Montag, 18. November 2024

David Wright O'Brien - Die sonderbare Wandlung des Mr. Lane (1942)

 

O’Brien - Die sonderbare Wandlung des Mr. Lane


Als ich begann, mit meinem Mitstreiter Roy Glashan das komplette phantastische Werk des frühverstorbenenen Amerikaners David Wright O’Brien (1918-44) digital zu erschließen und herauszugeben, hätte ich mir kaum träumen lassen, dass wir diese Aufgabe in nur wenigen Jahren – auch dank mancher hilfsbereiter Sammlerinnen und Sammler – bewältigen würden.

(Zu finden unter freeread.com.au/@RGLibrary/DWOBrien/DWOBrien.html)

Wenn ich auf etwas besonders stolz bin, dann auf meinen Beitrag zur Rettung des Werks dieses überschwänglichen jungen Mannes, der auch im wirklichen Leben ein Draufgänger war und auf tragische Weise 26-jährig im Zweiten Weltkrieg ums Leben kam, weil er die Nazis nicht nur von der fernen Schreibmaschine aus bekämpfen wollte.

Als ich für Zwielicht 2018 zum 100. Geburtstag die erste Geschichte ins Deutsche übersetzte, hatte ich noch keinen umfassenden thematischen Überblick über das erstaunlich umfangreiche Werk von über 100 Erzählungen und längeren Novellen, die in nur 5 Jahren entstanden. Heute kann ich sagen – ich bin begeisterter denn je. Obwohl man diesen Pulp-Texten die Hast der Entstehung anmerkt (nicht wenige tippte O’Brien in Übungscamps und an der Front), beeindruckt die Vielfalt der Themen und auch des Tonfalls – von der finsteren Lakonie bis zum übermütigen Spott.

Zweifellos hätte O’Brien später in einer ruhigeren Zeit die besten Storys noch einmal überarbeitet – diese hier litt etwas unter starken Wortwiederholungen und einigen formelhaften Redundanzen, die ich etwas zurückgenommen habe. Auch hier beschäftigt sich O’Brien wie schon in „Ausstrahlung“ mit dem fragilen Selbstbewusstsein und der angeschlagenen Persönlichkeit des Großstädters, der Ton ist aber insgesamt optimistischer gestimmt. Oder na ja, das kommt vielleicht auf den Standpunkt an ...


Als ich meine Augen öffnete, verwirrt auf die rissige, vergilbte Decke über mir starrte und meinen schmerzenden Kopf zur Seite drehte, um die verwahrloste Umgebung des kleinen Zimmers zu betrachten, machte mir mein sechster Sinn sofort klar, dass dies kein Traum war.
Ich warf die grobe Decke rasch beiseite und setzte mich ungläubig auf, wobei ich mich mit beiden Händen am rostigen Rahmen eines heruntergekommenen Eisenbetts festkrallte.
Der Schweiß stand mir auf der Stirn, und mein Herz hämmerte in unerklärlicher Erregung. Ich fühlte mich irgendwie … Schwer zu sagen. Als wäre ich mir selbst fremd.
Eine Hochbahn ratterte hinter den rußverschmierten Fenstern vorbei und erschütterte das hässliche Gebäude in seinen Grundfesten, so dass das Bett, auf dem ich saß, protestierend quietschte.
Endlich stand ich auf und ging benommen zum Waschtisch in der Ecke. Es gab nur einen Wasserhahn, dessen grünlich verfärbter Messinggriff die schwache, fettverschmierte Aufschrift "Cold" trug.
Erst nachdem ich ihn aufgedreht und mein brennendes Gesicht kräftig mit eiskaltem Wasser bespritzt hatte, traute ich mich, in das fleckenübersäte Spiegelrechteck über der Schüssel zu schauen.
Ich hatte das Spiegelbild noch nie in meinem Leben gesehen.

