John Martin Leahy: In Amundsens Zelt (1928)
Das legendäre Magazin „Weird Tales“ (1923-54) enthält mehr als 3000 Erzählungen. Kein Problem, dort Material auszugraben, das auch heute noch fesselt. Viele Sachen sind Neufunde, die dort seit Jahrzehnten ruhen – und tatsächlich sind fast alle Geschichten, die ich für Zwielicht übersetzt habe, noch nie anthologisiert worden, auch im Englischen nicht. Überraschenderweise gibt es aber eine erstaunlich große Zahl an Werken, die englischsprachige Klassiker geworden sind und bisher unübersetzt blieben. Eine empfindliche Lücke hat der Festa-Verlag 2023 mit seiner fünfbändigen Jubiläumsausgabe geschlossen, aber es bleibt noch genug übrig. Leahys Story „In Amundsens Zelt“ wurde unzählige Male anthologisiert und ins Spanische, Französische und Holländische übersetzt. Dennoch ist sie deutschen Herausgeber/-innen bisher entgangen. Ein würdiger Beitrag für die 20. Ausgabe von Zwielicht, finde ich!
Die Story hat einen realistischen Aufhänger. 1911 lieferten sich Amundsen und Scott ein spektakuläres Wettrennen zum unentdeckten Südpol. Amundsen erreichte das Ziel als erster und hinterließ der nachkommenden Scott-Expedition ein Zelt mit Notizen und Proviant. Scott erreichte das Zelt, aber er und seine vier Mitstreiter starben alle auf dem Rückweg. Der Erzähler erfindet eine dritte Expedition, die am Wettrennen teilnimmt.
John Miller stellt in seiner verdienstvollen Anthologie „Polar Horrors“ (2022) die These auf, die Story könnte die unmittelbare Vorlage für John W. Campbells Horror-Klassiker „Who goes there?“ (1938) gewesen sein. Ich halte das für zweifelhaft. Beide Autoren dürften sich auf einen älteren Klassiker bezogen haben, „The Thing from Outside“ (1923) von George Allan England.
„Reisenden“, sagt Richard A. Proctor, „wird manchmal nachgesagt, dass sie wundersame Geschichten erzählen; aber es ist eine bemerkenswerte Tatsache, dass in neun von zehn Fällen die wundersamen Geschichten von anderen Reisenden bestätigt wurden.“
Sicherlich hat kein
Reisender jemals eine wundersamere Geschichte aufgeschrieben als die
von Robert Drumgold. Ich entschuldige mich beim Geist des
unglücklichen Entdeckers dafür, dass ich sie so lange
zurückgehalten habe, und übergebe diesen Bericht nun endlich der
Öffentlichkeit. Allerdings möchte ich wahrheitsgemäß hinzufügen,
dass Eastman, Dahlstrom und ich ihn für das Werk eines geistig
Verwirrten halten; kein Wunder, dass sein Verstand gelitten hat
angesichts der furchtbaren Strapazen, die er durchgemacht hatte, und
dass die Angst vor dem Schicksal, das ihm drohte, ihn verwirrte. Was
war das für ein Ding (wenn es denn ein „Ding“ war), das zu ihm
kam, dem einzigen Überlebenden der Gruppe, die den Südpol erreicht
hatte, das sich in das Zelt drängte und dort nur den abgetrennten
Kopf von Drumgold zurückließ?
Unsere damalige und bis vor
kurzem gültige Erklärung war, dass Drumgold von seinen Hunden
angefallen und gefressen worden war. Warum vom Kopf nicht das Fleisch
abgenagt worden war, war uns ein völliges Rätsel. Aber das war nur
eines der vielen Dinge, die für uns rätselhaft blieben ...
Jetzt
wissen wir, dass diese Erklärung so weit von der Wahrheit entfernt
war, wie der trostlose, eisbedeckte Ort, an dem er sein Ende fand,
von den lächelnden, blumenübersäten Regionen der Tropen.
Ja,
wir dachten, dass der Verstand des armen Robert Drumgold den Geist
aufgegeben hatte, dass das Grauen in Amundsens Zelt und das, was
Drumgold dort widerfuhr, nur Wahnsinn sein konnte. Deshalb haben wir
diesen Teil des Drumgold-Manuskripts bisher nicht veröffentlicht.
Wir befürchteten, dass die Herausgabe eines so außergewöhnlichen
Berichts die wahren Leistungen der Sutherland-Expedition in Zweifel
ziehen könnte.
Aber in letzter Zeit haben unsere Ideen und
Überzeugungen einen Wandel durchgemacht, der nichts weniger als eine
Kehrtwende ist. Diese Kehrtwende, das muss wohl kaum erwähnt werden,
ist auf die erstaunlichen Entdeckungen zurückzuführen, die der
verstorbene Kapitän Stanley Livingstone in der Region des Südpols
machte und die von der Expedition unter der Leitung von Darwin
Frontenac bestätigt und ausgeweitet wurden. Wie wir heute wissen,
hielt Kapitän Livingstone seine wahre Entdeckung wegen des Zweifels
und Spotts, die ihm bei seiner Rückkehr begegneten, bald vor allen
anderen geheim – außer vor zwei Menschen: Darwin Frontenac und
Bond McQuestion. Erst jetzt, nach Frontenacs Rückkehr, erfahren wir,
wie wunderbar und frappierend die Entdeckungen des unglücklichen
Kapitäns wirklich waren. Doch trotz des Erfolgs der
Frontenac-Expedition muss man zugeben, dass das Mysterium dort unten
in der Antarktis eher noch größer als kleiner geworden ist. Darwin
Frontenac und seine Gefährten haben viel gesehen; aber wir wissen,
dass es dort unten Dinge und Wesen gibt, die sie nicht gesehen haben.
Die Antarktis – oder besser gesagt, ein Teil davon – ist damit
plötzlich zum interessantesten und sicherlich auch zum
furchterregendsten Gebiet auf unserem Globus geworden.
Eine
weitere wunderbare Geschichte, die von einem Reisenden erzählt wurde
– oder besser gesagt, nur teilweise erzählt wurde – hat sich
also bestätigt. Eastman und ich – wir bereiten uns darauf vor,
erneut in die Antarktis zu reisen, um, wie wir hoffen, eine weitere
Geschichte zu bestätigen – eine unheimliche und furchterregende
Geschichte, wie sie sich kein Romanautor je ausgedacht hat.
Und
wenn man bedenkt, dass wir es waren, Eastman, Dahlstrom und ich, die
die ursprüngliche Entdeckung machten! Ja, wir waren es, die das Zelt
betraten und dort den Kopf von Robert Drumgold fanden und die
Blätter, auf die er seine Geschichte voller Geheimnisse und
Schrecken gekritzelt hatte. Wenn ich mir vorstelle, dass wir dort
standen, genau an der Stelle, an der der Kopf lag, und die Geschichte
nur für das haltlose Hirngespinst eines Verrückten hielten!
