Montag, 18. November 2024

John Martin Leahy - In Amundsens Zelt (1928)

 John Martin Leahy: In Amundsens Zelt (1928)


Das legendäre Magazin „Weird Tales“ (1923-54) enthält mehr als 3000 Erzählungen. Kein Problem, dort Material auszugraben, das auch heute noch fesselt. Viele Sachen sind Neufunde, die dort seit Jahrzehnten ruhen – und tatsächlich sind fast alle Geschichten, die ich für Zwielicht übersetzt habe, noch nie anthologisiert worden, auch im Englischen nicht. Überraschenderweise gibt es aber eine erstaunlich große Zahl an Werken, die englischsprachige Klassiker geworden sind und bisher unübersetzt blieben. Eine empfindliche Lücke hat der Festa-Verlag 2023 mit seiner fünfbändigen Jubiläumsausgabe geschlossen, aber es bleibt noch genug übrig. Leahys Story „In Amundsens Zelt“ wurde unzählige Male anthologisiert und ins Spanische, Französische und Holländische übersetzt. Dennoch ist sie deutschen Herausgeber/-innen bisher entgangen. Ein würdiger Beitrag für die 20. Ausgabe von Zwielicht, finde ich!

Die Story hat einen realistischen Aufhänger. 1911 lieferten sich Amundsen und Scott ein spektakuläres Wettrennen zum unentdeckten Südpol. Amundsen erreichte das Ziel als erster und hinterließ der nachkommenden Scott-Expedition ein Zelt mit Notizen und Proviant. Scott erreichte das Zelt, aber er und seine vier Mitstreiter starben alle auf dem Rückweg. Der Erzähler erfindet eine dritte Expedition, die am Wettrennen teilnimmt.

John Miller stellt in seiner verdienstvollen Anthologie „Polar Horrors“ (2022) die These auf, die Story könnte die unmittelbare Vorlage für John W. Campbells Horror-Klassiker „Who goes there?“ (1938) gewesen sein. Ich halte das für zweifelhaft. Beide Autoren dürften sich auf einen älteren Klassiker bezogen haben, „The Thing from Outside“ (1923) von George Allan England.


Reisenden, sagt Richard A. Proctor, „wird manchmal nachgesagt, dass sie wundersame Geschichten erzählen; aber es ist eine bemerkenswerte Tatsache, dass in neun von zehn Fällen die wundersamen Geschichten von anderen Reisenden bestätigt wurden.“