Ich starrte fassungslos.
Ein Fremder mit offenem Mund und weit aufgerissenen Augen starrte zurück.
Und jetzt erkannte ich mit schwindelerregender Gewissheit die schreckliche Wahrheit, die mein sechster Sinn schon signalisiert hatte, als ich die Augen geöffnet hatte und ich mich in diesem unbekannten Zimmer wiederfand.
Ich, Jonathan Lane, befand mich nicht nur in der fremden Umgebung eines elenden Zimmers; ich befand mich auch im Körper eines fremden Mannes!
Eine Ewigkeit lang stand ich benommen da und klammerte mich an der Waschschüssel fest, um mich aufrecht zu halten, während mein Verstand am Rande zügellosen Wahnsinns taumelte.
"Das
ist ein Albtraum", sagte ich mir laut, "ein schreckliches Zerrbild der Realität!"
Das dumpfe Krächzen, das an meine Ohren drang, war eine fremde Stimme – die Stimme dieses seltsamen neuen Körpers, den ich jetzt besaß.
"Ich bin Jonathan Lane!", zischte ich heiser.
Der Klang der neuen Stimmbänder verhöhnte meine Worte. Und doch wusste ich genau, dass ich in der Nacht zuvor im Arbeitszimmer meines Anwesens in aller Ruhe gelesen hatte ...

Es war kurz vor Mitternacht, und ich war schon stundenlang in ein faszinierendes Buch über Philosophie vertieft gewesen.
Kermit, der Butler, der meinem Vater in all den Jahren bis zu seinem Tod so treu gedient hatte, und der jetzt mit konstanter, fast religiöser Hingabe auch über mich wachte, betrat das Arbeitszimmer so leise, dass ich seine Anwesenheit erst bemerkte, als er mich ansprach.
"Ich habe Ihr Zimmer vorbereitet, Sir."

Ich blickte erschrocken auf. Dann lächelte ich.

"Danke, Kermit", sagte ich. "Sie finden es gar nicht gut, dass ich bis spät in die Nacht lese, oder?
Kermits müdes, altes Gesicht bekam einen vorwurfsvollen Zug.
"Sir, ich dachte nur ...“ begann er.
"An mein Wohlbefinden, was, Kermit?", ergänze ich spöttisch.
"In der letzten Woche haben Sie sehr wenig geschlafen", begann er taktvoll. "Ruhe ist für jedermann außerordentlich nützlich, Sir."
Ich grinste. Wenig Schlaf war eine Untertreibung. Nachtclubs, Cafés, Bars und Bistros - in den letzten zwei Wochen hatte ich sie alle in einem unaufhörlichen Rausch besucht. Für Schlaf war bei diesem Programm wenig Zeit geblieben. Diese Nacht war die erste, die ich zu Hause verbrachte. Der drastische Unterschied zu den vorigen Abenden machte mir plötzlich klar, dass ich diese alkoholischen Exzesse gründlich satt hatte.
Ich blätterte um und nickte Kermit zu.
"Na schön, alter Freund", gab ich nach. "Wenn ich dieses Kapitel beendet habe, werde ich mich in mein flauschiges Bett zurückziehen."
Dieser Kompromiss schien Kermits Zustimmung zu finden, er nickte und wandte sich zum Gehen.
"Ich habe einen heißen Schlummertrunk für Sie vorbereitet, Sir", deklamierte er. "Ich werde ihn neben Ihrem Bett abstellen."
Ich bedankte mich, aber als ich schließlich in mein Schlafzimmer ging, waren es dann doch mehr als nur ein weiteres Kapitel geworden. Ich glaube, ich habe noch mindestens vier weitere gelesen, und als ich endlich nach oben ging, ging es auf drei Uhr zu.
Trotz der Müdigkeit, die ich durch meine Ausschweifungen in den letzten zwei Wochen hätte spüren müssen, war ich immer noch nicht in der Lage, gleich einzuschlafen.
Es muss noch eine weitere Stunde gedauert haben, bis ich in dem riesigen Teakholzbett lag und in die Dunkelheit starrte, während mein Verstand sich weigerte, auf die Befehle eines erschöpften Körpers zu hören.
Nichts anderes als schiere Erschöpfung ließ endlich den dunklen Vorhang des Schlafes über mich fallen ...

Und nun stand ich hier, in diesem schmuddeligen Raum, umgeben von Armut. Ich befand mich im Körper eines Mannes, den ich noch nie in meinem Leben gesehen hatte. Keine zehn Stunden, nachdem ich mich in den luxuriösen Komfort meines Schlafzimmers zurückgezogen hatte, war ich jetzt hier: ich, Jonathan Lane, der reichste junge Mann des Mittleren Westens.
Mit heroischer Aufbietung aller Kräfte brachte ich mich dazu, Ruhe zu bewahren, bevor ich in totale Hysterie verfiel.
Mit einer Anstrengung, die mir den Schweiß auf die Stirn trieb, verdrängte ich alles andere außer der elementaren Aufgabe, von der jetzt mein Schicksal abhing: die genaue Analyse des Albtraums, in dem ich mich befand.

