daß er mit den Krallen auch eigenes Fleisch
mitriß. Die Monstrosität wand sich aus seinen Händen. Jimmy
versuchte, von ihr wegzurollen. Schlechter Plan. Auf dem Boden konnte
die Hand jeden erdenklichen Punkt wählen, um ihn erneut wirkungsvoll
anzuspringen. Jimmy quälte sich hoch auf die Knie. Dann war es
wieder soweit – ein neuer Spung an die Kehle. Seine überspannten
Nerven ließen Lichtblitze vor seinen Augen tanzen...
Doch
dann gab das Biest ihn plötzlich auf. Jimmy war in der Lage, ein
paar lebensrettende Atemzüge zu machen und wild mit den Armen zu
fuchteln. War es möglich, dass solch ein Geschöpf sich von so etwas
Weichem wie einer menschlichen Faust für einen Moment aufhalten
ließ...?
Nein
- es waren nicht seine Fäuste, die das Ding zum Rückzug zwangen.
Die Lichtblitze explodierten nicht in seinem Kopf. Sie waren real.
Grelle Strahlen von Taschenlampen... Der Doktor versuchte, Jimmy dazu
zu bringen, seine ziellosen hysterischen Schläge aufzugeben. Er
mühte sich damit ab, ihm aufzuhelfen und wurde dabei von Eula
behindert, die sich heftig schluchzend auf Jimmy geworfen hatte. Der
Doktor gab ihr eine Ohrfeige. „Kommen Sie zu sich! Fassen Sie mit
an! Dieser Ort ist verseucht mit den Ausdünstungen aller möglichen
höllischen Dinge!“
Jimmy
war in der Lage zu krächzen: „Paßt auf! Es ist hier! Es kommt von
überall!“ Eula produzierte in ihrer Hysterie abgerissene Quieker.
Zusammen zogen die beiden Jimmy aus der Krypta. Der Doktor trat mit
dem Fuß die Tür ins Schloß – absurderweise, denn sie hatten
vorher die Füllung herausgetreten. So schnell sie konnten, rutschend
und sich an den Wänden anklammernd, zerrten sie ihn über die
schleimigen grünen Stufen hinauf ans gesegnete Tageslicht. Auch oben
schlug der Doktor die Tür zu.
13.
Es
war Mrs. Medford, die zuerst den Mut aufbrachte vorzuschlagen,
zurückzugehen. Nachdem Jimmy gesäubert, sein Hals verbunden war und
ein hochprozentiger Aufmunterer die Runde machte, den nur Mrs.
Medford ablehnte, erwog sie laut diesen Gedanken.
„Jetzt
nach dem Kampf ist es so schwach, wie es später vielleicht nie
wieder sein wird. Licht, sagen Sie, erschreckt es. Wenn es überhaupt
zerstört werden kann, dann jetzt.“
Der
Doktor blickte versonnen auf diese außergewöhnliche Frau. Dann
begann er langsam zu nicken. Auch Jimmy nickte mit verkniffenen
Lippen. Selbst Eula schlug die Hände vors Gesicht – und nickte.
Und
so kehrten sie zurück – mitsamt der abgesägten Schrotflinte und
einer Taschenlampe für jeden. Die äußere Tür zum Keller war immer
noch geschlossen. Die innere war zerbrochen – so, wie sie sie
verlassen hatten.
„Sie
ziehen sie auf!“ befahl der Doktor Jimmy. „Ich stehe bereit –
mit der Flinte!“
Innerhalb
der Krypta bewegte sich nichts. Die Lampenstrahlen enthüllten nur
die schmierigen Pfützen, in denen Jimmy sich gewälzt hatte. Pfützen
- und eingekerbte Kratzer von Fingernägeln. Aus Jimmys Kehre
röchelte ein gequältes Stöhnen der Erinnerung, und er ließ seinen
Lichtstrahl zum Sarg hinaufwandern. Der weiße Knochen, den er schon
vorher dort gesehen hatte, befand sich noch an Ort und Stelle – im
Spalt zwischen Sarg und Deckel.
Eula
schrie. Der Doktor erhob das Gewehr, um es gleich wieder sinken zu
lassen. Dann pfiff er erstaunt. Mrs. Medford trompetete: „Aaah! Ich
hätte es wissen müssen!“
Das
weiße Ding war ein Armknochen – an dem die Hand fehlte!
Der
Doktor sah die anderen mit runden Augen an. Er zeigte mit dem Finger
auf den Sarg und flüsterte: „Es ist da drin! Genau da, wo es
hingehört!“
So
leise wie möglich, als handle es sich darum, eine giftige Schlange
zu fangen, reichte er Jimmy sein Gewehr. Dann rannte er auf den Sarg
zu, schob den Knochenarm hinein und zerrte den Deckel auf seinen
Platz zurück.
„Helft
mir!“, rief er aufgeregt, „helft mir, es drinnen zu halten! Wir
wissen nicht, wie stark es ist!“
Alle
zusammen, ihre Abscheu überwindend, packten sie den langen hölzernen
Kasten.
„Licht!“,
keuchte Dr. Harries. „Raus ins Sonnenlicht!“
Tollpatschig,
ständig einer dem andern im Weg, verzweifelt den Deckel
niederhaltend, zogen und schoben sie den Sarg aus dem Regal.
Schleiften ihn die feuchten Stufen hinauf und stellten ihn in die
warme Sommersonne.