Sicherlich hat kein Reisender jemals eine wundersamere Geschichte aufgeschrieben als die von Robert Drumgold. Ich entschuldige mich beim Geist des unglücklichen Entdeckers dafür, dass ich sie so lange zurückgehalten habe, und übergebe diesen Bericht nun endlich der Öffentlichkeit. Allerdings möchte ich wahrheitsgemäß hinzufügen, dass Eastman, Dahlstrom und ich ihn für das Werk eines geistig Verwirrten halten; kein Wunder, dass sein Verstand gelitten hat angesichts der furchtbaren Strapazen, die er durchgemacht hatte, und dass die Angst vor dem Schicksal, das ihm drohte, ihn verwirrte. Was war das für ein Ding (wenn es denn ein „Ding“ war), das zu ihm kam, dem einzigen Überlebenden der Gruppe, die den Südpol erreicht hatte, das sich in das Zelt drängte und dort nur den abgetrennten Kopf von Drumgold zurückließ?
Unsere damalige und bis vor kurzem gültige Erklärung war, dass Drumgold von seinen Hunden angefallen und gefressen worden war. Warum vom Kopf nicht das Fleisch abgenagt worden war, war uns ein völliges Rätsel. Aber das war nur eines der vielen Dinge, die für uns rätselhaft blieben ...
Jetzt wissen wir, dass diese Erklärung so weit von der Wahrheit entfernt war, wie der trostlose, eisbedeckte Ort, an dem er sein Ende fand, von den lächelnden, blumenübersäten Regionen der Tropen.
Ja, wir dachten, dass der Verstand des armen Robert Drumgold den Geist aufgegeben hatte, dass das Grauen in Amundsens Zelt und das, was Drumgold dort widerfuhr, nur Wahnsinn sein konnte. Deshalb haben wir diesen Teil des Drumgold-Manuskripts bisher nicht veröffentlicht. Wir befürchteten, dass die Herausgabe eines so außergewöhnlichen Berichts die wahren Leistungen der Sutherland-Expedition in Zweifel ziehen könnte.
Aber in letzter Zeit haben unsere Ideen und Überzeugungen einen Wandel durchgemacht, der nichts weniger als eine Kehrtwende ist. Diese Kehrtwende, das muss wohl kaum erwähnt werden, ist auf die erstaunlichen Entdeckungen zurückzuführen, die der verstorbene Kapitän Stanley Livingstone in der Region des Südpols machte und die von der Expedition unter der Leitung von Darwin Frontenac bestätigt und ausgeweitet wurden. Wie wir heute wissen, hielt Kapitän Livingstone seine wahre Entdeckung wegen des Zweifels und Spotts, die ihm bei seiner Rückkehr begegneten, bald vor allen anderen geheim – außer vor zwei Menschen: Darwin Frontenac und Bond McQuestion. Erst jetzt, nach Frontenacs Rückkehr, erfahren wir, wie wunderbar und frappierend die Entdeckungen des unglücklichen Kapitäns wirklich waren. Doch trotz des Erfolgs der Frontenac-Expedition muss man zugeben, dass das Mysterium dort unten in der Antarktis eher noch größer als kleiner geworden ist. Darwin Frontenac und seine Gefährten haben viel gesehen; aber wir wissen, dass es dort unten Dinge und Wesen gibt, die sie nicht gesehen haben. Die Antarktis – oder besser gesagt, ein Teil davon – ist damit plötzlich zum interessantesten und sicherlich auch zum furchterregendsten Gebiet auf unserem Globus geworden.
Eine weitere wunderbare Geschichte, die von einem Reisenden erzählt wurde – oder besser gesagt, nur teilweise erzählt wurde – hat sich also bestätigt. Eastman und ich – wir bereiten uns darauf vor, erneut in die Antarktis zu reisen, um, wie wir hoffen, eine weitere Geschichte zu bestätigen – eine unheimliche und furchterregende Geschichte, wie sie sich kein Romanautor je ausgedacht hat.
Und wenn man bedenkt, dass wir es waren, Eastman, Dahlstrom und ich, die die ursprüngliche Entdeckung machten! Ja, wir waren es, die das Zelt betraten und dort den Kopf von Robert Drumgold fanden und die Blätter, auf die er seine Geschichte voller Geheimnisse und Schrecken gekritzelt hatte. Wenn ich mir vorstelle, dass wir dort standen, genau an der Stelle, an der der Kopf lag, und die Geschichte nur für das haltlose Hirngespinst eines Verrückten hielten!
Wie lebhaft taucht alles wieder vor mir auf – die weiße Weite, grell und blendend im ungemilderten Licht der antarktischen Sonne; die Hunde, die sich im Geschirr abmühten; die Kisten auf den Schlitten, lang und schwarz wie Särge; unser plötzlicher Halt, als Eastman uns zuwinkte und sagte: „Hallo! Was ist das?“
Ungefähr eine halbe Meile weiter links durchbrach ein Objekt das blendende Weiß der Ebene.
„Eine Felserhebung, nehme ich an“, war meine Antwort.
„Sieht für mich aus wie ein Steinhaufen oder ein Zelt“, sagte Dahlstrom.
„Wie um alles in der Welt“, fragte ich, „kann ein Zelt hier unten bei 87° 30‟ Süd hingekommen sein? Wir sind weit von der Route von Amundsen oder Scott entfernt.“
„Hm“, murmelte Eastman, „das frage ich mich auch. Heiliger Bimbam!“, fügte er mit einem Blick auf Dahlstrom hinzu. „Ich glaube, du hast recht!“
„Auf jeden Fall“, nickte Dahlstrom, „sieht es für mich wie ein Steinhaufen oder ein Zelt aus. Ich glaube nicht, dass es eine Felserhebung ist.“
„Nun“, meinte ich, „es ist nicht schwer, das rauszufinden.“
Im nächsten Moment setzten wir uns in Bewegung und steuerten direkt auf das geheimnisvolle Objekt inmitten der ewigen Einöde aus Schnee und Eis zu.
„Tatsache!“, rief Eastman, der voranging, plötzlich. „Seht ihr das? Es ist ein Zelt!“
Ein paar Augenblicke später wusste ich, dass es tatsächlich so war. Aber wer hatte es dort aufgeschlagen? Was würden wir darin finden?
Ich kann die Gedanken und Gefühle nicht beschreiben, die uns bewegten, als wir uns dem Ort näherten. Der Schnee türmte sich um das Zelt herum bis zu einer Höhe von mindestens einem Meter auf. In der Nähe ragte ein zersplitterter Ski aus der Oberfläche heraus – das war alles.
Und diese Stille! Die Luft war in diesem Moment ohne die geringste Bewegung. Nur unsere Bewegungen, die der Hunde und unser eigener Atem durchbrachen die schreckliche Ruhe des Todes.
„Die armen Teufel!“, sagte Eastman schließlich. „Immerhin haben sie ihr Zelt gut aufgebaut.“
Es wurde von einer einzigen Stange gestützt, die in der Mitte stand. An dieser Stange waren drei Abspannleinen befestigt, von denen eine so straff war wie an dem Tag, an dem der Pfahl in den Boden gerammt worden war. Aber das war noch nicht alles: Ein halbes Dutzend oder mehr Leinen waren an den Seiten des Zeltes befestigt. Wir wussten nicht, wie lange es dort gestanden hatte, um den heftigen Winden dieser schrecklichen Region zu trotzen.
Dahlstrom und ich holten jeweils einen Spaten und begannen, den Schnee zu entfernen. Der Eingang war zwar nicht verschlossen, aber durch ein paar leere Proviantkisten und ein Stück Segeltuch versperrt. „Wie um alles in der Welt“, rief ich, „sind die Dinger an diese Stelle gekommen?“
„Der Wind“, sagte Dahlstrom. „Wenn der Eingang nicht damit versperrt gewesen wäre, gäbe es jetzt kein Zelt mehr; der Wind hätte es schon längst zerrissen und zerstört.“
„Hm“, überlegte Eastman. „Der Wind hat das getan? Der Wind hat den Eingang so blockiert? Ich weiß nicht ...“
Im nächsten Moment hatten wir alles beiseite geräumt. Ich steckte meinen Kopf durch die Öffnung. Seltsamerweise war nur wenig Schnee hereingetrieben worden. Das Zelt war dunkelgrün, dadurch wirkte das Licht im Inneren etwas unheimlich und gruselig – vielleicht trug auch meine Fantasie zu diesem Effekt bei.
„Was siehst du, Bill?“, fragte Eastman. „Was ist da drin?“
Meine Antwort war ein Schrei, und im nächsten Moment war ich vom Eingang zurückgesprungen.
„Was ist es, Bill?“, rief Eastman. „Großer Gott, was ist es, Mann?“
„Ein Kopf!“
„Ein Kopf?“
„Ein menschlicher Kopf!“
Er und Dahlstrom bückten sich und spähten hinein. „Was hat das zu bedeuten?“, schrie Eastman. „Ein abgetrennter menschlicher Kopf!“
Dahlstrom fuhr sich mit der behandschuhten Hand über die Augen.
„Träumen wir?“, murmelte er.
„Das ist kein Traum, Nels“, erwiderte unser Anführer. „Ich wünschte, es wäre einer. Ein Kopf! Ein menschlicher Kopf!“
„Ist da nicht noch mehr?“, fragte ich.
„Nichts. Kein Körper, nicht einmal abgetrennte Knochen – nur dieser abgetrennte Kopf! Könnten die Hunde ...“
„Ja?“, fragte Dahlstrom.
„Könnten die Hunde das getan haben?“
„Hunde?“, überlegte Dahlstrom. „Das ist nicht das Werk von Hunden.“
Wir traten ein und sahen auf die grausigen sterblichen Überreste hinunter.
„Das waren keine Hunde“, bestätigte Dahlstrom noch einmal.
„Keine Hunde?“, fragte Eastman. „Welche andere Erklärung gibt es dann – außer Kannibalismus?“
Kannibalismus! Mir lief ein Schauer über den Rücken. Ich kann aber auch gleich vorausschicken, dass die Entdeckung eines großzügigen Vorrats an Fruchtkuchen und Keksen auf dem Schlitten, der in diesem Moment noch völlig vom Schnee verdeckt war, uns später zeigen sollte, dass diese schreckliche Erklärung nicht die richtige war. Die Hunde! Das war es, das war die einzige Erklärung – auch wenn die Aufzeichnungen des Opfers selbst eine ganz andere Geschichte erzählen würden. Ja, der Forscher war von seinen Hunden angefallen und gefressen worden. Aber es gab einige Dinge, die gegen diese Theorie sprachen. Warum hatten die Tiere den Kopf zurückgelassen – mit den gefrorenen Augen (es waren blaue Augen) und einem Blick des Entsetzens, der mir noch heute einen Schauer über den Rücken jagt? Der Kopf wies nicht die Spur eines einzigen Reißzahns auf, obwohl es so aussah, als sei er vom Rumpf abgekaut worden. Dahlstrom war jedoch der Meinung, dass er abgehackt worden war.
In der Geschichte des Mannes, Robert Drumgold, fanden wir ein weiteres Rätsel – ebenso unlösbar (wenn sein Bericht denn authentisch war) wie das Vorhandensein des abgetrennten Kopfes. Die Geschichte war mit Bleistift auf die Seiten seines Tagebuchs gekritzelt. Aber was sollten wir mit einem Bericht anfangen, der so seltsam und furchtbar war, vor allem auf den letzten Seiten?
Doch genug von dem, was wir dachten und was wir uns fragten. Das Tagebuch liegt vor mir, und ich werde nun die Geschichte von Robert Drumgold mit seinen eigenen Worten wiedergeben. Kein Wort, kein Komma soll gestrichen, eingefügt oder verändert werden.
Beginnen wir mit dem Eintrag vom 3. Januar, an dem die kleine Gruppe nur noch fünfzehn geografische Meilen vom Pol entfernt war.
Hier ist er.



