Montag, 29. Mai 2023

Laurence Kirk: Dr. Macbeth (1940)



Heute möchte man es kaum noch glauben: Die „Cosmopolitan“ war mal ein richtig gutes Literaturmagazin! Bereits im 19. Jahrhundert gegründet, entwickelte es sich in den 20er und 30er Jahren zur führenden Kurzgeschichten-Monats-Zeitschrift der englisch sprechenden Welt, und das mit großem Abstand. Zwischen 1920 und 1939 gab es praktisch keine Ausgabe, die kein Meisterwerk enthielt. Hier war das Zuhause solcher Koryphäen wie Jack London, P.G. Wodehouse, W. Somerset Maugham, John Galsworthy und Edith Wharton. Auffallend viele Briten publizierten dort – es war ein gut zahlender Markt mit einem Millionenpublikum. Ab 1940 begann der Lack abzuplatzen, die Qualität ließ nach – doch schaffte es die Redaktion, das Image in kurzer Zeit umzubauen und das Blatt zu einer der führenden Krimi-Illustrierten der 40er und 50er Jahre zu machen. Ikonen wie Agatha Christie, Patrick Quentin und John D. Macdonald waren regelmäßige Beiträger. Die Veröffentlichungen waren oft sehr originell und entzogen sich meist sowohl dem amerikanischen Hard-Boiled-Klischee wie der ausgenudelten britischen Who-done-it-Formel; die Ausgaben 1939-59 sind deswegen auch heute noch gut lesbar.

Auch dieser Beitrag von 1940 zeigt, wie viel schönes Material dort brachliegt und meines Wissens noch nie anthologisiert wurde, geschweige denn übersetzt. Die folgende Geschichte hat mich sofort gepackt wegen ihrer witzigen Miss-Marple-Meets-a-Mad-Scientist Storyline. Laurence Kirk ist das Pseudonym des fast vergessenen britischen Krimi-Autors Eric Andrew Simpson (1895-1956). Sicher ist dieser Ausflug in den eher sanften Horror kein Anlass für schlaflose Nächte, obwohl es um schlaflose Nächte geht – und das lange, bevor Stephen King das Thema für sich entdeckte. Dafür verfolgte mich die Geschichte mit ihren Implikationen nach dem Lesen durchaus tagsüber in meinen Wachträumen ...


I


Es waren noch drei andere Patienten im Wartezimmer, und wenn sie sich zufällig ansahen, schauten sie schnell weg und vergruben ihre Gesichter in einer alten „Sphere“ oder dem „Tatler“. Miss Finlayson war die einzige, die nicht so tat, als würde sie etwas lesen. Sie hatte sich schon immer gefragt, was das wohl für Leute sein mochten, die einen renommierten Londoner Nervenspezialisten konsultierten, und sie betrachtete die anderen mit verstörender Direktheit. Aber sie wirkten alle enttäuschend normal. Keiner stellte sich auf den Kopf oder streckte ihr die Zunge heraus. Miss Finlayson selbst war eine dieser geradlinigen Jungfern, wie sie man in einer Nebenstraße, sagen wir in Devonshire, zu Dutzenden erwarten würde, unmodisch und mit zwei Hunden an der Leine. Und zufälligerweise entsprach sie genau diesem Klischee – sie war tatsächlich in einer Gasse in Devonshire zu Hause und besaß zwei Hunde. Als sie an der Reihe war, folgte sie der Schwester zügig in das Sprechzimmer von Sir Giles Clauson. Sir Giles, der einem Admiral ähnlicher sah als einem Psychiater, schreckte erstaunt hoch, als sie eintrat.

Miss Finlayson!", rief er aus und erhob sich. „Ich hätte nie gedacht, dass Sie die Miss Finlayson sind, als ich den Namen hörte!"

Er hatte Miss Finlayson bereits bei einer andren Gelegenheit kennengelernt und mochte sie*. Sie schüttelte ihm die Hand.

Tja, ich bin es", antwortete sie kurz. „Aber glauben Sie nicht, dass mit mir etwas nicht in Ordnung ist. Ich bin nie krank. Ich glaube nicht an so etwas wie Krankheiten."

Sir Giles lächelte und bat sie, sich zu setzen. Diese Bemerkung brachte ihn nicht aus dem Konzept. Viele seiner Patienten eröffneten ihre Monologe so oder ähnlich. Miss Finlayson ließ sich auf den Stuhl neben seinem Schreibtisch fallen. Auch er setzte sich und beugte sich in der aufmerksamen, professionellen Art vor, die im Allgemeinen recht wirkungsvoll war. Aber dieses Mal verfehlte sie ihren Effekt.