Mehrere Minuten lang starrte ich auf die regelmäßigen, klaren Züge meines neuen Gesichts. Es war das Gesicht eines Mannes, der ungefähr so alt war wie ich. Gar nicht mal unangenehm. Scharfe, graue und intelligente Augen. Ein starker Mund, der auch lachen konnte. Blondes Haar. Mein eigenes Haar war dunkel, fast so schwarz wie Ebenholz. Der Körper war mittelgroß, kräftig gebaut und hatte nicht annähernd so schlaffe Muskeln wie mein eigener. Die Finger an den Händen meines neuen Ichs waren geschmeidig und gewandt. Es waren starke braungebrannte Hände. Eher die eines handwerklich begabten Wissenschaftlers als die eines Mechanikers.
Ich ignorierte die düsteren Perspektiven dieser unglaublichen Verwandlung fürs erste und machte mich daran, den schäbigen kleinen Raum näher zu untersuchen.
Auf einem Stuhl lagen Kleider. Billiges Zeug, ausgefranst und so abgewetzt, dass es glänzte. Ich stellte schnell fest, dass dies die Kleidung war, die meinen neuen Körper schmücken sollte.
In einer der Taschen des jämmerlichen Anzugs auf dem Stuhl fand ich eine Brieftasche. Als ich sie mit zittrigen Händen öffnete, sah ich, dass sie drei schmuddelig aussehende Dollarscheine, etwa achtzehn Cent Kleingeld und mehrere Ausweise enthielt.
Der erste war ein Mitarbeiterausweis einer kleinen Chemiefabrik, von der ich noch nie etwas gehört hatte. Sie war auf den Inhaber, einen gewissen Carl Gelsing, ausgestellt.
Der zweite war ein Berechtigungsschein für eine Wechselstube. Auch auf Carl Gelsing ausgestellt.
Hinter den Karten befand sich halb verdeckt ein Schnappschuss, und als ich ihn ans Licht holte, stellte sich heraus, dass es sich um ein Foto handelte, auf der ein lächelnder junger Mann an einem Flussufer stand und seinen Arm um eine hübsche junge Frau gelegt hatte. Der Ausdruck auf ihrem Gesicht, wie sie so zu ihm aufschaute, hatte eindeutig etwas von
schmelzender Hingabe. Auch der junge Mann lächelte – aber durchaus nicht hingebungsvoll. In seinen Augen funkelte ein wilder, brennender Ehrgeiz, dem erotische Gefühle völlig fremd zu sein schienen.
Dann wurde mir klar, dass der junge Mann, der den Arm um die schöne Frau gelegt hatte, derjenige war, in dessen Körper ich mich jetzt befand!
Ich schob das Bild behutsam zurück in die Brieftasche und steckte sie wieder in die Jacke. Dann durchsuchte ich fieberhaft das einzige verbliebene Möbelstück in dem kleinen Raum, eine niedrige, zerschrammte Kommode in der Ecke.
Meine Suche brachte nichts weiter zu Tage als ein sauberes, ausgefranstes Hemd, das unter den Armen mehrfach geflickt worden war, ein paar Socken, Unterhosen und Taschentücher. Das war alles. Die Wäschezeichen bestanden alle aus den Initialen "C. G.".
Ich ging zum Fenster und starrte auf die Hochbahngleise, die weniger als fünfzehn Meter unter mir schier endlos in beide Richtungen verliefen. Natürlich war mir bewusst, dass ich mich in einem Mietshaus befand, aber wo es genau lag, wusste ich nicht.

Dann begann ich, in die ausgefransten Kleider der Person zu schlüpfen, die einst den Körper bewohnt hatte, den ich jetzt besaß. Meine Gedanken waren instinktiv darauf ausgerichtet, mich mehr mit den Konsequenzen dieses unglaublichen Rätsels zu beschäftigen als mit der grotesken Tatsache selbst.
Als ich angezogen war, zögerte ich, und meine ganze Willenskraft reichte plötzlich nicht mehr aus, um die aufsteigende Panik zu unterdrücken, die mich erfasste.
Möglich, dass ich durchgedreht wäre, wenn es nicht in diesem Moment an der Tür geklopft hätte.