3. Januar – Position unseres Lagers 89° 45‘ 10“. Nur noch fünfzehn Meilen, und der Pol gehört uns – es sei denn, Amundsen oder Scott sind uns zuvorgekommen, oder beide. Aber er wird uns trotzdem gehören, auch wenn der Ruhm der Entdeckung einem anderen gebührt. Was werden wir dort finden? Alle sind gut gelaunt. Selbst die Hunde scheinen zu wissen, dass dies die Vollendung einer großen Vision ist. Was uns allerdings rätselhaft erscheint, ist das seltsame Interesse, das sie heute für das Gebiet vor uns gezeigt haben. Wenn wir anhielten, schauten sie starr geradeaus nach Süden und schnüffelten und schnupperten unentwegt. Was hat das zu bedeuten? Ja, alle sind bester Laune – sowohl die Hunde als auch wir drei Männer. Alles ist vielversprechend. Das Wetter war in den letzten drei Tagen einfach herrlich. Nicht ein einziges Mal lag die Temperatur in dieser Zeit unter minus 5 Grad. Während ich dies schreibe, zeigt das Thermometer ein Grad mehr an. Das Blau des Himmels ist wie das, wovon Maler träumen, und in diesem Blau türmen sich Wolkenformationen auf, die in den Schatten violett gefärbt und unbeschreiblich schön sind. Wenn man vergessen könnte, dass nichts außer den spärlichen Nahrungsvorräten auf unseren Schlitten zwischen uns und einem schrecklichen Tod stehen, dann könnte man meinen, man befände sich in einem Märchenland – einem herrlichen Märchenland in Weiß, Blau und Violett. Ein Märchenland? Warum ist mir dieser Gedanke so oft in den Sinn gekommen? Warum habe ich diese trostlose, schreckliche Gegend so oft mit dem Märchenland verglichen? Schrecklich? Ja, für die Menschen ist sie schrecklich – schrecklicher als Worte es ausdrücken können. Aber obwohl sie für die Menschen so unsagbar schrecklich ist, ist sie es objektiv gesehen vielleicht gar nicht. Sind denn alle Dinge, unsere Erde, ganz zu schweigen vom Universum, überhaupt für den Menschen gemacht? Für eine Kreatur (ein gottähnlicher Geist im Körper eines Affen), die inmitten von Wundern in Wahnsinn und Hass schwelgt und sich im Dreck von tausend Begierden suhlt? Kann es nicht andere Wesen geben – ja, sogar auf dieser unserer Erde –, die wunderbarer und auch schrecklicher sind als er? Weiß der Himmel, mehr als einmal habe ich in dieser Trostlosigkeit aus Schnee und Eis ihre Anwesenheit in der Luft um uns herum gespürt – namenlose Wesen, körperlos, die alles beobachten. Kein Wunder, dass mir immer wieder die seltsamen Worte des großen amerikanischen Wissenschaftlers Alexander Winchell in den Sinn kamen: „Leben ist weder von warmem Blut noch von einer Temperatur abhängig, die den Organismus der Umgebung anpasst. Es mag Intelligenzen geben, die so konstruiert sind, dass die Prozesse der Nahrungsaufnahme, Assimilation und Reproduktion nicht notwendig sind. Solche Körper bräuchten keine tägliche Nahrung und Wärme. Sie könnten in den Abgründen des Ozeans existieren, auf einer stürmischen Klippe die Stürme eines arktischen Winters überstehen oder hundert Jahre lang in einem Vulkan vegetieren und dennoch ihr Bewusstsein und ihre Gedanken behalten.“
All das ist laut Winchell denkbar, und er fügt hinzu:
„Lebendige Körper sind lediglich die lokale Anpassung der Intelligenz an bestimmte Modifikationen der universellen Materie.“
Und diese Wesenheiten, diese namenlosen Dinge, deren Anwesenheit ich manchmal zu spüren scheine – sind sie gütige Wesen oder Dinge, die furchterregender sind, als selbst der Wahnsinn eines menschlichen Gehirns sie je erschaffen hat?
Aber ich muss jetzt damit aufhören. Wenn Sutherland oder Travers lesen würden, was ich hier niedergeschrieben habe, würden sie denken, dass ich den Verstand verliere, oder sie würden mich bereits für verrückt erklären. Doch so wie es einen Himmel über uns gibt, glaube ich auch, dass an diesem schrecklichen Ort noch andere Wesen als uns und unsere Hunde existieren – Dinge, die wir nicht sehen können, die uns jedoch beobachten.
Genug davon.
Nur noch fünfzehn Meilen bis zum Pol. Jetzt wird geschlafen und morgen früh geht es weiter zum Ziel. Morgen! Hier gibt es kein Morgen, sondern einen unendlichen Tag. Die Sonne steht jetzt um Mitternacht genauso hoch wie um die Mittagszeit. Natürlich gibt es kleine Höhenunterschiede, aber die sind so gering, dass sie ohne Messinstrument nicht wahrnehmbar sind.
Aber der Pol! Morgen der Pol! Was werden wir dort finden? Nur eine ununterbrochene weiße Fläche, oder ...