Jetzt blasen Sie sich mal nicht so auf, bloß weil Sie in Ihrem Sprechzimmer thronen", fauchte Miss Finlayson. „Und sehen Sie mich nicht an, als wäre ich sexhungrig oder bekloppt oder so! Ich bin gekommen, um Ihnen eine klare Frage zu stellen, und ich will eine klare Antwort."

Sir Giles lachte und entspannte sich.

Schon gut, schon gut! Sie haben gewonnen, wie immer. Was kann ich für Sie tun?"

Miss Finlayson holte tief Luft. „Was ich wissen möchte, ist folgendes", begann sie. „Was genau ist Schlaf?"

Sir Giles' Augenbrauen schnellten in die Höhe. Bei den meisten Menschen hätte er eine lange Erklärung mit vielen Fachwörtern abgegeben, aber er wusste, dass es bei Miss Finlayson sicherer war, die Wahrheit zu sagen.

Eine ganz exakte Definition gibt es nicht", gestand er.

Dacht ichs mir doch", bemerkte Miss Finlayson herablassend. „Ich habe immer den Eindruck, dass ihr Ärzte alles über jede Krankheit wisst, außer über die, die man tatsächlich hat."

Sie leiden also an Schlaflosigkeit?" Sir Giles wurde wieder professionell.

Nein, das tue ich nicht", erwiderte Miss Finlayson. „Ich schlafe sehr gut. Aber ich möchte etwas über Schlaf erfahren. Wissen Sie denn überhaupt etwas darüber?"

Ja, wir wissen eine ganze Menge", antwortete Sir Giles. „Wir wissen, dass er durch verschiedene Medikamente herbeigeführt und durch ständige Muskelübungen hinausgezögert werden kann. Wir wissen - zumindest glauben wir es zu wissen -, dass sich das Schlafzentrum in einem bestimmten Teil des Gehirns, dem Hypothalamus, befindet. Einige Experten glauben, dass Schlaf durch eine Veränderung des Kalziumgehalts im Blut verursacht wird, aber das ist keineswegs bewiesen."

Hm!" Miss Finlayson schnaubte. „Und wo genau ist dieser Hypothalamus?"

Sir Giles zeigte auf eine Stelle an seinem Hinterkopf.

Und wie sieht er aus?"

Das ist nur graue Substanz wie der Rest des Gehirns."

Tja, das hilft mir nicht weiter!" Miss Finlayson hielt inne und stieß dann eine weitere Frage hervor.

Wissen Sie, ob schon einmal jemand an Schlafmangel gestorben ist?"

Es gibt keine konkreten Beweise dafür, dass man daran sterben kann.“

Mann? Heißt das, eine Frau kann daran sterben?"

Neinnein, aber gesunde Hunde sind zum Beispiel daran gestorben, nachdem sie vierzehn Tage lang schlaflos gehalten wurden."

Miss Finlayson starrte ihn an.

Wollen Sie damit sagen, dass Menschen es gewagt haben, Hunden etwas Derartiges anzutun?"

Tja ... ich fürchte schon", antwortete Sir Giles ruhig. „Und auch mit Kaninchen hat man experimentiert. Die Kaninchen, die weniger stark beansprucht wurden, hielten länger durch; in der Regel etwa drei Wochen."

Es gibt also keinen Grund, warum Menschen nicht auf die gleiche Weise daran sterben sollten?"

Nein, eigentlich nicht. Es gibt sogar gute Gründe zu glauben, dass die Chinesen - und leider auch die Schotten, Miss Finlayson - ihre Feinde mit dieser Methode zu Tode gequält haben."

Miss Finlayson presste die Lippen fest aufeinander und schwieg wieder. Sir Giles beobachtete sie genau. Sie war nicht die Art von Frau, die ohne jeden Grund einen Nervenspezialisten konsultierte. Irgendwo in ihrem Leben lauerten ernsthafte Probleme.

Warum stellen Sie mir all diese seltsamen Fragen, Miss Finlayson?"

Ich stelle sie", sagte Miss Finlayson barsch, „weil meine Nichte ermordet worden ist."

Sir Giles' Augenbrauen schossen wieder mit einem Ruck nach oben.