Wie
lebhaft taucht alles wieder vor mir auf – die weiße Weite, grell
und blendend im ungemilderten Licht der antarktischen Sonne; die
Hunde, die sich im Geschirr abmühten; die Kisten auf den Schlitten,
lang und schwarz wie Särge; unser plötzlicher Halt, als Eastman uns
zuwinkte und sagte: „Hallo! Was ist das?“
Ungefähr eine
halbe Meile weiter links durchbrach ein Objekt das blendende Weiß
der Ebene.
„Eine Felserhebung, nehme ich an“, war meine
Antwort.
„Sieht für mich aus wie ein Steinhaufen oder ein
Zelt“, sagte Dahlstrom.
„Wie um alles in der Welt“, fragte
ich, „kann ein Zelt hier unten bei 87° 30‟ Süd hingekommen
sein? Wir sind weit von der Route von Amundsen oder Scott
entfernt.“
„Hm“, murmelte Eastman, „das frage ich mich
auch. Heiliger Bimbam!“, fügte er mit einem Blick auf Dahlstrom
hinzu. „Ich glaube, du hast recht!“
„Auf jeden Fall“,
nickte Dahlstrom, „sieht es für mich wie ein Steinhaufen oder ein
Zelt aus. Ich glaube nicht, dass es eine Felserhebung ist.“
„Nun“,
meinte ich, „es ist nicht schwer, das rauszufinden.“
Im
nächsten Moment setzten wir uns in Bewegung und steuerten direkt auf
das geheimnisvolle Objekt inmitten der ewigen Einöde aus Schnee und
Eis zu.
„Tatsache!“, rief Eastman, der voranging, plötzlich.
„Seht ihr das? Es ist ein Zelt!“
Ein paar Augenblicke später
wusste ich, dass es tatsächlich so war. Aber wer hatte es dort
aufgeschlagen? Was würden wir darin finden?
Ich kann die
Gedanken und Gefühle nicht beschreiben, die uns bewegten, als wir
uns dem Ort näherten. Der Schnee türmte sich um das Zelt herum bis
zu einer Höhe von mindestens einem Meter auf. In der Nähe ragte ein
zersplitterter Ski aus der Oberfläche heraus – das war alles.
Und
diese Stille! Die Luft war in diesem Moment ohne die geringste
Bewegung. Nur unsere Bewegungen, die der Hunde und unser eigener Atem
durchbrachen die schreckliche Ruhe des Todes.
„Die armen
Teufel!“, sagte Eastman schließlich. „Immerhin haben sie ihr
Zelt gut aufgebaut.“
Es wurde von einer einzigen Stange
gestützt, die in der Mitte stand. An dieser Stange waren drei
Abspannleinen befestigt, von denen eine so straff war wie an dem Tag,
an dem der Pfahl in den Boden gerammt worden war. Aber das war noch
nicht alles: Ein halbes Dutzend oder mehr Leinen waren an den Seiten
des Zeltes befestigt. Wir wussten nicht, wie lange es dort gestanden
hatte, um den heftigen Winden dieser schrecklichen Region zu
trotzen.
Dahlstrom und ich holten jeweils einen Spaten und
begannen, den Schnee zu entfernen. Der Eingang war zwar nicht
verschlossen, aber durch ein paar leere Proviantkisten und ein Stück
Segeltuch versperrt. „Wie um alles in der Welt“, rief ich, „sind
die Dinger an diese Stelle gekommen?“
„Der Wind“, sagte
Dahlstrom. „Wenn der Eingang nicht damit versperrt gewesen wäre,
gäbe es jetzt kein Zelt mehr; der Wind hätte es schon längst
zerrissen und zerstört.“
„Hm“, überlegte Eastman. „Der
Wind hat das getan? Der Wind hat den Eingang so blockiert? Ich weiß
nicht ...“
Im nächsten Moment hatten wir alles beiseite
geräumt. Ich steckte meinen Kopf durch die Öffnung. Seltsamerweise
war nur wenig Schnee hereingetrieben worden. Das Zelt war dunkelgrün,
dadurch wirkte das Licht im Inneren etwas unheimlich und gruselig –
vielleicht trug auch meine Fantasie zu diesem Effekt bei.
„Was
siehst du, Bill?“, fragte Eastman. „Was ist da drin?“
Meine
Antwort war ein Schrei, und im nächsten Moment war ich vom Eingang
zurückgesprungen.
„Was ist es, Bill?“, rief Eastman.
„Großer Gott, was ist es, Mann?“
„Ein Kopf!“
„Ein
Kopf?“
„Ein menschlicher Kopf!“
Er und Dahlstrom
bückten sich und spähten hinein. „Was hat das zu bedeuten?“,
schrie Eastman. „Ein abgetrennter menschlicher Kopf!“
Dahlstrom
fuhr sich mit der behandschuhten Hand über die Augen.
„Träumen
wir?“, murmelte er.
„Das ist kein Traum, Nels“, erwiderte
unser Anführer. „Ich wünschte, es wäre einer. Ein Kopf! Ein
menschlicher Kopf!“
„Ist da nicht noch mehr?“, fragte
ich.
„Nichts. Kein Körper, nicht einmal abgetrennte Knochen –
nur dieser abgetrennte Kopf! Könnten die Hunde ...“
„Ja?“,
fragte Dahlstrom.
„Könnten die Hunde das getan
haben?“
„Hunde?“, überlegte Dahlstrom. „Das ist nicht
das Werk von Hunden.“
Wir traten ein und sahen auf die
grausigen sterblichen Überreste hinunter.
„Das waren keine
Hunde“, bestätigte Dahlstrom noch einmal.
„Keine Hunde?“,
fragte Eastman. „Welche andere Erklärung gibt es dann – außer
Kannibalismus?“
Kannibalismus! Mir lief ein Schauer über den
Rücken. Ich kann aber auch gleich vorausschicken, dass die
Entdeckung eines großzügigen Vorrats an Fruchtkuchen und Keksen auf
dem Schlitten, der in diesem Moment noch völlig vom Schnee verdeckt
war, uns später zeigen sollte, dass diese schreckliche Erklärung
nicht die richtige war. Die Hunde! Das war es, das war die einzige
Erklärung – auch wenn die Aufzeichnungen des Opfers selbst eine
ganz andere Geschichte erzählen würden. Ja, der Forscher war von
seinen Hunden angefallen und gefressen worden. Aber es gab einige
Dinge, die gegen diese Theorie sprachen. Warum hatten die Tiere den
Kopf zurückgelassen – mit den gefrorenen Augen (es waren blaue
Augen) und einem Blick des Entsetzens, der mir noch heute einen
Schauer über den Rücken jagt? Der Kopf wies nicht die Spur eines
einzigen Reißzahns auf, obwohl es so aussah, als sei er vom Rumpf
abgekaut worden. Dahlstrom war jedoch der Meinung, dass er abgehackt
worden war.