4. Januar – Das Geheimnisvolle, das Grauenvolle dieses Tages – oh, wie könnte ich es jemals niederschreiben? Die Stunden, die wir gerade hinter uns gebracht haben, waren so schrecklich, dass ich mich manchmal frage, ob das nicht alles nur ein Traum war. Ein Traum! Ich wünschte, es wäre nur ein Traum gewesen! Aber ich muss mir solche Gedanken aus dem Kopf schlagen.
Wir sind früh losgefahren. Das Wetter war wundervoller als je zuvor. Der Himmel war so azurblau, dass ein Maler in Ekstase geraten wäre. Die Wolkenformationen: unbeschreiblich schön und großartig. Voranzukommen war jedoch ziemlich schwierig. Alles eine große Ebene, die sich eintönig und gleichförmig ausbreitet, so weit das Auge reicht. Eine Ebene, die noch nie von einem Menschen betreten wurde ... Oder doch? Als wir uns dem Pol näherten, bekamen wir eine Antwort auf diese Frage. Travers’ scharfe Augen entdeckten ein Objekt, das sich vom blendenden Weiß des Schnees abhob.
In diesem Moment schob Sutherland seine bernsteinfarben getönte Brille in die Stirn und hielt das Fernglas an die Augen.
„Steinhaufen!“, rief er aus, und seine Stimme klang hohl und sehr seltsam. „Ein Steinhaufen oder ein Zelt. Jungs, sie sind uns am Pol zuvorgekommen!“
Er reichte Travers das Glas und lehnte sich, als hätte ihn eine plötzliche Müdigkeit überfallen, gegen die Proviantkisten auf seinem Schlitten.
„Geschlagen!“, seufzte er. „Geschlagen!“
In diesem Moment der schrecklichen Enttäuschung tat mir unser tapferer Anführer ziemlich leid. Ich wusste beim besten Willen nicht, was ich sagen sollte. Also sagte ich nichts.
Plötzlich verdeckte eine Wolke die Sonne, und der Ort, an dem wir standen, wurde in eine tiefe und unheimliche Finsternis gehüllt. Die Veränderung war so abrupt und markant, dass wir uns neugierig und verwundert umsahen. In der Ferne, rechts und links, leuchtete die Ebene weiß und blendend. Doch bald war auch dort der letzte Sonnenstrahl verschwunden. Ich hob meinen Blick zum Himmel. Hier und da flammten die Wolkenränder auf, als würden sie wie vom Licht eines wütenden Feuers verzehrt. Doch auch dieses Licht verblasste allmählich. Nach ein paar Minuten war auch der letzte Schimmer der Sonne verschwunden. Die Düsternis um uns herum schien sich jeden Moment zu vertiefen. Ein seltsamer Dunst verdeckte die blaue Weite des Himmels über uns. In dieser finsteren und beklemmenden Atmosphäre gab es nicht die geringste Bewegung. Es herrschte eine schreckliche Stille der völligen Ödnis und des Todes.
„Was um alles in der Welt ist denn jetzt los?“, fragte Travers.
Sutherland stand von seinem Schlitten auf und blickte in die unheimliche Finsternis.
„Seltsame Wandlung“, sagte er. „Gustave Doré wäre begeistert gewesen.“
„Es gibt höchstwahrscheinlich einen Schneesturm“, bemerkte ich. „Sollten wir nicht lieber unser Lager aufschlagen, bevor er uns trifft? Wir wissen ja nicht, wie schlimm Schneestürme an diesem verfluchten Ort sein können.“
„Schneesturm?“, echote Sutherland. „Ich glaube nicht, dass das ein Schneesturm ist, Bob. Aber man weiß ja nie. Auf jeden Fall seltsam. Und wie anders die Gegend jetzt aussieht, in dieser seltsamen Düsternis!“
Er wandte seinen Blick zu Travers.
„Und, Bill“, fragte er, „was hältst du davon?“
Er winkte in Richtung des geheimnisvollen Objekts, dessen Anblick uns so plötzlich zum Stehen gebracht hatte. Ich sage in die Richtung des Objekts, denn das Ding selbst war nicht mehr zu sehen.
„Ich glaube, es ist ein Zelt“, gab Travers zurück.
„Naja“, meinte unser Leiter, „wir werden bald rausfinden, was es ist. Steinhaufen oder Zelt – eines von beiden wird‘s schon sein.“
Im nächsten Moment wurde die lastende Stille durch den scharfen Knall seiner Peitsche unterbrochen.
„Vorwärts, ihr Tölen!“, rief er. „Wir fahren weiter, um zu sehen, was da drüben ist. Wir sind am Südpol! Mal sehen, wer uns zuvorgekommen ist.“
Aber die Hunde wollten nicht weiter, was mich überhaupt nicht wunderte, denn sie zeigten schon seit einiger Zeit Anzeichen einer seltsamen, unerklärlichen Unruhe. Was war nur in die Tiere gefahren? Eine Zeit lang rätselten wir herum, dann wussten wir, was es war, obwohl die Erklärung für ihr Verhalten immer noch unklar blieb. Sie fürchteten sich. Furcht? Das war ein viel zu schwaches Wort dafür. Es war namenlose Angst, die die armen Tiere befallen hatte. Aber woher kam sie? Auch das wussten wir bald. Das, wovor sie sich fürchteten, was auch immer es war, befand sich genau in der Richtung, in die wir unterwegs waren!
Ein Steinhaufen, ein Zelt? Was hatte dieses Ding zu bedeuten?
„Was ist bloß mit den Viechern los?“, rief Travers.
Wieder setzten wir uns mit den widerstrebenden Tieren in Bewegung. Der Ort lag immer noch in dieser seltsamen, unheimlichen Düsternis. Die Stille war immer noch die schreckliche Stille der Verlassenheit und des Todes.
Langsam, aber stetig bewegten wir uns vorwärts und trieben die zögernden, ängstlichen Hunde mit unseren Peitschen an.
Endlich rief Sutherland, der uns voranfuhr, dass er etwas erkennen konnte. Er hielt an und spähte nach vorne in die Dunkelheit, und wir trieben unsere Gespanne neben seins.
„Muss ein Zelt sein.“
Es war tatsächlich ein kleines Zelt, das von einem einzigen Bambusstab getragen wurde und in alle Richtungen gut abgespannt war. Es bestand aus einfarbiger Leinwand. An der Spitze der Zeltstange war eine weitere Stange befestigt. Daran hingen die Reste einer kleinen norwegischen Flagge und darunter ein Wimpel mit der Aufschrift „FRAM“, der regungslos in der Luft hing. Das Zelt von Amundsen!
[Fram hieß das Schiff der Amundsen-Expedition. Anm. des Übers.]
Was würden wir darin finden? Und was hatte es mit der seltsamen Ausbuchtung auf der einen Seite auf sich?
Der Eingang war sicher verschnürt. Das Zelt, so viel stand fest, hatte ein Jahr lang hier gestanden, die ganze lange antarktische Nacht hindurch, und doch war zu unserem Erstaunen nur wenig Schnee um das Zelt herum aufgetürmt. Die Erklärung dafür ist wohl, dass die Winde, bevor sie den Pol erreicht haben, fast den gesamten Schnee schon vorher verteilt haben.
Einige Minuten lang standen wir einfach nur da, und eine Menge zum Teil furchtbarer Gedanken gingen uns durch den Kopf. Es stand hier die ganze lange antarktische Nacht hindurch! Was für seltsame Dinge würde uns dieses Zelt erzählen, wenn sprechen könnte! Manches würde es uns auch so preisgeben. Denn was war das da drinnen, das die Zeltwand auf so unerklärliche Weise ausbeulte? Ich neigte mich nach vorn, um es mit meinen Handschuhen zu ertasten, aber aus irgendeinem Grund, den ich mir nicht erklären kann, wich ich plötzlich zurück. In diesem Moment heulte einer der Hunde – ein so seltsames Geräusch, und der Schrecken des Tieres war so unverkennbar, dass ich erschauderte. Auch andere Hunde begannen auf diese seltsame Weise zu heulen, und alle wichen bedrückt vor dem Zelt zurück.
„Was hat das zu bedeuten?“, fragte Travers, wobei seine Stimme fast zu einem Flüstern sank. „Seht sie euch an. Es ist, als würden sie uns anflehen, da wegzubleiben.“
„Wir sollen uns auch fernhalten“, bestätigte Sutherland, wobei sein Blick von den Hunden wegschweifte und sich wieder auf das Zelt richtete.
„Ihre Sinne“, vermutete Travers, „sind schärfer als unsere. Sie wissen bereits, was wir nicht ahnen, bevor wir es sehen.“
„Was sehen?!“, rief Sutherland. „Das ist die Frage! Jungs, was werden wir sehen, wenn wir in dieses Zelt schauen? Die armen Kerle! Sie haben den Pol erreicht. Aber haben sie ihn je wieder verlassen? Werden wir sie da drin tot finden?“
„Tot?“, krächzte Travers in einem plötzlichen Aufschrei. „Die Hunde würden sich nicht so verhalten, wenn nur eine Leiche drin wäre. Und außerdem, wenn diese Theorie stimmt, wo sind ihre Schlitten? Seht euch doch um. In dieser platten Ebene müsste auch ein eingeschneiter Schlitten noch gut sichtbar sein.“
„Stimmt“, gab unser Anführer zu. „Was kann das bedeuten? Wie kann sich das Zelt so ausbeulen? Tja, das Rätsel ist leicht zu lösen. Wir müssen nur reinschauen.“