"Ermordet!"

Ja, ermordet", bestätigte Miss Finlayson. „Meine Nichte ist vor drei Wochen gestorben. Es gab keinen Grund, warum sie hätte sterben sollen. Sie ist immer ungewöhnlich stark und gesund gewesen. Aber sie ist gestorben, weil sie nicht mehr schlafen konnte."

Ist es das, was die Ärzte gesagt haben, Miss Finlayson?"

Nein, natürlich nicht!" Miss Finlayson schnaubte erneut. „Sie haben nur bescheinigt, dass sie tot ist!"

Gab es keine Anzeichen einer Krankheit?"

Nein, nichts. Sie hat nur plötzlich aufgehört zu schlafen. Sie schlief nicht mehr, und nach drei Wochen war sie tot."

Sie sagen, das kam ganz plötzlich, diese Schlaflosigkeit?"

Ganz genau." Miss Finlayson schnippte mit den Fingern. „Einfach so!"

Und es gab keine Anzeichen von Drogen oder Medikamenten?"

Nein. Sie hatte Angst vor Drogen und nahm keine Medikamente."

Aber unter diesen Umständen muss es doch eine gerichtliche Untersuchung gegeben haben?"

Natürlich gab es eine Untersuchung. Aber wozu sind die schon gut? Da war sie schon tot. Und jeder oberflächliche Idiot sagt bei solcher Gelegenheit, dass es ein natürlicher Tod war."

Sir Giles blickte nachdenklich auf die wütende Frau.

Warum glauben Sie, dass Ihre Nichte ermordet wurde, Miss Finlayson?"

Weil da etwas nicht stimmt", rief Miss Finlayson entschieden. „Ich habe Freda großgezogen, und ich muss es ja wissen. Niemand war jemals so gesund wie sie; sie war hart wie Stein und hatte keinen einzigen empfindlichen Nerv in ihrem Körper und keinen einzigen Zweifel in ihrem Hirn. Freda war ein wunderschönes Mädchen, Sir Giles, und ein böses Mädchen. Als sie achtzehn war, lief sie mir weg und begann, ein Leben in London zu führen. Als sie starb, war sie schwanger. Ein fieses Mädchen, aber das ist kein Grund, sie umzubringen!"

Ganz recht", stimmte Sir Giles zu. „Niemand hatte das Recht, sie zu ermorden, egal wie fies sie war. Aber ist es nicht sehr gewagt zu behaupten, dass sie tatsächlich ermordet wurde?"

Nein, ist es nicht. Sie haben mir selbst gesagt, dass noch nie jemand auf natürliche Weise an Schlaflosigkeit gestorben ist."

Aber Sie können doch nicht mit Sicherheit sagen, dass sie an Schlaflosigkeit gestorben ist!", gab Sir Giles zu bedenken.

Doch. Jeder, der sie am Ende gesehen hat, konnte wissen, dass sie daran gestorben ist. Der Motor in ihr lief weiter und weiter, bis er nicht mehr weiterlaufen konnte. Es war ein schrecklicher Anblick."

Nun gut, dann ..." Sir Giles versuchte, sie bei Laune zu halten. „Nehmen wir mal an, dass sie an Schlaflosigkeit gestorben ist. Und weiter?"

Und weiter? Überlegen Sie mal! Jemand hat mehr über den Schlaf in Erfahrung gebracht als Sie. Jemand hat entdeckt, wie man ihn im Hirn zerstören kann."

Miss Finlayson, für eine solche Vermutung gibt es überhaupt keinen Grund!"

Doch, es gibt Gründe! Freda ist tot. Sind Sie bereit, kategorisch auszuschließen, dass, wenn Sie dieses Hypo-Thalamus-Ding verletzen würden, die Fähigkeit zu schlafen aufhören würde?"

Oh ja, dazu bin ich bereit, ganz kategorisch. Wenn das möglich wäre, würde es genau den gegenteiligen Effekt haben. Das würde einen komahaften Dauerschlaf herbeiführen."

Miss Finlayson ließ sich nicht beirren.

Na schön", fuhr sie sofort fort, "also sagen wir, es gelänge Ihnen, das Ding heftig zu stimulieren anstatt es zu zerstören. Welche Wirkung würden Sie dann erwarten?"

Sir Giles schnitt eine Grimasse. „Das könnte zu Schlaflosigkeit führen", gab er zu. „Aber so etwas ist noch nie gemacht worden."