In der Geschichte des Mannes, Robert Drumgold,
fanden wir ein weiteres Rätsel – ebenso unlösbar (wenn sein
Bericht denn authentisch war) wie das Vorhandensein des abgetrennten
Kopfes. Die Geschichte war mit Bleistift auf die Seiten seines
Tagebuchs gekritzelt. Aber was sollten wir mit einem Bericht
anfangen, der so seltsam und furchtbar war, vor allem auf den letzten
Seiten?
Doch genug von dem, was wir dachten und was wir uns
fragten. Das Tagebuch liegt vor mir, und ich werde nun die Geschichte
von Robert Drumgold mit seinen eigenen Worten wiedergeben. Kein Wort,
kein Komma soll gestrichen, eingefügt oder verändert
werden.
Beginnen wir mit dem Eintrag vom 3. Januar, an dem die
kleine Gruppe nur noch fünfzehn geografische Meilen vom Pol entfernt
war.
Hier ist er.
3.
Januar – Position
unseres Lagers 89° 45‘ 10“. Nur noch fünfzehn Meilen, und der
Pol gehört uns – es sei denn, Amundsen oder Scott sind uns
zuvorgekommen, oder beide. Aber er wird uns trotzdem gehören, auch
wenn der Ruhm der Entdeckung einem anderen gebührt. Was werden wir
dort finden? Alle sind gut gelaunt. Selbst die Hunde scheinen zu
wissen, dass dies die Vollendung einer großen Vision ist. Was uns
allerdings rätselhaft erscheint, ist das seltsame Interesse, das sie
heute für das Gebiet vor uns gezeigt haben. Wenn wir anhielten,
schauten sie starr geradeaus nach Süden und schnüffelten und
schnupperten unentwegt. Was hat das zu bedeuten? Ja, alle sind bester
Laune – sowohl die Hunde als auch wir drei Männer. Alles ist
vielversprechend. Das Wetter war in den letzten drei Tagen einfach
herrlich. Nicht ein einziges Mal lag die Temperatur in dieser Zeit
unter minus 5 Grad. Während ich dies schreibe, zeigt das Thermometer
ein Grad mehr an. Das Blau des Himmels ist wie das, wovon Maler
träumen, und in diesem Blau türmen sich Wolkenformationen auf, die
in den Schatten violett gefärbt und unbeschreiblich schön sind.
Wenn man vergessen könnte, dass nichts außer den spärlichen
Nahrungsvorräten auf unseren Schlitten zwischen uns und einem
schrecklichen Tod stehen, dann könnte man meinen, man befände sich
in einem Märchenland – einem herrlichen Märchenland in Weiß,
Blau und Violett. Ein Märchenland? Warum ist mir dieser Gedanke so
oft in den Sinn gekommen? Warum habe ich diese trostlose,
schreckliche Gegend so oft mit dem Märchenland verglichen?
Schrecklich? Ja, für die Menschen ist sie schrecklich –
schrecklicher als Worte es ausdrücken können. Aber obwohl sie für
die Menschen so unsagbar schrecklich ist, ist sie es objektiv gesehen
vielleicht gar nicht. Sind denn alle Dinge, unsere Erde, ganz zu
schweigen vom Universum, überhaupt für den Menschen gemacht? Für
eine Kreatur (ein gottähnlicher Geist im Körper eines Affen), die
inmitten von Wundern in Wahnsinn und Hass schwelgt und sich im Dreck
von tausend Begierden suhlt? Kann es nicht andere Wesen geben – ja,
sogar auf dieser unserer Erde –, die wunderbarer und auch
schrecklicher sind als er? Weiß der Himmel, mehr als einmal habe ich
in dieser Trostlosigkeit aus Schnee und Eis ihre Anwesenheit in der
Luft um uns herum gespürt – namenlose Wesen, körperlos, die alles
beobachten. Kein Wunder, dass mir immer wieder die seltsamen Worte
des großen amerikanischen Wissenschaftlers Alexander Winchell in den
Sinn kamen: „Leben ist weder von warmem Blut noch von einer
Temperatur abhängig, die den Organismus der Umgebung anpasst. Es mag
Intelligenzen geben, die so konstruiert sind, dass die Prozesse der
Nahrungsaufnahme, Assimilation und Reproduktion nicht notwendig sind.
Solche Körper bräuchten keine tägliche Nahrung und Wärme. Sie
könnten in den Abgründen des Ozeans existieren, auf einer
stürmischen Klippe die Stürme eines arktischen Winters überstehen
oder hundert Jahre lang in einem Vulkan vegetieren und dennoch ihr
Bewusstsein und ihre Gedanken behalten.“
All das ist laut
Winchell denkbar, und er fügt hinzu:
„Lebendige Körper sind
lediglich die lokale Anpassung der Intelligenz an bestimmte
Modifikationen der universellen Materie.“
Und diese
Wesenheiten, diese namenlosen Dinge, deren Anwesenheit ich manchmal
zu spüren scheine – sind sie gütige Wesen oder Dinge, die
furchterregender sind, als selbst der Wahnsinn eines menschlichen
Gehirns sie je erschaffen hat?
Aber ich muss jetzt damit
aufhören. Wenn Sutherland oder Travers lesen würden, was ich hier
niedergeschrieben habe, würden sie denken, dass ich den Verstand
verliere, oder sie würden mich bereits für verrückt erklären.
Doch so wie es einen Himmel über uns gibt, glaube ich auch, dass an
diesem schrecklichen Ort noch andere Wesen als uns und unsere Hunde
existieren – Dinge, die wir nicht sehen können, die uns jedoch
beobachten.
Genug davon.
Nur noch fünfzehn Meilen bis zum
Pol. Jetzt wird geschlafen und morgen früh geht es weiter zum Ziel.
Morgen! Hier gibt es kein Morgen, sondern einen unendlichen Tag. Die
Sonne steht jetzt um Mitternacht genauso hoch wie um die Mittagszeit.
Natürlich gibt es kleine Höhenunterschiede, aber die sind so
gering, dass sie ohne Messinstrument nicht wahrnehmbar sind.
Aber
der Pol! Morgen der Pol! Was werden wir dort finden? Nur eine
ununterbrochene weiße Fläche, oder ...
4.
Januar – Das
Geheimnisvolle, das Grauenvolle dieses Tages – oh, wie könnte ich
es jemals niederschreiben? Die Stunden, die wir gerade hinter uns
gebracht haben, waren so schrecklich, dass ich mich manchmal frage,
ob das nicht alles nur ein Traum war. Ein Traum! Ich wünschte, es
wäre nur ein Traum gewesen! Aber ich muss mir solche Gedanken aus
dem Kopf schlagen.
Wir sind früh losgefahren. Das Wetter war
wundervoller als je zuvor. Der Himmel war so azurblau, dass ein Maler
in Ekstase geraten wäre. Die Wolkenformationen: unbeschreiblich
schön und großartig. Voranzukommen war jedoch ziemlich schwierig.