Ein Klopfen, gefolgt von einer hellen, weiblichen Stimme.
"Carl! Oh, Carl!", rief die Stimme fröhlich.
Die Flut der Panik in mir schien plötzlich zu verebben. Diese Stimme hatte mir eine schmale, aber lebensnotwendige Brücke zur Vernunft und Realität gebaut.
Irgendwie schaffte ich es, zu antworten.
"Ja?"
Ich wartete mit klopfendem Herzen.
"Ich bin's, Gloria, du Idiot. Bist du schon angezogen?"
Ich holte tief Luft.
"Ja", sagte ich. "Bin ich. Nur noch einen Moment!"
"Beeil dich. In zehn Minuten ist das Café zu voll, um noch bedient zu werden!", rief die weibliche Stimme noch einmal.
Ich ging zur Tür und schob den Riegel beiseite. Dann öffnete ich.
Das hübsche dunkelhaarige Geschöpf vom Brieftaschen-Schnappschuss stand da und lächelte mich an!
Verdattert suchte ich nach etwas: nach Worten, die ich sagen konnte, nach einer kleinen Handlung, die mir helfen würde ... Plötzlich beugte ich mich vor und küsste das Mädchen leicht auf den Mund, ohne mir so bewusst zu sein, was ich tat.
"Gloria", hörte ich mich flüstern, "Gloria!"
Ihre Arme waren plötzlich fest um mich geschlungen und ihr Mund drückte sich hart gegen meinen. Der schwache Duft ihrer Haare war irgendwie schwindelerregend, und ihre Lippen berauschend süß.
"Carl", schluchzte sie. "Oh, Carl. Ist alles in Ordnung mit dir? Ist wirklich alles o.k.? Du hast doch nichts angestellt, oder? Du hast doch nichts Blödes gemacht?"
Ich schob sie zurück.
"Was meinst du?". Meine Stimme war rau und eindringlich.
Die junge Frau schien zu zögern. Ihre roten Lippen klafften auseinander, als sie nach Worten suchte. "Du warst gestern Abend so seltsam", sagte sie. "Du hast dich verhalten, als würdest du mich nie mehr wiedersehen wollen oder ...", sie konnte nicht zu Ende sprechen. Tränen traten ihr in die Augen.
"Ich bin hier", hörte ich mich sagen. "Ich bin hier und es ist nichts passiert, o.k?" Oh Mann, dachte ich, nichts passiert! Die Untertreibung des Jahrhunderts!
Dann griff das Mädchen mit einer plötzlichen, völlig unerwarteten Geste in ihre Handtasche. Sie holte einen Schlüssel an einer Schnur hervor.
"Hier, Carl", sagte sie. "Hier ist dein Schlüssel. Du hast gesagt, ich soll ihn bis zum Morgen aufbewahren. Du hast gesagt, ich soll ihn dir geben, wenn es dir gut geht."

Meine Verblüffung war echt.
"Mein Schlüssel?" Ich blinzelte.
"Dein Kellerlaborschlüssel!" Sie runzelte die Stirn. "Erinnerst du dich nicht? Oh, ich weiß, dass du gestern Abend betrunken warst. Aber ich hätte nicht gedacht, dass du so viel getrunken hast, dass du ..."
Ich unterbrach sie, da ich mich nicht verraten wollte.
"Natürlich", sagte ich. "Jetzt erinnere ich mich. Danke." Ich nahm den Schlüssel.
Sie drehte sich um und rief: "Komm, wir müssen uns beeilen."
"Beeilen?" Ich wiederholte das Wort, ohne nachzudenken.
"Ja, wenn wir vor der Arbeit noch Kaffee und Brötchen essen wollen."
"Oh, ja", sagte ich. "Arbeit. Klar, genau."
Die Frau wirbelte herum und sah mich an. Ihre schönen Gesichtszüge waren verwirrt.
"Carl", fragte sie besorgt, "geht
s dir nicht gut? Du wirkst so seltsam. So, als ob etwas ..."
Ich konnte sie nicht weiterreden lassen.
"Ich werde heute nicht zur Arbeit gehen", verkündete ich. "Ich werde noch etwas in meinem Labor arbeiten."
Die Frau namens Gloria sah besorgt aus.
"Nicht schon wieder, Carl", protestierte sie. "Sie werden dich eines Tages feuern, wenn du ständig den Job schwänzt."
Ich zuckte mit den Schultern.
"Kein großer Verlust, oder?“ Mit dieser Aussage fühlte ich mich sicher.
"Aber, Carl", protestierte das Mädchen, "wenn du nicht diese Riesensummen für die Ausrüstung deines Hobbylabors im Keller ausgeben würdest, könntest du mit dem, was du verdienst, ganz gut auskommen!"
Ich schüttelte den Kopf.
"Ich gehe heute nicht zur Arbeit."
Und dann lieferte das Mädchen ganz unbewusst die Information, die ich so dringend brauchte.
"Wenn sie hierher kommen, um zu sehen, ob du wirklich krank bist", sagte sie, "und
sie finden dich unten im Keller, wo du mit chemischem Zeug herumexperimentierst, dann kostet dich das deinen Job."
Ich legte meine Hände so sanft wie möglich auf ihre Schultern.
"Mach dir keine Sorgen, Gloria", sagte ich, "ich bleibe heute hier. Es wird das letzte Mal sein, dass ich im Labor bin."
Sie warf mir einen merkwürdigen Blick zu.
"Das hast du schon gestern Abend gesagt", erklärte sie. Dann war sie verschwunden.
Ich schaute auf den Schlüssel in meiner Hand, und wieder schlug mein Herz wie wild vor Erregung ...