Würden Sie soweit gehen, definitiv zu sagen, dass es unmöglich ist? Dass es nie möglich sein wird?"

Sir Giles starrte sie hilflos an. „Nein, soweit würde ich nicht gehen", gab er zu.

Miss Finlayson kramte in ihrer Tasche, dann stand sie auf. „Das ist alles, was ich wissen wollte."

Sir Giles begleitete sie zur Tür. Er fühlte sich ziemlich unwohl. Sie war eine entschlossene Dame. Durchaus möglich, dass sie in ihrem Eifer etwas Dummes tat ...

Wenn ich Ihnen einen Rat geben dürfte “, setzte er an.

Nein, das dürfen Sie nicht. Ich nehme niemals einen Rat an. Ich werde herausfinden, wer Freda umgebracht hat. Ich bin vor allem zu Ihnen gekommen, um eine Rückversicherung zu haben.“

Eine, äh...Rückversicherung?“

Genau. Wenn ich in irgendwelche Schwierigkeiten gerate, werde ich erzählen, dass ich eine Patientin von Ihnen wäre. Dann kommen Sie bitte vorbei und bestätigen, dass ich nicht ganz richtig im Kopf bin. Ich nehme an, dass Sie das mit Freuden tun werden. Bis bald, Sir Giles!“

Sir Giles dachte über dieses Gespräch während verschiedener Gelegenheiten in den nächsten paar Tagen nach. Die Vorstellung, Miss Finlayson könnte tatsächlich den Verstand verlieren, gefiel ihm gar nicht – ihn beunruhigte die fixe Idee, dass ihre Nichte ermordet worden war, eine Idee, die sich durchaus zu etwas noch Gefährlicherem wie einer Manie entwickeln konnte. Dennoch war ihre Theorie faszinierend. Es wurde gerade intensiv zum Thema Schlaf in der Wissenschaft geforscht. Und es schien nicht jenseits aller Wahrscheinlichkeit, dass jemand, der in die Mysterien des Schlafs eindrang, auch über die Möglichkeit stolperte, wie man ihn künstlich zerstören konnte. Und was für eine Waffe wäre das in den Händen eines skrupellosen Menschen! Es wäre nichts Geringeres als das lang gesuchte Gift, das niemand nachweisen konnte.

Die Idee war so faszinierend, dass Sir Giles beschloss, das Ganze mit seinem Freund, dem Kriminalkommissar zu diskutieren. Er war gespannt darauf, was die Polizei zu solch einer These zu sagen hatte. Wenn er dieser Idee nachgegangen wäre, hätte er entdeckt, dass die Polizei so einiges dazu zu sagen hatte, mehr, als er sich träumen ließ. Doch leider gehörte diese Idee zu denen, die unbedingt hätten ausgeführt werden sollen, es jedoch nie wurden ...

Im Zuge der Untersuchungen von diversen Drogen-Delikten war die Polizei in den letzten drei Jahren auf zwei Fälle gestoßen, die sie bis heute verwirrten. In beiden Fällen handelte es sich um junge Frauen, die unerklärlicherweise im Zuge von Schlafstörungen gestorben waren. Einen Monat lang hatte der Kommissar über diesen Akten gebrütet. Fredas Fall war übersehen worden. Und es gab auch keinen konkreten Anhaltspunkt, warum die Polizei ihrem Tod besondere Aufmerksamkeit schenken sollte. Anders als in Fredas Fall waren die beiden Mädchen tatsächlich an einer Überdosis Schlaftabletten gestorben – Tabletten, die ihnen von verschiedenen Ärzten völlig legal verschrieben worden waren. Etwas Kriminelles war denen nicht nachzuweisen. Das Verstörende daran war, dass es in beiden Fällen keine früheren Schlafstörungen in ihrem Leben gegen hatte, und beide Frauen mit einem gewissen Doktor Oscar Hessian befreundet gewesen waren, ehe die Probleme begannen - ein Radiologe mit gutgehender Praxis. Er behandelte Rheumatismus und Katarrh mit irgendwelchen neumodischen Strahlen. Der Kommissar höchstselbst war bei ihm in der Harley Street gewesen und hatte dort eine Strahlentherapie für seine Fibrose bekommen. Alles völlig korrekt und legal. Und doch ...