Alles eine große Ebene, die sich eintönig und gleichförmig
ausbreitet, so weit das Auge reicht. Eine Ebene, die noch nie von
einem Menschen betreten wurde ... Oder doch? Als wir uns dem Pol
näherten, bekamen wir eine Antwort auf diese Frage. Travers’
scharfe Augen entdeckten ein Objekt, das sich vom blendenden Weiß
des Schnees abhob.
In diesem Moment schob Sutherland seine
bernsteinfarben getönte Brille in die Stirn und hielt das Fernglas
an die Augen.
„Steinhaufen!“, rief er aus, und seine Stimme
klang hohl und sehr seltsam. „Ein Steinhaufen oder ein Zelt. Jungs,
sie sind uns am Pol zuvorgekommen!“
Er reichte Travers das
Glas und lehnte sich, als hätte ihn eine plötzliche Müdigkeit
überfallen, gegen die Proviantkisten auf seinem
Schlitten.
„Geschlagen!“, seufzte er. „Geschlagen!“
In
diesem Moment der schrecklichen Enttäuschung tat mir unser tapferer
Anführer ziemlich leid. Ich wusste beim besten Willen nicht, was ich
sagen sollte. Also sagte ich nichts.
Plötzlich verdeckte eine
Wolke die Sonne, und der Ort, an dem wir standen, wurde in eine tiefe
und unheimliche Finsternis gehüllt. Die Veränderung war so abrupt
und markant, dass wir uns neugierig und verwundert umsahen. In der
Ferne, rechts und links, leuchtete die Ebene weiß und blendend. Doch
bald war auch dort der letzte Sonnenstrahl verschwunden. Ich hob
meinen Blick zum Himmel. Hier und da flammten die Wolkenränder auf,
als würden sie wie vom Licht eines wütenden Feuers verzehrt. Doch
auch dieses Licht verblasste allmählich. Nach ein paar Minuten war
auch der letzte Schimmer der Sonne verschwunden. Die Düsternis um
uns herum schien sich jeden Moment zu vertiefen. Ein seltsamer Dunst
verdeckte die blaue Weite des Himmels über uns. In dieser finsteren
und beklemmenden Atmosphäre gab es nicht die geringste Bewegung. Es
herrschte eine schreckliche Stille der völligen Ödnis und des
Todes.
„Was um alles in der Welt ist denn jetzt los?“,
fragte Travers.
Sutherland stand von seinem Schlitten auf und
blickte in die unheimliche Finsternis.
„Seltsame Wandlung“,
sagte er. „Gustave Doré wäre begeistert gewesen.“
„Es
gibt höchstwahrscheinlich einen Schneesturm“, bemerkte ich.
„Sollten wir nicht lieber unser Lager aufschlagen, bevor er uns
trifft? Wir wissen ja nicht, wie schlimm Schneestürme an diesem
verfluchten Ort sein können.“
„Schneesturm?“, echote
Sutherland. „Ich glaube nicht, dass das ein Schneesturm ist, Bob.
Aber man weiß ja nie. Auf jeden Fall seltsam. Und wie anders die
Gegend jetzt aussieht, in dieser seltsamen Düsternis!“
Er
wandte seinen Blick zu Travers.
„Und, Bill“, fragte er, „was
hältst du davon?“
Er winkte in Richtung des geheimnisvollen
Objekts, dessen Anblick uns so plötzlich zum Stehen gebracht hatte.
Ich sage in die Richtung des Objekts, denn das Ding selbst war nicht
mehr zu sehen.
„Ich glaube, es ist ein Zelt“, gab Travers
zurück.
„Naja“, meinte unser Leiter, „wir werden bald
rausfinden, was es ist. Steinhaufen oder Zelt – eines von beiden
wird‘s schon sein.“
Im nächsten Moment wurde die lastende
Stille durch den scharfen Knall seiner Peitsche
unterbrochen.
„Vorwärts, ihr Tölen!“, rief er. „Wir
fahren weiter, um zu sehen, was da drüben ist. Wir sind am Südpol!
Mal sehen, wer uns zuvorgekommen ist.“
Aber die Hunde wollten
nicht weiter, was mich überhaupt nicht wunderte, denn sie zeigten
schon seit einiger Zeit Anzeichen einer seltsamen, unerklärlichen
Unruhe. Was war nur in die Tiere gefahren? Eine Zeit lang rätselten
wir herum, dann wussten wir, was es war, obwohl die Erklärung für
ihr Verhalten immer noch unklar blieb. Sie fürchteten sich. Furcht?
Das war ein viel zu schwaches Wort dafür. Es war namenlose Angst,
die die armen Tiere befallen hatte. Aber woher kam sie? Auch das
wussten wir bald. Das, wovor sie sich fürchteten, was auch immer es
war, befand sich genau in der Richtung, in die wir unterwegs
waren!
Ein Steinhaufen, ein Zelt? Was hatte dieses Ding zu
bedeuten?
„Was ist bloß mit den Viechern los?“, rief
Travers.
Wieder setzten wir uns mit den widerstrebenden Tieren
in Bewegung. Der Ort lag immer noch in dieser seltsamen, unheimlichen
Düsternis. Die Stille war immer noch die schreckliche Stille der
Verlassenheit und des Todes.
Langsam, aber stetig bewegten wir
uns vorwärts und trieben die zögernden, ängstlichen Hunde mit
unseren Peitschen an.
Endlich rief Sutherland, der uns
voranfuhr, dass er etwas erkennen konnte. Er hielt an und spähte
nach vorne in die Dunkelheit, und wir trieben unsere Gespanne neben
seins.
„Muss ein Zelt sein.“
Es war tatsächlich ein
kleines Zelt, das von einem einzigen Bambusstab getragen wurde und in
alle Richtungen gut abgespannt war. Es bestand aus einfarbiger
Leinwand. An der Spitze der Zeltstange war eine weitere Stange
befestigt. Daran hingen die Reste einer kleinen norwegischen Flagge
und darunter ein Wimpel mit der Aufschrift „FRAM“, der regungslos
in der Luft hing. Das Zelt von Amundsen! [Fram
hieß das Schiff der Amundsen-Expedition. Anm. des Übers.]
Was
würden wir darin finden? Und was hatte es mit der seltsamen
Ausbuchtung auf der einen Seite auf sich?
Der Eingang war sicher
verschnürt. Das Zelt, so viel stand fest, hatte ein Jahr lang hier
gestanden, die ganze lange antarktische Nacht hindurch, und doch war
zu unserem Erstaunen nur wenig Schnee um das Zelt herum aufgetürmt.
Die Erklärung dafür ist wohl, dass die Winde, bevor sie den Pol
erreicht haben, fast den gesamten Schnee schon vorher verteilt
haben.
Einige Minuten lang standen wir einfach nur da, und eine
Menge zum Teil furchtbarer Gedanken gingen uns durch den Kopf. Es
stand hier die ganze lange antarktische Nacht hindurch! Was für
seltsame Dinge würde uns dieses Zelt erzählen, wenn sprechen
könnte! Manches würde es uns auch so preisgeben. Denn was war das
da drinnen, das die Zeltwand auf so unerklärliche Weise ausbeulte?