Zwanzig Minuten später hatte ich die Durchsuchung des Kellerlabors von Carl Gelsing beendet.
Die Beweise, die ich dort gefunden hatte, trugen nur dazu bei, die brennenden Fragen, die mich quälten, noch brennender zu machen.
In einem großen Ordner befanden sich Hunderte von Papieren. Zeitungsausschnitte, Zeitschriftennotizen, Buchverweise, Fotokopien, alles, was mit dem Leben, den Freunden, den Gewohnheiten und den Geheimnissen von - mir selbst - zu tun hatte!
Ich, Jonathan Lane, fand in diesen Akten eine unvorstellbar detaillierte persönliche Geschichte von mir selbst. Ich fand eine Geschichte über mich, die ein gewisser Carl Gelsing, der Mann, dessen Körper ich jetzt anstelle meines eigenen besaß, akribisch zusammengestellt hatte.
Die wissenschaftliche Ausrüstung, die sich im Labor befunden hatte, war völlig zerstört. Der Kellerraum war ein einziger Haufen zerbrochener Röhren, zersplitterter Objektträger und demolierter Geräte.
In einer Ecke des Raums befand sich ein kleiner Aschehaufen, der darauf hindeutete, dass dort ein Stapel Papiere angezündet und absichtlich verbrannt worden war.
Abgesehen von einem zerfledderten Laborkittel gab es kaum noch etwas Erwähnenswertes. Trotzdem suchte ich noch fünf Minuten weiter, in der verzweifelten Hoffnung, etwas zu finden, das ein wenig zur Lösung dieses verrückten Rätsels beitragen könnte.
Dann, als ich ganz verwirrt und hoffnungslos dastand, während die bizarren Fakten in meinem Gehirn herumwirbelten gleich einer verrückten Parodie der Vernunft, wurde ich mir erstmals der schrecklichen, fantastisch anmutenden Wahrheit bewusst.
Diese Tatsache war wild, unmöglich, die Schlussfolgerung eines Geistes am Rande des Wahnsinns. Aber sie hatte die grimmige Plausibilität eines Wahnsinns mit Methode. Ich war entschlossen, das hier zu Ende zu bringen. Es war das einzig Sinnvolle, das mir verblieben war ...

Ich brauchte etwas mehr als eine Stunde, um von dem großstädtischen Elendsviertel, in dem ich mich befand, zu meiner Villa in der Vorstadt zu gelangen. Und als ich endlich am weitläufigen Anwesen anlangte, das vor weniger als vierundzwanzig Stunden noch mir gehört hatte, durchströmte mich erneut eine fiebrige Hysterie.
Ich stand einen Moment vor dem großen Tor, hinter dem eine lange Schotterstraße begann, und starrte wortlos auf das riesige steinerne Herrenhaus zwischen den Bäumen. Ich stand da, während das Hämmern meines Herzens und das Würgen in meiner Kehle so intensiv wurden, dass ich
s kaum aushalten konnte.
Wenige Augenblicke später ließ Kermit mich eintreten. Sein müdes altes Gesicht war teilnahmslos, als ich ihm sagte, dass ich mit Jonathan Lane sprechen wollte.
Einen Moment lang, als sich unsere Augen zum ersten Mal trafen, war ich mir fast sicher, dass mein alter Diener mich erkennen würde, dass er irgendwie erraten hatte, was passiert war ...
Aber der alte Butler taxierte mich nur kurz mit seinem Blick und sagte mir lediglich, ich solle im Empfangsraum warten, während er nachsah, ob Mr. Lane mit mir zu sprechen wünschte.
"Und Ihr Name, Sir?" fragte Kermit.
Ich zögerte einen Moment. Dann sagte ich: "Carl Gelsing."