Er trat an den Eingang, gefolgt von Travers und mir, und begann, ihn zu öffnen. In diesem Moment strömte ein eisiger Luftzug über den Ort, und der Wimpel über unseren Köpfen flatterte mit einem dumpfen, unheilvollen Geräusch. Einer der Hunde streckte seine Schnauze in den Himmel, und ein tiefes, langgezogenes Heulen ertönte. Und während der klagende, wilde Klang noch die Luft erfüllte, geschah etwas Seltsames.
Durch einen plötzlichen Riss in dem düsteren Wolkenvorhang schickte die Sonne ein goldenes, schreckliches Licht auf die Stelle, an der wir standen. Es war ein Lichtstrahl, der nur hundert Meter breit war, obwohl er meilenweit reichte, und wir standen genau in seiner Mitte, während die Ebene zu beiden Seiten in die seltsame Düsternis gehüllt war, die jetzt im Kontrast zu dem Schwert aus goldenem Feuer, das so plötzlich über den Schnee geschleudert worden war, dichter und unheimlicher wirkte als je zuvor.
„Seltsamer Effekt!“, meinte Travers. „Wie ein Scheinwerfer, der eine Bühne beleuchtet.“
Travers’ Gleichnis war ziemlich treffend, mehr als er sich vielleicht selbst hatte träumen lassen. Dieser Ort war eine Bühne, unser Licht das zornige Feuer der antarktischen Sonne und wir selbst Schauspieler in einer Szene, die bizarrer war als alles, was man je in der Welt des Theaters gesehen hatte.
Einige Augenblicke lang standen wir da und schauten uns verwundert um, und vielleicht empfand jeder von uns insgeheim ein wenig Ehrfurcht.
„Na gut, das ist komisch!“, murmelte Sutherland. „Aber ...“
Er lachte auf. Oben knatterte der Wimpel im Wind, ein hohles und geisterhaftes Geräusch. Wieder ertönte das langgezogene, klagende Heulen des Hundes.
„Aber“, fügte unser Leiter hinzu, „man kann‘s auch übertreiben. Am Ende bildet man sich noch Dinge ein ...“
„Quatsch“, protestierte Travers.
„Wir doch nicht“, stimmte ich zu.
Endlich war der Eingang offen, und Sutherland hatte Kopf und Schultern hineingesteckt.
Ich weiß nicht, wie lange er so dastand. Vielleicht waren es nur ein paar Sekunden, aber Travers und mir kam es ziemlich lang vor.
„Was ist los?“, rief Travers schließlich. „Was siehst du?“
Die Antwort war ein Schrei – das Grauenhafte dieses Geräusches werde ich nie vergessen – und Sutherland taumelte zurück und wäre, glaube ich, gestürzt, wenn wir nicht hingesprungen wären und ihn aufgefangen hätten.
„Was ist los?“, schrie Travers. „Um Gottes Willen, Sutherland, was hast du gesehen?“
Sutherland schlug sich mit der Hand an den Kopf, und sein Blick war wild und schreckgeweitet.
„Was ist?“, rief ich. „Was hast du da drinnen gesehen?“
„Ich kann es nicht sagen – ich kann es nicht! Oh, ich wünschte, ich hätte es nie gesehen! Seht nicht hin! Jungs, schaut nicht in das Zelt – es sei denn, ihr wollt verrückt werden – oder schlimmeres!
„Was ist das für ein Kauderwelsch?“, fragte Travers und starrte unseren Anführer entgeistert an. „Komm schon, Mann! Reiß dich zusammen! Hör mit diesem Unsinn auf! Warum sollte uns der Anblick von ein paar toten Männern verrückt machen?“
„Tote Männer?“ Sutherland lachte, es klang wild und wahnsinnig.
„Tote Männer? Wenn es nur das wäre! Ist das der Südpol? Ist das die Erde, oder sind wir in einem Albtraum auf einem anderen Planeten?“
„Um Himmels willen“, schrie Travers, „komm wieder runter! Was ist denn in dich gefahren? Jetzt lass dich nicht so gehen!“
„Ein toter Mann?“, wiederholte unser Anführer und blickte Travers ins Gesicht. „Du denkst, ich habe einen toten Mann gesehen? Ich wünschte, es wäre nur ein toter Mann gewesen. Zum Glück habt ihr beide nichts gesehen!“
Abrupt drehte sich Travers um.
„Also“, sagte er entschlossen, „ich schau jetzt nach!“
Doch Sutherland schrie auf, sprang hinter ihm her und versuchte, ihn zurück zu ziehen.
„Das würde Wahnsinn bedeuten!“, brüllte er. „Sieh mich an. Willst du so enden wie ich?“
„Werd ich nicht!“, brüllte Travers zurück. „Ich schau jetzt nach, was in diesem Zelt ist.“
Er versuchte, sich loszureißen, aber Sutherland klammerte sich völlig außer sich an ihn.
„Hilf mir, Bob!“, rief Sutherland. „Halt ihn auf, sonst werden wir alle verrückt!“
Aber ich half ihm nicht, Travers zurückzuhalten, denn ich glaubte natürlich, dass Sutherland selbst wahnsinnig war. Dann hielt Sutherland Travers nicht mehr. Mit einem plötzlichen Ruck war er frei. Im nächsten Moment stieß er mit dem Kopf und den Schultern ins Innere des Zeltes.
Sutherland stöhnte auf und beobachtete ihn mit unsagbar entsetzten Blicken.
Ich bewegte mich auf den Eingang zu, aber Sutherland stürzte sich mit solcher Wucht auf mich, dass ich in den Schnee gestoßen wurde. Voller Wut sprang ich auf.
„Was zum Teufel ist eigentlich los mit dir? Bist du übergeschnappt?“
Zur Antwort kam nur ein Stöhnen, das jenseits aller menschlichen Worte lag, aber dieser Laut kam nicht von Sutherland. Ich drehte mich um. Travers taumelte vom Eingang weg, eine Hand auf sein Gesicht gepresst, und aus der Tiefe seiner Kehle drangen Laute, die ich nicht beschreiben kann. Als der Forscher auf ihn zu taumelte, streckte Sutherland einen Arm aus und berührte Travers leicht an der Schulter. Der Effekt kam prompt und erschreckend. Travers sprang zur Seite, als hätte eine Schlange nach ihm geschnappt, und schrie. Und schrie noch einmal.
„Na, bitte!“, sagte Sutherland sanft. „Ich hab dir gesagt, du sollst es lassen. Ich hab versucht, dir das klarzumachen, aber du dachtest, ich sei verrückt!“
„Das kann nicht auf diese Erde gehören!“, stöhnte Travers.
„Nein“, sagte Sutherland. „Dieses Grauen wurde nie auf unserem Planeten geboren. Und die Erdenbewohner, auch wenn sie nichts davon wissen, können Gott dem Allmächtigen dafür danken.“
„Aber es ist hier!“, schrie Travers. „Wie ist es an diesen schrecklichen Ort gekommen? Und woher stammt es?“
„Immerhin“, tröstete Sutherland, „ist es tot. Es muss tot sein.“
„Tot? Woher sollen wir wissen, dass es tot ist? Und vergiss nicht: Es ist nicht allein hierhergekommen!“
Sutherland schreckte auf. In diesem Moment verschwand das Sonnenlicht und alles war wieder in Dunkelheit getaucht.
„Was meinst du?“, krächzte Sutherland. „Nicht allein? Woher weißt du, dass es nicht allein gekommen ist?“
„Na, es ist im Zelt. Aber der Eingang wurde verschnürt – von außen!“
„Ich Idiot!“, schrie Sutherland wütend. „Warum habe ich nicht daran gedacht? Nicht allein! Natürlich war es nicht allein!“
Er blickte in die Düsternis, und ich kannte nun die namenlose Angst und das Entsetzen, die ihn bis ins Innerste erschütterten, denn sie erschütterten auch mich.
Plötzlich ertönte wieder das klägliche, wilde Heulen des Hundes. Wir drei Männer zuckten zusammen, als wäre es die Stimme eines Ungeheuers aus der schrecklichsten Tiefe der Hölle.
„Halt‘s Maul, du Mistvieh!“, knirschte Travers. „Halt‘s Maul, oder ich mach dich fertig!“
Ob es Travers‘ Drohung war oder nicht, weiß ich nicht, aber das Heulen verstummte fast augenblicklich. Wieder lag die Stille der Ödnis und des Todes über dem Ort. Nur über dem Zelt bewegte sich der Wimpel und raschelte, und das Geräusch erschien mir wie das Schlängeln einer widerlichen Schlange.
„Was habt ihr da drinnen gesehen?“, fragte ich sie.
„Bob … Bob …“, flehte Sutherland, „bitte frag uns das nicht.“
„Das Ding“, sagte ich und drehte mich um, „kann nicht schlimmer sein als das, was mir meine Einbildung später in den Alpträumen zeigt, wenn ich‘s nicht sehe.“
Aber die beiden stellten sich vor mich und versperrten mir den Weg.
„Nein!“, erklärte Sutherland fest. „Du darfst nicht in dieses Zelt schauen, Bob. Du darfst es nicht sehen, dieses – ich weiß nicht, wie ich es nennen soll. Vertrau uns, glaub uns, Bob! Wir sagen es dir zuliebe, lass die Finger davon. Wir, Travers und ich, werden nie wieder dieselben sein – unser Verstand und unsere Seele werden nie wieder das sein, was sie vor dem Anblick waren!“
„Na gut“, stimmte ich zu. „Aber ganz ehrlich – mir kommt die ganze Sache wie der Traum eines Verrückten vor.“
„Wenn du willst“, murmelte Sutherland. „Belass es doch dabei. Glaube daran, dass es der Traum eines Verrückten ist. Glaube, dass wir wahnsinnig sind. Glaube meinetwegen, dass du selbst wahnsinnig bist. Glaub, was du willst. Aber sieh nicht rein!“
„Schön!“, gab ich nach. „Ich werde nicht hinsehen. Ich gebe mich geschlagen. Ihr zwei habt einen Feigling aus mir gemacht.“