Ich neigte mich nach vorn, um es mit meinen Handschuhen zu ertasten,
aber aus irgendeinem Grund, den ich mir nicht erklären kann, wich
ich plötzlich zurück. In diesem Moment heulte einer der Hunde –
ein so seltsames Geräusch, und der Schrecken des Tieres war so
unverkennbar, dass ich erschauderte. Auch andere Hunde begannen auf
diese seltsame Weise zu heulen, und alle wichen bedrückt vor dem
Zelt zurück.
„Was hat das zu bedeuten?“, fragte Travers,
wobei seine Stimme fast zu einem Flüstern sank. „Seht sie euch an.
Es ist, als würden sie uns anflehen, da wegzubleiben.“
„Wir
sollen uns auch fernhalten“, bestätigte Sutherland, wobei sein
Blick von den Hunden wegschweifte und sich wieder auf das Zelt
richtete.
„Ihre Sinne“, vermutete Travers, „sind schärfer
als unsere. Sie wissen bereits, was wir nicht ahnen, bevor wir es
sehen.“
„Was sehen?!“, rief Sutherland. „Das ist die
Frage! Jungs, was werden wir sehen, wenn wir in dieses Zelt schauen?
Die armen Kerle! Sie haben den Pol erreicht. Aber haben sie ihn je
wieder verlassen? Werden wir sie da drin tot finden?“
„Tot?“,
krächzte Travers in einem plötzlichen Aufschrei. „Die Hunde
würden sich nicht so verhalten, wenn nur eine Leiche drin wäre. Und
außerdem, wenn diese Theorie stimmt, wo sind ihre Schlitten? Seht
euch doch um. In dieser platten Ebene müsste auch ein eingeschneiter
Schlitten noch gut sichtbar sein.“
„Stimmt“, gab unser
Anführer zu. „Was kann das bedeuten? Wie kann sich das Zelt so
ausbeulen? Tja, das Rätsel ist leicht zu lösen. Wir müssen nur
reinschauen.“
Er trat an den Eingang, gefolgt von Travers und
mir, und begann, ihn zu öffnen. In diesem Moment strömte ein
eisiger Luftzug über den Ort, und der Wimpel über unseren Köpfen
flatterte mit einem dumpfen, unheilvollen Geräusch. Einer der Hunde
streckte seine Schnauze in den Himmel, und ein tiefes, langgezogenes
Heulen ertönte. Und während der klagende, wilde Klang noch die Luft
erfüllte, geschah etwas Seltsames.
Durch einen plötzlichen
Riss in dem düsteren Wolkenvorhang schickte die Sonne ein goldenes,
schreckliches Licht auf die Stelle, an der wir standen. Es war ein
Lichtstrahl, der nur hundert Meter breit war, obwohl er meilenweit
reichte, und wir standen genau in seiner Mitte, während die Ebene zu
beiden Seiten in die seltsame Düsternis gehüllt war, die jetzt im
Kontrast zu dem Schwert aus goldenem Feuer, das so plötzlich über
den Schnee geschleudert worden war, dichter und unheimlicher wirkte
als je zuvor.
„Seltsamer Effekt!“, meinte Travers. „Wie
ein Scheinwerfer, der eine Bühne beleuchtet.“
Travers’
Gleichnis war ziemlich treffend, mehr als er sich vielleicht selbst
hatte träumen lassen. Dieser Ort war eine Bühne, unser Licht das
zornige Feuer der antarktischen Sonne und wir selbst Schauspieler in
einer Szene, die bizarrer war als alles, was man je in der Welt des
Theaters gesehen hatte.
Einige Augenblicke lang standen wir da
und schauten uns verwundert um, und vielleicht empfand jeder von uns
insgeheim ein wenig Ehrfurcht.
„Na gut, das ist komisch!“,
murmelte Sutherland. „Aber ...“
Er lachte auf. Oben
knatterte der Wimpel im Wind, ein hohles und geisterhaftes Geräusch.
Wieder ertönte das langgezogene, klagende Heulen des Hundes.
„Aber“,
fügte unser Leiter hinzu, „man kann‘s auch übertreiben. Am Ende
bildet man sich noch Dinge ein ...“
„Quatsch“,
protestierte Travers.
„Wir doch nicht“, stimmte ich
zu.
Endlich war der Eingang offen, und Sutherland hatte Kopf und
Schultern hineingesteckt.
Ich weiß nicht, wie lange er so
dastand. Vielleicht waren es nur ein paar Sekunden, aber Travers und
mir kam es ziemlich lang vor.
„Was ist los?“, rief Travers
schließlich. „Was siehst du?“
Die Antwort war ein Schrei –
das Grauenhafte dieses Geräusches werde ich nie vergessen – und
Sutherland taumelte zurück und wäre, glaube ich, gestürzt, wenn
wir nicht hingesprungen wären und ihn aufgefangen hätten.
„Was
ist los?“, schrie Travers. „Um Gottes Willen, Sutherland, was
hast du gesehen?“
Sutherland schlug sich mit der Hand an den
Kopf, und sein Blick war wild und schreckgeweitet.
„Was ist?“,
rief ich. „Was hast du da drinnen gesehen?“
„Ich kann es
nicht sagen – ich kann es nicht! Oh, ich wünschte, ich hätte es
nie gesehen! Seht nicht hin! Jungs, schaut nicht in das Zelt – es
sei denn, ihr wollt verrückt werden – oder schlimmeres!
„Was
ist das für ein Kauderwelsch?“, fragte Travers und starrte unseren
Anführer entgeistert an. „Komm schon, Mann! Reiß dich zusammen!
Hör mit diesem Unsinn auf! Warum sollte uns der Anblick von ein paar
toten Männern verrückt machen?“
„Tote Männer?“
Sutherland lachte, es klang wild und wahnsinnig.
„Tote Männer?
Wenn es nur das wäre! Ist das der Südpol? Ist das die Erde, oder
sind wir in einem Albtraum auf einem anderen Planeten?“
„Um
Himmels willen“, schrie Travers, „komm wieder runter! Was ist
denn in dich gefahren? Jetzt lass dich nicht so gehen!“
„Ein
toter Mann?“, wiederholte unser Anführer und blickte Travers ins
Gesicht. „Du denkst, ich habe einen toten Mann gesehen? Ich
wünschte, es wäre nur ein toter Mann gewesen. Zum Glück habt ihr
beide nichts gesehen!“
Abrupt drehte sich Travers um.
„Also“,
sagte er entschlossen, „ich schau jetzt nach!“
Doch
Sutherland schrie auf, sprang hinter ihm her und versuchte, ihn
zurück zu ziehen.
„Das würde Wahnsinn bedeuten!“, brüllte
er. „Sieh mich an. Willst du so enden wie ich?“
„Werd ich
nicht!“, brüllte Travers zurück. „Ich schau jetzt nach, was in
diesem Zelt ist.“
Er versuchte, sich loszureißen, aber
Sutherland klammerte sich völlig außer sich an ihn.