"Erwartet Mr. Lane Sie, Sir?", fragte er.
Wieder zauderte ich.
"Ja, ich denke schon", gab ich zurück. "Ich bin sicher, dass er mit meinem Namen etwas anfangen kann."
Kermit ließ mich im Empfangsraum zurück. Als er endlich wieder auftauchte, deutete er auf den Flur, der zum Arbeitszimmer führte.
"Mr. Lane bittet Sie in sein Arbeitszimmer, Sir. Er wird gleich herunterkommen."
Es gibt keine Worte, um meine Gefühle zu beschreiben, als ich durch den Flur in das Arbeitszimmer ging, das noch Stunden zuvor mein eigenes gewesen war. Keine Worte reichen aus, um die entsetzliche Erregung zu beschreiben, die mich überflutete, als ich mich dort auf einen Stuhl setzte und darauf wartete, dass die Person eintrat, der nun mein Körper gehörte.
Die Minuten vergingen, und der kalte Schweiß auf meiner Stirn und das Herzrasen wurden mit jeder Sekunde stärker. Ich konnte meine Augen kaum von den altbekannten Gegenständen im Raum ablenken. Die Bücher, die ich schätzte, die Gemälde, die Kuriositäten auf dem Schreibtisch ...
Und dann hörte ich die Stimme -
meine Stimme, die Stimme, die zum Körper von Jonathan Lane gehörte!
"Hallo, Gelsing. Ich hatte erwartet, dass du hierher kommst."
Ich erhob mich, drehte mich um und stand vor der körperlichen Manifestation dessen, was ich vor weniger als vierundzwanzig Stunden noch war. Mit offenem Mund starrte ich, als mich mein Körper von der Tür aus höhnisch anlächelte.
"Sie sind Gelsing", brachte ich schließlich hervor. "Sie sind Carl Gelsing. Welche wahnsinnige Idee hat Sie ..."
Gelsing, der Mann, der meinen Körper gestohlen und mir seinen gegeben hatte, lächelte wieder und winkte mit der Hand in Richtung
meines Stuhls.
"Setz dich", sagte er. "Setz dich hin und reg dich nicht auf. Ich will nicht, dass du hier rausgeschmissen wirst, bevor wir die Sache durchsprechen können."
Schwach ließ ich mich in meinen Stuhl zurücksinken und folgte ihm mit den Augen, als er sich hinter den Schreibtisch schob und sich setzte.
Einen Moment lang herrschte tiefes Schweigen, während Gelsing, der Mann, der jetzt in meinem Körper lebte, mich abschätzig anlächelte.
"Du musst einen sehr starken Willen haben", sagte er schließlich und fingerte mit einem Papiermesser auf dem Schreibtisch herum. "Ich hatte die Möglichkeit in Betracht gezogen, dass du einfach verrückt wirst, wenn du erfährst, was mit dir passiert ist." Das Lächeln wurde zu einem Grinsen.
"Sie müssen wahnsinnig sein!" keuchte ich.
Er schüttelte den Kopf.
"Ganz im Gegenteil!", erklärte er. Er winkte mit der Hand und deutete in den Raum.
"Ich bin jetzt einer der reichsten jungen Männer der Nation. Und mit dem Reichtum, den du anscheinend nie konstruktiv nutzen konntest, werde ich auch bald einer der mächtigsten Männer der Welt sein. Nein", grinste er, "ich glaube nicht, dass ich wahnsinnig bin.“