„Einen Feigling?“, krächzte Sutherland. „Red keinen Unsinn, Bob. Es gibt Dinge, die ein Mensch niemals kennenlernen sollte; Dinge, die ein Mensch niemals sehen sollte; das Grauen dort in Amundsens Zelt gehört dazu!“
„Aber du hast gesagt, dass es tot ist.“
Travers stöhnte auf. Sutherland lachte schallend.
„Vertrau uns“, sagte er, „glaub uns, Bob. Es ist nur zu deinem Besten und hat nichts mit uns zu tun. Für uns ist es jetzt zu spät. Wir haben es gesehen und du nicht.“
Einige Minuten lang standen wir in dieser unheimlichen Düsternis vor dem Zelt, dann drehten wir uns um und verließen den verfluchten Ort. Ich sagte, dass Amundsen zweifellos einige Aufzeichnungen im Zelt hinterlassen hatte, dass auch Scott vermutlich den Pol erreicht und das Zelt entdeckt hatte und dass wir alle diese Erinnerungsstücke sicherstellen sollten. Sutherland und Travers nickten, aber beide erklärten, dass sie ihren Kopf nie wieder durch den Eingang stecken würden, und wenn alle Schätze Indiens darinnen lägen – oder ähnliches Zeug in diesem Sinne. Wir müssten, sagten sie, weg von diesem schrecklichen Ort – zurück in die Welt der Menschen, um ihnen unsere furchtbare Botschaft mitzuteilen.
„Mir wollt ihr nicht sagen, was ihr gesehen habt, und doch wollt ihr zurückkehren, damit ihr es der Welt erzählen könnt?“
„Wir werden der Welt nicht erzählen, was wir gesehen haben“, antwortete Sutherland. „Erstens könnten wir das nicht und zweitens würde uns, wenn wir es könnten, kein Mensch glauben. Aber wir müssen die Menschen warnen, denn das Ding da drinnen kam nicht allein. Wo ist das andere – oder die anderen?“
„Auch tot, wollen wir hoffen!“, rief ich aus.
„Amen!“, sagte Sutherland. „Aber vielleicht ist es gar nicht tot, wie Bill sagt. Wahrscheinlich –“
Sutherland hielt inne, und ein wilder, unbeschreiblicher Ausdruck trat in seine Augen.
„Vielleicht – kann es gar nicht sterben!“
„Wahrscheinlich“, sagte ich lässig, aber mit heimlicher Verachtung und großer Sorge um meine Kollegen.
Was hätte das für einen Sinn gehabt, zu widersprechen? Was würde es bringen, mit ein paar Verrückten zu diskutieren? Ja, wir müssen weg von diesem Ort, sonst machen sie mich auch noch wahnsinnig. Und der lange Weg zurück? Können wir den jetzt überhaupt noch schaffen? Und was hatten sie gesehen? Welches unvorstellbare Grauen befand sich hinter der dünnen Wand aus Zeltleinen? Nun, was immer es war, es war real. Daran konnte ich nicht den geringsten Zweifel hegen. Real genug, um den starken Verstand von zwei starken Männern praktisch augenblicklich zu zerstören. Aber – waren meine armen Begleiter wirklich verrückt?
„Oder vielleicht“, sagte Sutherland, „sind das andere, oder die anderen, zurück zur Venus oder zum Mars oder zum Sirius oder zum Algol oder zur Hölle selbst, oder wo auch immer sie herkommen, um mehr von ihrer Sorte zu holen. Wenn das so ist, dann habe der Himmel Mitleid mit der armen Menschheit! Und wenn sie noch hier auf der Erde sind, dann wird die Welt früher oder später – vielleicht in einem Dutzend Jahren, vielleicht in einem Jahrhundert – davon erfahren, zu ihrem Leidwesen und zu ihrem Entsetzen. Denn wenn sie leben, werden sie wiederkommen.“
„Ich dachte gerade ...“, begann Travers und blickte auf das Zelt.
„Ja?“, hakte Sutherland nach.
„Ich dachte“, sagte Travers, „dass es vielleicht ein guter Plan wäre, mit dem Gewehr auf das Ding zu schießen. Vielleicht ist es nicht tot, vielleicht kann es nicht sterben. Vielleicht hält es auch nur einen Winterschlaf, sozusagen.“
„Wenn das so ist“, lachte ich, „dann wird es wahrscheinlich bis zum Jüngsten Tag Winterschlaf halten.“
Keiner meiner Gefährten lachte mit.
„Oder“, meinte Travers, „es könnte ein Dämon sein, ein materialisierter Geist ...“
„Ein materialisierter Geist!“, rief ich. „Aber ist das im Grunde nicht jeder Mann oder jede Frau? Weiß der Himmel, manch einer benimmt sich auch wie ein Dämon oder ein leibhaftiger Teufel.“
„Mag sein“, nickte Sutherland. „Aber diese Hypothese hilft uns hier nicht weiter.“
„Vielleicht hilft sie uns ein wenig“, sagte Travers und ging zu seinem Schlitten.
Nach einigen Augenblicken hatte er das Gewehr herausgeholt.
„Ich dachte“, sagte er, „dass mich nichts jemals zu diesem Eingang zurückbringen würde. Aber die Hoffnung, dass ich vielleicht ...“
Sutherland stöhnte auf.
„Es ist nicht irdisch, Bill“, sagte er heiser. „Es ist ein Albtraum. Ich denke, wir sollten jetzt besser gehen.“
Travers machte sich auf den Weg – direkt zum Zelt.
„Komm zurück, Bill!“, stöhnte Sutherland. „Komm zurück! Lass uns abhauen, solange wir es noch können.“
Aber Travers kam nicht zurück. Langsam bewegte er sich vorwärts, das Gewehr vor sich ausgestreckt, den Finger am Abzug. Er erreichte das Zelt, zögerte einen Moment, dann stieß er den Gewehrlauf durch. So schnell er Abzug und Hebel betätigen konnte, entleerte er die Waffe ins Zelt – in das Grauen darin.
Er wirbelte herum und wich zurück, als hätte er Angst, dass die Öffnung hinter ihm alle Legionen der Hölle ausspucken würde.
Was war das? Das Blut schien in meinen Adern und in meinem Herzen zu gefrieren, als sich aus dem Zelt ein Geräusch erhob – ein leises, pochendes Geräusch – ein Geräusch, das kein Mensch auf dieser Erde je gehört hat – ein Geräusch, das hoffentlich auch kein Mensch je wieder hören wird.
Eine Panik, ein Wahnsinn ergriff uns, Männer und Hunde gleichermaßen, und wir flohen von diesem verfluchten Ort.
Das Geräusch verstummte. Aber bald hörten wir es wieder. Es war noch furchterregender, unheimlicher, wahnsinniger und höllischer als zuvor.
„Seht!“, schrie Sutherland. „Oh, mein Gott, seht euch das an!“
Das Zelt war jetzt kaum noch zu sehen. Ein oder zwei Augenblicke, und der Vorhang der Finsternis würde es verdecken. Zuerst konnte ich mir nicht vorstellen, was Sutherland dazu gebracht hatte, so aufzuschreien. Dann sah ich es, genau in dem Moment, bevor die Dunkelheit es verdeckte. Das Zelt bewegte sich! Es schwankte und zuckte wie ein gestaltloses Ungeheuer im Todeskampf, wie ein namenloses Ding, das man in einem Albtraum gesehen hat oder das einem im Delirium erscheint.
Das war‘s. Ich habe es in aller Ausführlichkeit und nach bestem Wissen und Gewissen unter den wahrhaft furchtbaren Umständen, in denen ich mich befinde, niedergeschrieben. Auf diesen hastig hingekritzelten Seiten ist eine Erfahrung festgehalten, die, glaube ich, auch nicht von den wildesten Erlebnissen übertroffen wird, die man auf den Seiten der fantasievollsten Roman-Phantasten findet. Ob diese Aufzeichnungen jemals die Welt erreichen werden, ob sie jemals von einem anderen Auge überflogen werden, kann nur die Zukunft beantworten.
Ich werde versuchen, optimistisch zu sein. Ich kann jedoch nicht die Augen vor der Tatsache verschließen, dass es ziemlich schlecht um uns steht. Es ist nicht nur dieses düstere, namenlose Geheimnis, vor dem wir fliehen – obwohl das weiß Gott schrecklich genug ist – sondern es sind die Gedanken meiner Gefährten. Dazu kommt noch die Angst um mich selbst. Aber jetzt muss ich mich wieder einkriegen. Wie Sutherland schon sagte, ich habe es nicht gesehen. Ich darf nicht schwach werden. Wir müssen unsere Geschichte irgendwie in die Welt bringen, auch wenn wir dafür nur Spott ernten – Spott von einer Welt, gegen die sich jetzt eine Bedrohung zusammenbraut, die schrecklicher ist als alles, was je das fiebrige Hirn eines Unheil-Propheten ausgebrütet hat.
Wir sind jetzt etwa ein Dutzend Meilen vom Pol entfernt. Bei der überstürzten Flucht vor dem Zelt des Schreckens haben wir die Orientierung verloren und eine Zeit lang, so fürchte ich, sind wir in Panik geraten. Die unheimliche Düsternis war dichter denn je. Dann fielen feine Schneekristalle, die alles noch schlimmer machten. Gerade als wir verzweifelt aufgeben wollten, entdeckten wir zufällig einen unserer errichteten Signalpunkte. Das gab uns die Orientierung wieder, und wir langten bald dort an.
Travers hat gerade seinen Kopf ins Zelt gesteckt, um uns zu sagen, dass er sicher ist, etwas in der Dunkelheit gesehen zu haben. Etwas bewegt sich da draußen! Das muss untersucht werden.