„Hilf
mir, Bob!“, rief Sutherland. „Halt ihn auf, sonst werden wir alle
verrückt!“
Aber ich half ihm nicht, Travers zurückzuhalten,
denn ich glaubte natürlich, dass Sutherland selbst wahnsinnig war.
Dann hielt Sutherland Travers nicht mehr. Mit einem plötzlichen Ruck
war er frei. Im nächsten Moment stieß er mit dem Kopf und den
Schultern ins Innere des Zeltes.
Sutherland stöhnte auf und
beobachtete ihn mit unsagbar entsetzten Blicken.
Ich bewegte
mich auf den Eingang zu, aber Sutherland stürzte sich mit solcher
Wucht auf mich, dass ich in den Schnee gestoßen wurde. Voller Wut
sprang ich auf.
„Was zum Teufel ist eigentlich los mit dir?
Bist du übergeschnappt?“
Zur Antwort kam nur ein Stöhnen,
das jenseits aller menschlichen Worte lag, aber dieser Laut kam nicht
von Sutherland. Ich drehte mich um. Travers taumelte vom Eingang weg,
eine Hand auf sein Gesicht gepresst, und aus der Tiefe seiner Kehle
drangen Laute, die ich nicht beschreiben kann. Als der Forscher auf
ihn zu taumelte, streckte Sutherland einen Arm aus und berührte
Travers leicht an der Schulter. Der Effekt kam prompt und
erschreckend. Travers sprang zur Seite, als hätte eine Schlange nach
ihm geschnappt, und schrie. Und schrie noch einmal.
„Na,
bitte!“, sagte Sutherland sanft. „Ich hab dir gesagt, du sollst
es lassen. Ich hab versucht, dir das klarzumachen, aber du dachtest,
ich sei verrückt!“
„Das kann nicht auf diese Erde
gehören!“, stöhnte Travers.
„Nein“, sagte Sutherland.
„Dieses Grauen wurde nie auf unserem Planeten geboren. Und die
Erdenbewohner, auch wenn sie nichts davon wissen, können Gott dem
Allmächtigen dafür danken.“
„Aber es ist hier!“, schrie
Travers. „Wie ist es an diesen schrecklichen Ort gekommen? Und
woher stammt es?“
„Immerhin“, tröstete Sutherland, „ist
es tot. Es muss tot sein.“
„Tot? Woher sollen wir wissen,
dass es tot ist? Und vergiss nicht: Es ist nicht allein
hierhergekommen!“
Sutherland schreckte auf. In diesem Moment
verschwand das Sonnenlicht und alles war wieder in Dunkelheit
getaucht.
„Was meinst du?“, krächzte Sutherland. „Nicht
allein? Woher weißt du, dass es nicht allein gekommen ist?“
„Na,
es ist im Zelt. Aber der Eingang wurde verschnürt – von
außen!“
„Ich Idiot!“, schrie Sutherland wütend. „Warum
habe ich nicht daran gedacht? Nicht allein! Natürlich war es nicht
allein!“
Er blickte in die Düsternis, und ich kannte nun die
namenlose Angst und das Entsetzen, die ihn bis ins Innerste
erschütterten, denn sie erschütterten auch mich.
Plötzlich
ertönte wieder das klägliche, wilde Heulen des Hundes. Wir drei
Männer zuckten zusammen, als wäre es die Stimme eines Ungeheuers
aus der schrecklichsten Tiefe der Hölle.
„Halt‘s Maul, du
Mistvieh!“, knirschte Travers. „Halt‘s Maul, oder ich mach dich
fertig!“
Ob es Travers‘ Drohung war oder nicht, weiß ich
nicht, aber das Heulen verstummte fast augenblicklich. Wieder lag die
Stille der Ödnis und des Todes über dem Ort. Nur über dem Zelt
bewegte sich der Wimpel und raschelte, und das Geräusch erschien mir
wie das Schlängeln einer widerlichen Schlange.
„Was habt ihr
da drinnen gesehen?“, fragte ich sie.
„Bob … Bob …“,
flehte Sutherland, „bitte frag uns das nicht.“
„Das Ding“,
sagte ich und drehte mich um, „kann nicht schlimmer sein als das,
was mir meine Einbildung später in den Alpträumen zeigt, wenn ich‘s
nicht sehe.“
Aber die beiden stellten sich vor mich und
versperrten mir den Weg.
„Nein!“, erklärte Sutherland fest.
„Du darfst nicht in dieses Zelt schauen, Bob. Du darfst es nicht
sehen, dieses – ich weiß nicht, wie ich es nennen soll. Vertrau
uns, glaub uns, Bob! Wir sagen es dir zuliebe, lass die Finger davon.
Wir, Travers und ich, werden nie wieder dieselben sein – unser
Verstand und unsere Seele werden nie wieder das sein, was sie vor dem
Anblick waren!“
„Na gut“, stimmte ich zu. „Aber ganz
ehrlich – mir kommt die ganze Sache wie der Traum eines Verrückten
vor.“
„Wenn du willst“, murmelte Sutherland. „Belass es
doch dabei. Glaube daran, dass es der Traum eines Verrückten ist.
Glaube, dass wir wahnsinnig sind. Glaube meinetwegen, dass du selbst
wahnsinnig bist. Glaub, was du willst. Aber sieh nicht
rein!“
„Schön!“, gab ich nach. „Ich werde nicht
hinsehen. Ich gebe mich geschlagen. Ihr zwei habt einen Feigling aus
mir gemacht.“
„Einen Feigling?“, krächzte Sutherland.
„Red keinen Unsinn, Bob. Es gibt Dinge, die ein Mensch niemals
kennenlernen sollte; Dinge, die ein Mensch niemals sehen sollte; das
Grauen dort in Amundsens Zelt gehört dazu!“
„Aber du hast
gesagt, dass es tot ist.“
Travers stöhnte auf. Sutherland
lachte schallend.
„Vertrau uns“, sagte er, „glaub uns,
Bob. Es ist nur zu deinem Besten und hat nichts mit uns zu tun. Für
uns ist es jetzt zu spät. Wir haben es gesehen und du nicht.“
Einige
Minuten lang standen wir in dieser unheimlichen Düsternis vor dem
Zelt, dann drehten wir uns um und verließen den verfluchten Ort. Ich
sagte, dass Amundsen zweifellos einige Aufzeichnungen im Zelt
hinterlassen hatte, dass auch Scott vermutlich den Pol erreicht und
das Zelt entdeckt hatte und dass wir alle diese Erinnerungsstücke
sicherstellen sollten. Sutherland und Travers nickten, aber beide
erklärten, dass sie ihren Kopf nie wieder durch den Eingang stecken
würden, und wenn alle Schätze Indiens darinnen lägen – oder
ähnliches Zeug in diesem Sinne. Wir müssten, sagten sie, weg von
diesem schrecklichen Ort – zurück in die Welt der Menschen, um
ihnen unsere furchtbare Botschaft mitzuteilen.