"Dann war das absichtlich geplant, teuflisch aus...", begann ich.
Er unterbrach mich wieder.
"Es war ziemlich raffiniert geplant. Zweifellos hast du die Akten über dich in meinem Labor gefunden. Ich habe vor fast zwei Jahren damit begonnen, sie zu sammeln, als mir klar wurde, dass eine Entdeckung, über die ich gestolpert war, mir eines Tages ermöglichen würde, du zu sein.
Ich wählte deinen Körper, deinen Reichtum und deine Stellung, weil ich all das am besten ausnutzen konnte", fuhr er fort. "Von diesem Tag an sammelte ich alle Daten über dich, deine Geschichte, deine persönlichen Gewohnheiten, deine Freunde und Bekannten, alles, was ich erfahren konnte. Und während ich das tat, lebte ich weiterhin in meiner armseligen Umgebung, schuftete Nacht für Nacht in diesem elenden Kellerlabor, um die Macht der Gedankenübertragung, die ich zuerst unwissentlich entdeckt hatte, zu perfektionieren, zu testen und zu erproben. Von dem Moment an, als ich meine Wahl getroffen habe und deinen Körper als denjenigen auswählte, den ich übernehmen würde, war die Verwandlung, die du heute Morgen beim Aufwachen vorgefunden hast, zwangsläufig.
Ja, in der Tat, du warst die ideale Wahl für mich. Du warst jung, hattest enormen Reichtum und nur sehr wenige private Bindungen."

Er hielt inne.