[Hätte Robert Drumgold doch nur einen so ausführlichen Bericht über die folgenden Tage hinterlassen, wie er ihn über den schrecklichen 4. Januar geschrieben hat! Niemand wird je erfahren, was die drei Entdecker durchmachten, um einem Schicksal zu entkommen, vor dem es kein Entrinnen gab einem Schicksal, dessen Horror vielleicht alles übertrifft, was sich die schrecklichste Gothic-Fantasie je ausgemalt hat.]


5. Januar – Travers hat wirklich etwas gesehen, denn wir drei sahen es heute wieder. War es das Ding, das nicht von dieser Erde ist, das die beiden in Amundsens Zelt sahen? Wir wissen nicht, was es ist. Wir wissen nur, dass es etwas ist, das sich bewegt. Habe Gott Erbarmen mit uns allen – mit jedem Mann, jeder Frau und jedem Kind auf dieser Erde, wenn es dieses Ding ist, vor dem wir uns fürchten!


6. Januar – Heute 25 Meilen gefahren, gestern 20. Ich habe es heute nicht gesehen. Aber ich habe es gehört. Es schien ganz nah zu sein – einmal quasi direkt neben uns. Aber das muss Einbildung gewesen sein. Die Auswirkungen auf die Hunde sind schrecklich. Die armen Viecher! Für sie ist es genauso schrecklich wie für uns. Manchmal, denke ich, sogar noch schrecklicher. Warum verfolgt es uns?