„Mir wollt ihr
nicht sagen, was ihr gesehen habt, und doch wollt ihr zurückkehren,
damit ihr es der Welt erzählen könnt?“
„Wir werden der
Welt nicht erzählen, was wir gesehen haben“, antwortete
Sutherland. „Erstens könnten wir das nicht und zweitens würde
uns, wenn wir es könnten, kein Mensch glauben. Aber wir müssen die
Menschen warnen, denn das Ding da drinnen kam nicht allein. Wo ist
das andere – oder die anderen?“
„Auch tot, wollen wir
hoffen!“, rief ich aus.
„Amen!“, sagte Sutherland. „Aber
vielleicht ist es gar nicht tot, wie Bill sagt. Wahrscheinlich
–“
Sutherland hielt inne, und ein wilder, unbeschreiblicher
Ausdruck trat in seine Augen.
„Vielleicht – kann es gar
nicht sterben!“
„Wahrscheinlich“, sagte ich lässig, aber
mit heimlicher Verachtung und großer Sorge um meine Kollegen.
Was
hätte das für einen Sinn gehabt, zu widersprechen? Was würde es
bringen, mit ein paar Verrückten zu diskutieren? Ja, wir müssen weg
von diesem Ort, sonst machen sie mich auch noch wahnsinnig. Und der
lange Weg zurück? Können wir den jetzt überhaupt noch schaffen?
Und was hatten sie gesehen? Welches unvorstellbare Grauen befand sich
hinter der dünnen Wand aus Zeltleinen? Nun, was immer es war, es war
real. Daran konnte ich nicht den geringsten Zweifel hegen. Real
genug, um den starken Verstand von zwei starken Männern praktisch
augenblicklich zu zerstören. Aber – waren meine armen Begleiter
wirklich verrückt?
„Oder vielleicht“, sagte Sutherland,
„sind das andere, oder die anderen, zurück zur Venus oder zum Mars
oder zum Sirius oder zum Algol oder zur Hölle selbst, oder wo auch
immer sie herkommen, um mehr von ihrer Sorte zu holen. Wenn das so
ist, dann habe der Himmel Mitleid mit der armen Menschheit! Und wenn
sie noch hier auf der Erde sind, dann wird die Welt früher oder
später – vielleicht in einem Dutzend Jahren, vielleicht in einem
Jahrhundert – davon erfahren, zu ihrem Leidwesen und zu ihrem
Entsetzen. Denn wenn sie leben, werden sie wiederkommen.“
„Ich
dachte gerade ...“, begann Travers und blickte auf das Zelt.
„Ja?“,
hakte Sutherland nach.
„Ich dachte“, sagte Travers, „dass
es vielleicht ein guter Plan wäre, mit dem Gewehr auf das Ding zu
schießen. Vielleicht ist es nicht tot, vielleicht kann es nicht
sterben. Vielleicht hält es auch nur einen Winterschlaf,
sozusagen.“
„Wenn das so ist“, lachte ich, „dann wird es
wahrscheinlich bis zum Jüngsten Tag Winterschlaf halten.“
Keiner
meiner Gefährten lachte mit.
„Oder“, meinte Travers, „es
könnte ein Dämon sein, ein materialisierter Geist ...“
„Ein
materialisierter Geist!“, rief ich. „Aber ist das im Grunde nicht
jeder Mann oder jede Frau? Weiß der Himmel, manch einer benimmt sich
auch wie ein Dämon oder ein leibhaftiger Teufel.“
„Mag
sein“, nickte Sutherland. „Aber diese Hypothese hilft uns hier
nicht weiter.“
„Vielleicht hilft sie uns ein wenig“, sagte
Travers und ging zu seinem Schlitten.
Nach einigen Augenblicken
hatte er das Gewehr herausgeholt.
„Ich dachte“, sagte er,
„dass mich nichts jemals zu diesem Eingang zurückbringen würde.
Aber die Hoffnung, dass ich vielleicht ...“
Sutherland stöhnte
auf.
„Es ist nicht irdisch, Bill“, sagte er heiser. „Es
ist ein Albtraum. Ich denke, wir sollten jetzt besser gehen.“
Travers
machte sich auf den Weg – direkt zum Zelt.
„Komm zurück,
Bill!“, stöhnte Sutherland. „Komm zurück! Lass uns abhauen,
solange wir es noch können.“
Aber Travers kam nicht zurück.
Langsam bewegte er sich vorwärts, das Gewehr vor sich ausgestreckt,
den Finger am Abzug. Er erreichte das Zelt, zögerte einen Moment,
dann stieß er den Gewehrlauf durch. So schnell er Abzug und Hebel
betätigen konnte, entleerte er die Waffe ins Zelt – in das Grauen
darin.
Er wirbelte herum und wich zurück, als hätte er Angst,
dass die Öffnung hinter ihm alle Legionen der Hölle ausspucken
würde.
Was war das? Das Blut schien in meinen Adern und in
meinem Herzen zu gefrieren, als sich aus dem Zelt ein Geräusch erhob
– ein leises, pochendes Geräusch – ein Geräusch, das kein
Mensch auf dieser Erde je gehört hat – ein Geräusch, das
hoffentlich auch kein Mensch je wieder hören wird.
Eine Panik,
ein Wahnsinn ergriff uns, Männer und Hunde gleichermaßen, und wir
flohen von diesem verfluchten Ort.
Das Geräusch verstummte.
Aber bald hörten wir es wieder. Es war noch furchterregender,
unheimlicher, wahnsinniger und höllischer als zuvor.
„Seht!“,
schrie Sutherland. „Oh, mein Gott, seht euch das an!“
Das
Zelt war jetzt kaum noch zu sehen. Ein oder zwei Augenblicke, und der
Vorhang der Finsternis würde es verdecken. Zuerst konnte ich mir
nicht vorstellen, was Sutherland dazu gebracht hatte, so
aufzuschreien. Dann sah ich es, genau in dem Moment, bevor die
Dunkelheit es verdeckte. Das Zelt bewegte sich! Es schwankte und
zuckte wie ein gestaltloses Ungeheuer im Todeskampf, wie ein
namenloses Ding, das man in einem Albtraum gesehen hat oder das einem
im Delirium erscheint.
Das war‘s. Ich habe es in aller
Ausführlichkeit und nach bestem Wissen und Gewissen unter den
wahrhaft furchtbaren Umständen, in denen ich mich befinde,
niedergeschrieben. Auf diesen hastig hingekritzelten Seiten ist eine
Erfahrung festgehalten, die, glaube ich, auch nicht von den wildesten
Erlebnissen übertroffen wird, die man auf den Seiten der
fantasievollsten Roman-Phantasten findet. Ob diese Aufzeichnungen
jemals die Welt erreichen werden, ob sie jemals von einem anderen
Auge überflogen werden, kann nur die Zukunft beantworten.