Dann,
mit erstaunlicher Courage, wuchtete der Doktor sein ganzes Gewicht
auf den Sarg. Er winkte Jimmy, sich zu ihm zu gesellen. Winkte Eula.
Sie kam, zog es aber vor, nicht direkt auf dem Sarg zu sitzen,
sondern auf Jimmys Schoß.
Mrs
Medford dröhnte: „So, nun haben Sie es also gefangen. Vielleicht
können Sie uns nun auch verraten, sie Sie es schaffen wollen, dass
es gefangen bleibt!“
Des
Doktors Blick verschwamm, er kramte gedanklich in den Archiven seines
dunklen Wissens.
„Keine
Ahnung!“, gab er zu. „Ich gehe mal davon aus, dass es fürs Erste
im prallen Sonnenlicht keinen Versuch machen wird, auszubrechen.
Lassen Sie mich nachdenken... Mein unmittelbarer Gedanke ist –
Nägel. Eisennägel. Bestimmt weiß Mrs. Medford, wo welche sind. Ach
übrigens, das wäre mein zweiter Gedanke – was ist eigentlich mit
dem unglücklichen Wachmann passiert?“
„Das
können wir nur vermuten“, meinte Jimmy. „Ich schätze, er sah
etwas und schlich hinterher, und dann, dort unten...“ Er schauderte
in der warmen Sonne, und seine Finger berührten vorsichtig seinen
Hals.
„Ja,
wahrscheinlich war es so. Wir müssen ihn da rausholen und die
Behörden informieren.“
Mrs.
Medford kam mit Hammer und Nägeln zurück. „Nicht daß Sie es
lange aufhalten werden. Nicht nach Anbruch der Dunkelheit.“
„Nein...Wir
müssen uns etwas Besseres einfallen lassen.“
Eula,
mit gekräuselter Nase, sah mit rachsüchtiger Genugtuung zu, wie der
Doktor den Deckel zunagelte. Plötzlich wies sie auf eine Stelle, wo
seine Hand den grauen Schimmel beiseitegewischt hatte.
„Sehrt
nur! Er war es wirklich! Ohne Zweifel!“
Verblichene
gotische Buchstaben waren sichtbar geworden:
„B-n-t
d- Ceinture“.
„Ja,
stimmte Doktor Harries zu. „Das hier wäre ein unschätzbares
Museumsstück! Aber je länger ich darüber nachdenke, desto sicherer
bin ich, daß Licht die teuflische Macht zerstören würde... Moment
mal...Licht... Feuer! Warum verbrennen wir es nicht? Gleich jetzt auf
der Stelle?“
„Hier
liegt weiß Gott genug altes Baugerümpel herum!“ Jimmy, ohne den
Vorschlag auch nur im geringsten in Frage zu stellen, begann hölzerne
Bruchstücke einzusammeln. Eula half ihm mit entschlossenem
Enthusiasmus. „Das einzige, das ich an diesem baufälligen Kasten
wirklich schätze“, murmelte sie, „ist sein Riesenvorrat an
Brennholz.“
Bald
hatten sie im hellen Sonnenschein einen Scheiterhaufen errichtet, auf
den sie den grauen, vermoderten Sarg hievten. Eula zündete ihn
grimmig an, und sie traten zurück.
Die
trockenen Trümmer flammten auf wie Zunder und verwandelten sich
schnell in einen rot leuchtenden Hochofen, in dessen Mitte der Sarg
zu qualmen begann. Bald begannen die Seiten aufzureißen, und lange
Feuerzungen fraßen sich weiter an den Bruchlinen entlang, die
fauligen Eingeweide des Kastens gierig verschlingend. Eula schlug
plötzlich die Hände vor die Augen und schrie. Mit wilder Genugtuung
sah Jimmy die graue spinnenhafte Schreckenskreatur durch die
brennende Seite brechen, in der Glut gräßlich zappeln und dann
erstarren.
Still,
mit aufeinandergepressten Lippen, alle Nerven angespannt, sah er zu,
wie die grauen Finger sich schwarz verfärbten, dann
zusammenkrümmten, rot aufglühen, um schließlich in kleinen blauen
Flämmchen zu vergehen.
„Tja“
sagte der Doktor. „Das wars dann wohl.“
Jimmy
legte seinen Arm um Eula. „Auf jeden Fall“, meinte er, „beweist
das Ganze doch eins: Unsere Linie ist die respektable Linie. Das Ding
kroch damals in meine Tasche, um sich zu rächen. Komisch, dass ich
ausgerechnet in den Laden gegangen bin, in dem es die ganzen Jahre
über herumlag. Aber was machen wir jetzt daraus? Wie sprechen wir
unseren Namen aus? Duck? D'Auk?“
Eula
stieß ihn von sich. „Ich will nichts mehr mit der Vergangenheit
deiner Familie zu tun haben!“
„Aber...meinst
du...du willst doch nicht...“
„Wir
heißen so, wie du jetzt heißt! Neumodisches Amerikanisch ist mir
nach dieser Geschichte grade recht.“
„Okie-Duckie“
gab Jimmy nach, und zum erstenmal seit langem brachte er wieder so
etwas wie ein Grinsen zustande. „Ich frage mich nur, wie wir das
Dad beibringen...“
Gordon
MacCreagh:
Hand
of St. Ury
Weird
Tales 1951/01
Übersetzung
© 2018/19
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