7 Januar – Zwei der Hunde sind heute Morgen verschwunden. Jeder von uns hat die ganze „Nacht“ Wache gehalten. Nichts gesehen, kein Geräusch gehört, doch die Tiere sind verschwunden. Haben sie uns verlassen? Wir sagen, dass es so ist, aber jeder von uns weiß, dass keiner daran glaubt. 18 Meilen geschafft. Wir befürchten, dass Travers wirklich verrückt geworden ist.


8. Januar – Travers ist weg! Er hat letzte Nacht um 12 Uhr die Wache übernommen und Sutherland abgelöst. Das war das letzte Mal, dass wir Travers gesehen haben – und das letzte Mal, dass wir ihn jemals sehen werden. Keine Spuren – kein einziges Zeichen im Schnee. Travers, der arme Travers, ist tot! Wer wird der Nächste sein?


9. Januar Ich habe es wieder gesehen! Warum lässt es sich manchmal blicken? Ist es das Grauen in Amundsens Zelt? Sutherland erklärt, dass es das nicht ist, dass es etwas Höllischeres ist. Aber S. ist jetzt auch verrückt – verrückt – verrückt – verrückt. Wenn ich nicht absolut zurechnungsfähig wäre, würde ich denken, dass das alles nur Einbildung ist. Aber ich habe es gesehen!


11. Januar Ich glaube, es ist der 11. Januar, bin mir aber nicht sicher. Ich bin mir bei nichts mehr sicher – außer, dass ich allein bin und dass es mich beobachtet. Ich weiß nicht, woher ich das weiß, denn ich kann es nicht sehen. Aber ich weiß, dass es mich beobachtet. Es beobachtet mich immer. Und irgendwann wird es kommen und mich holen – so wie es Travers und Sutherland und die Hälfte der Hunde geholt hat.
Ja, heute muss der 11. sein. Denn gestern – es war sicher erst gestern – hat es Sutherland geholt. Ich habe nicht gesehen, wie es ihn geholt hat, denn es war Nebel aufgezogen und Sutherland – wir marschierten durch diesen Nebel weiter – folgte so langsam, dass ich ihn im Dunst nicht mehr sehen konnte. Als er schließlich nicht mehr aufholte, ging ich zurück. Aber S. war weg – Mann, Hunde, Schlitten, alles weg. Armer Sutherland! Aber er war ja auch verrückt. Wahrscheinlich war das der Grund, warum es ihn erwischt hat. Hat es mich verschont, weil ich noch bei Verstand bin? S. hatte das Gewehr. Immer klammerte er sich an das Gewehr – als ob eine Kugel ihn vor dem Ding retten könnte! Meine einzige Waffe ist eine Axt. Aber wozu ist eine Axt gut?


13. Januar – vielleicht ist es der 14. Ich weiß es nicht. Was macht das schon? Ich habe es heute dreimal gesehen. Jedes Mal war es näher dran. Die Hunde winseln immer noch um das Zelt. Da – wieder dieses furchtbare, höllische Geräusch. Die Hunde sind jetzt still. Wieder dieses Geräusch. Aber ich traue mich nicht hinauszuschauen. Die Axt.
Stunden später. Ich kann nicht mehr schreiben.
Stille. Stimmen – ich scheine Stimmen zu hören. Wieder dieses Geräusch.
Es kommt näher. Am Eingang jetzt – jetzt –


John Martin Leahy: In Amundsen’s Tent

Weird Tales 1928/1

Übersetzung: Matthias Käther © 2023

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