Ich
werde versuchen, optimistisch zu sein. Ich kann jedoch nicht die
Augen vor der Tatsache verschließen, dass es ziemlich schlecht um
uns steht. Es ist nicht nur dieses düstere, namenlose Geheimnis, vor
dem wir fliehen – obwohl das weiß Gott schrecklich genug ist –
sondern es sind die Gedanken meiner Gefährten. Dazu kommt noch die
Angst um mich selbst. Aber jetzt muss ich mich wieder einkriegen. Wie
Sutherland schon sagte, ich habe es nicht gesehen. Ich darf nicht
schwach werden. Wir müssen unsere Geschichte irgendwie in die Welt
bringen, auch wenn wir dafür nur Spott ernten – Spott von einer
Welt, gegen die sich jetzt eine Bedrohung zusammenbraut, die
schrecklicher ist als alles, was je das fiebrige Hirn eines
Unheil-Propheten ausgebrütet hat.
Wir sind jetzt etwa ein
Dutzend Meilen vom Pol entfernt. Bei der überstürzten Flucht vor
dem Zelt des Schreckens haben wir die Orientierung verloren und eine
Zeit lang, so fürchte ich, sind wir in Panik geraten. Die
unheimliche Düsternis war dichter denn je. Dann fielen feine
Schneekristalle, die alles noch schlimmer machten. Gerade als wir
verzweifelt aufgeben wollten, entdeckten wir zufällig einen unserer
errichteten Signalpunkte. Das gab uns die Orientierung wieder, und
wir langten bald dort an.
Travers hat gerade seinen Kopf ins
Zelt gesteckt, um uns zu sagen, dass er sicher ist, etwas in der
Dunkelheit gesehen zu haben. Etwas bewegt sich da draußen! Das muss
untersucht werden.
[Hätte
Robert Drumgold doch nur einen so ausführlichen Bericht über die
folgenden Tage hinterlassen, wie er ihn über den schrecklichen 4.
Januar geschrieben hat! Niemand wird je erfahren, was die drei
Entdecker durchmachten, um einem Schicksal zu entkommen, vor dem es
kein Entrinnen gab –
einem Schicksal, dessen Horror vielleicht alles übertrifft, was sich
die schrecklichste Gothic-Fantasie je ausgemalt hat.]
5.
Januar – Travers
hat wirklich etwas gesehen, denn wir drei sahen es heute wieder. War
es das Ding, das nicht von dieser Erde ist, das die beiden in
Amundsens Zelt sahen? Wir wissen nicht, was es ist. Wir wissen nur,
dass es etwas ist, das sich bewegt. Habe Gott Erbarmen mit uns allen
– mit jedem Mann, jeder Frau und jedem Kind auf dieser Erde, wenn
es dieses Ding ist, vor dem wir uns fürchten!
6.
Januar – Heute 25
Meilen gefahren, gestern 20. Ich habe es heute nicht gesehen. Aber
ich habe es gehört. Es schien ganz nah zu sein – einmal quasi
direkt neben uns. Aber das muss Einbildung gewesen sein. Die
Auswirkungen auf die Hunde sind schrecklich. Die armen Viecher! Für
sie ist es genauso schrecklich wie für uns. Manchmal, denke ich,
sogar noch schrecklicher. Warum verfolgt es uns?
7
Januar – Zwei der
Hunde sind heute Morgen verschwunden. Jeder von uns hat die ganze
„Nacht“ Wache gehalten. Nichts gesehen, kein Geräusch gehört,
doch die Tiere sind verschwunden. Haben sie uns verlassen? Wir sagen,
dass es so ist, aber jeder von uns weiß, dass keiner daran glaubt.
18 Meilen geschafft. Wir befürchten, dass Travers wirklich verrückt
geworden ist.
8.
Januar – Travers ist weg! Er hat letzte Nacht um 12 Uhr die Wache
übernommen und Sutherland abgelöst. Das war das letzte Mal, dass
wir Travers gesehen haben – und das letzte Mal, dass wir ihn jemals
sehen werden. Keine Spuren – kein einziges Zeichen im Schnee.
Travers, der arme Travers, ist tot! Wer wird der Nächste sein?
9.
Januar –
Ich habe es wieder
gesehen! Warum lässt es sich manchmal blicken? Ist es das Grauen in
Amundsens Zelt? Sutherland erklärt, dass es das nicht ist, dass es
etwas Höllischeres ist. Aber S. ist jetzt auch verrückt –
verrückt – verrückt – verrückt. Wenn ich nicht absolut
zurechnungsfähig wäre, würde ich denken, dass das alles nur
Einbildung ist. Aber ich habe es gesehen!
11.
Januar –
Ich glaube, es ist
der 11. Januar, bin mir aber nicht sicher. Ich bin mir bei nichts
mehr sicher – außer, dass ich allein bin und dass es mich
beobachtet. Ich weiß nicht, woher ich das weiß, denn ich kann es
nicht sehen. Aber ich weiß, dass es mich beobachtet. Es beobachtet
mich immer. Und irgendwann wird es kommen und mich holen – so wie
es Travers und Sutherland und die Hälfte der Hunde geholt hat.
Ja,
heute muss der 11. sein. Denn gestern – es war sicher erst gestern
– hat es Sutherland geholt. Ich habe nicht gesehen, wie es ihn
geholt hat, denn es war Nebel aufgezogen und Sutherland – wir
marschierten durch diesen Nebel weiter – folgte so langsam, dass
ich ihn im Dunst nicht mehr sehen konnte. Als er schließlich nicht
mehr aufholte, ging ich zurück. Aber S. war weg – Mann, Hunde,
Schlitten, alles weg. Armer Sutherland! Aber er war ja auch verrückt.
Wahrscheinlich war das der Grund, warum es ihn erwischt hat. Hat es
mich verschont, weil ich noch bei Verstand bin? S. hatte das Gewehr.
Immer klammerte er sich an das Gewehr – als ob eine Kugel ihn vor
dem Ding retten könnte! Meine einzige Waffe ist eine Axt. Aber wozu
ist eine Axt gut?
13.
Januar –
vielleicht ist es der 14. Ich weiß es nicht. Was macht das schon?
Ich habe es heute dreimal gesehen. Jedes Mal war es näher dran. Die
Hunde winseln immer noch um das Zelt. Da – wieder dieses
furchtbare, höllische Geräusch. Die Hunde sind jetzt still. Wieder
dieses Geräusch. Aber ich traue mich nicht hinauszuschauen. Die
Axt.
Stunden später. Ich kann nicht mehr schreiben.
Stille.
Stimmen – ich scheine Stimmen zu hören. Wieder dieses Geräusch.
Es
kommt näher. Am Eingang jetzt – jetzt –
John Martin Leahy: In Amundsen’s Tent
Weird Tales 1928/1
Übersetzung: Matthias Käther © 2023
Keine Kommentare:
Kommentar veröffentlichen