"Und jetzt habe ich meine ursprünglichen Pläne verwirklicht. Die Übertragung ist vollzogen. Ich habe jetzt deinen Körper und damit auch dein Leben und dein Vermögen. Du, mein Freund, hast im Gegenzug meinen Körper und das damit verbundene armselige Leben."
"Aber das können Sie nicht machen!" protestierte ich. "Sie sind verrückt. Sie wissen nicht, was Sie tun!"
Das Lächeln verschwand aus seinem Gesicht.
"Ach, das kann ich nicht?", fragte er. „Aber würdest du nicht auch sagen, dass ich längst getan habe, was ich angeblich nicht kann?"
"Doch", gab ich verzweifelt zu. "Gott weiß, Sie haben auf unglaubliche Weise etwas absolut Wahnsinniges vollbracht. Aber so kann es nicht weitergehen. Sie müssen uns beide dahin zurückbringen, wo wir hingehören!"
Er zuckte mit den Schultern. "Selbst wenn ich dumm genug wäre, das zu tun", erklärte er, "wäre es nicht mehr möglich. Du hast die zerstörten Geräte im Kellerlabor gesehen. Du hast die Asche gesehen, die von den Formelaufzeichnungen übrig geblieben ist. Ich habe absichtlich jede letzte Brücke in die Vergangenheit zerstört. Es gibt keine Möglichkeit der Verwandlung mehr!"
Mein Mund stand vor entsetztem Erstaunen offen. Schwach versuchte ich zu sprechen. Die Worte kamen mir nicht über die Lippen. Er grinste mich schadenfroh an.
"Aber es gibt keinen Grund zur Panik", erklärte er. "Es gibt keinen Grund zu glauben, dass dein Leben zu Ende ist. Ganz im Gegenteil! Für dich beginnt gerade ein neues, ein prächtiges Leben." Sein Lachen klang unangenehm.
Ich rang immer noch nach Worten.
Er fuhr fort: "Dieses neue Leben wird ganz anders sein als das, das ich dir genommen habe. Wo du früher unermesslichen Reichtum hattest, wirst du jetzt in bitterer Armut leben. Wo du früher nichts als Luxus kanntest, wirst du jetzt nur noch Schufterei und Elend kennen.
Aber es wird Entschädigungen geben!", höhnte er. "Du wirst den zweifelhaften Nervenkitzel des Kampfes ums Dasein kennenlernen. Du wirst feststellen, dass das Los des kleinen Mannes, auch wenn es nicht mit Luxus erfüllt ist, einen Ausgleich in Form von Würde in der Armut und der Ehre im Elend bietet. Du wirst die bleierne Müdigkeit des Mannes kennenlernen, der gegen sein Schicksal kämpft. Du wirst Verzweiflung, Kummer und bittere Enttäuschung erleben. Alles in allem wird dein Leben ein höllischer Kampf ums Überleben sein."
Ich beobachtete, wie er in die Kiste neben sich griff und eine der außerordentlich teuren Zigarren herausholte, die ich so gern geraucht hatte. Seine Augen musterten mich hinter der Flamme des Streichholzes einen Moment lang mit zynischem Spott, dann zündete er die Zigarre an und sprach wieder.
"Aber du wirst geliebt werden!", sagte er, und der höhnische Spott in seiner Stimme war jetzt noch stärker.
"Diese Frau!“, flüsterte ich, denn sprechen konnte ich kaum, "die Frau, die heute Morgen an Ihre Tür geklopft hat. Sie ..."
Er schnitt mir das Wort ab.
"Sie ist sehr verliebt in mich", grinste er, "oder sagen wir in das, was ich einmal war. Sie ist Teil des herrlichen einfachen Lebens, das ich dir überlasse. Sie muss es nie erfahren. Ich will nichts mehr von ihr. Sie ist ein Teil dieses Albtraums von Elend und Armut, den ich für immer hinter mir gelassen habe."
Ich dachte an ihre süßen, warmen Lippen, an den Duft ihres schönen Haares aus Ebenholz und an die Bewunderung, die aus ihren Augen auf dem abgenutzten Schnappschuss leuchtete, den ich in der Brieftasche gefunden hatte.
"Du Schwein!," krächzte ich heiser. "Du verrücktes, mieses Schwein!"
Sein Gesicht wurde plötzlich weiß vor Wut.
"Halt die Fresse, Gelsing!", schnauzte er. "Pass auf, was du sagst, oder ich lasse dich auf der Stelle hier rauswerfen!"
Ich dachte immer noch an Gloria. Dachte an ihre Worte, als sie mich an jenem Morgen unwissend angeschaut und gesagt hatte: "Du hast dich benommen, als würdest du mich nie wiedersehen wollen".
Plötzlich erhob ich mich und machte einen Schritt auf den Schreibtisch zu, an dem mein Usurpator saß. Auch er erhob sich zornig.
"Bleib, wo du bist!", brüllte er. "Komm keinen Schritt näher!"
Ich schüttelte den Kopf.
"Ich habe nicht die Absicht, dir etwas anzutun", sagte ich. "Ich will mich nur verabschieden. Ich kehre in das Leben zurück, das du mir geschenkt hast. Ich kehre zurück zur Liebe der wunderschönen Frau, die du mir geschenkt hast. Ich werde die Chance nutzen, aus dem Leben, das du mir gegeben hast, ein neues Schicksal zu formen. Ich denke, es wird den Kampf mehr als wert sein. Es wird mir vielleicht sogar Spaß machen!“
Die Wut stand ihm noch immer ins Gesicht geschrieben.
"Na wundervoll", knirschte er. "Und jetzt verpiss
dich!"
Plötzlich verfärbte sich die zornige Blässe auf seinem Gesicht in ein kränkliches Gelb. Er umklammerte den Schreibtisch, sein Atem ging plötzlich rasend schnell und laut. Er taumelte und schwankte unsicher auf seinen Füßen.
"Du solltest dich lieber hinsetzen", riet ich ihm leise. "Du solltest lernen, dich in den nächsten drei Monaten zu schonen. Weißt du, es gibt etwas, das du nicht über mich herausgefunden hast. Wie auch – ich hab
s ja selbst erst vor drei Wochen erfahren."
Schweiß stand ihm auf der Stirn, als er sich auf den Stuhl hinter dem Schreibtisch sinken ließ. Eine wilde Angst stieg in seinen Augen auf.
"Was meinst du?", keuchte er. "Verdammt, was meinst du?"
Da lächelte ich.
" Krebs. Weißt du, vor drei Wochen hat mir mein Arzt gesagt, dass ich höchstens noch vier Monate zu leben habe. Er sagte mir, dass es in der medizinischen Wissenschaft nichts gibt, das ich mit meinem Geld kaufen könnte, um mich zu retten."
Dann drehte ich mich um und ging zur Tür des Arbeitszimmers. Dort hielt ich noch einen Moment inne.
"Ich bin in ehrlicher Absicht hergekommen. Ich hätte es wieder rückgängig gemacht. Aber wie du schon gesagt hast: Das ist leider nicht mehr möglich. Leb wohl, Jonathan Lane. Mögen deine letzten Monate so angenehm wie möglich sein."


David Wright O’Brien: The Case of Jonathan Lane

Amazing Stories, 1942/8

Pseudonym: John York Cabot

Übersetzung: Matthias Käther © 2023/24

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