Doctor Hessian war eine dubiose Person – und er hatte einen schlechten Ruf wegen seiner vielen Affären. Der Kommissar hielt es durchaus für denkbar, dass er der Typ war, der allzu unbequeme Geliebte skrupellos von der Bildfläche verschwinden ließ, und es schien gar nicht so weit hergeholt, dass sich unter den vielen sonderbaren Therapieapparaten einer befand, der sich für diese Zwecke eignete ...

Aber ein Verdacht war kein Beweis. Alles, was er in der Hand hatte, war die Tatsache, dass eine der Frauen in Dr. Hessians Behandlung gewesen und die andere ein Wochenende mit ihm verbracht hatte – und zwar unmittelbar vor ihrer rätselhaften tödlichen Schlaflosigkeit. Das war schon etwas, aber nicht genug. Schließlich schloss der Kommissar resigniert die Akten.

An diese seltsamen Fälle dachte der Kommissar, als ihn sein Telefon hochschreckte. Es war ein Detektiv-Inspektor aus der Marlborough-Street, der meldete, dass sie eine Frau wegen tätlichen Angriffs verhaftet hätten. „Sie ist eine Patientin von Sir Giles Clauson“, fuhr die Stimme fort. „Ein bisschen plemplem, würde ich sagen.“

Dann kontaktieren Sie doch Sir Giles! Was habe ich damit zu tun?“

Wie Sie wünschen, Sir. Ich dachte nur, es könnte Sie interessieren, dass die angegriffene Person Ihr Freund Doktor Hessian ist.“

Der Kommissar sprang abrupt auf und lange nach seinem Hut.


II


Miss Finlayson war nicht die Sorte Frau, die sich um solche Kleinigkeiten wie die Regeln der Beweisführung kümmerte. Als sie Sir Giles befragte, hatte sie keine Ahnung von der Existenz eines Doktor Hessian. Freda war knallhart gewesen und hatte ihrer Tante selbst sterbend nichts über ihr Leben und ihre verschiedenen Männer erzählt. Ja Freda selbst hatte wohl keinen Verdacht auf ein Verbrechen gehegt, zumindest hatte sie nie etwas derartiges angedeutet. Dass hier etwas nicht stimmte, war einzig die Idee von Miss Finlayson.

Miss Finlayson war während des Krieges Krankenschwester in Frankreich gewesen und hatte mit angesehen, wie Männer tödlich verwundet bei ihr angeliefert wurden; sie hatte den erschrockenen, ungläubigen Blick in ihren Augen gesehen. Dieser Blick war auch in Fredas Augen gewesen, und zwar drei Wochen lang. Nicht nur ein paar Augenblicke. Freda war einfach gekommen, ohne Vorwarnung, und hatte gesagt, sie sei müde und müsse sich ausruhen. Es gab keine Erklärungen. Das war am Ende der ersten Woche gewesen, aber der erschrockene, ungläubige Blick lauerte bereits in ihren Augen, und er blieb und wuchs. Miss Finlayson sah hilflos zu. Vier Tage und Nächte ununterbrochener Wachheit lagen hinter ihr, als Freda wie ein gejagtes Tier zurück nach London raste, und Miss Finlayson hechelte hinterher. Ärzte, Spezialisten wurden aufgesucht. Aber Freda rührte die Medikamente nicht an, die sie ihr verschrieben, und begann wieder in Nachtclubs zu gehen, zurück in ihr altes Revier. Miss Finlayson folgte ihr, selbst krank vor Schlafmangel, und sah zu, wie ihre Nichte langsam starb. Es war in einem Nachtclub um drei Uhr morgens, als Miss Finlayson zum ersten Mal die Worte in den Sinn kamen, die sie nicht mehr loswurde:


Mir war, als rief es: Schlaft nicht mehr! Macbeth mordet den Schlaf!“


Sie begann, Nachforschungen anzustellen. Ihre Überzeugung, dass etwas nicht stimmte, wuchs. Sobald sie sich einmal entschlossen hatte, folgte sie wie ein Bluthund einer Spur. Miss Finlayson war schockiert über die Anzahl der Männer und die Art, wie Freda sie behandelt hatte. Eine herzlose kleine Genießerin war sie - und eine Goldgräberin noch dazu! Wenn einer dieser Männer sie erschossen oder ihr ein Messer ins Herz gerammt hätte, wäre Miss Finlayson bereit gewesen, die Sache auf sich beruhen zu lassen. Aber so offen war es nicht gelaufen.

Von einem dieser Männer - einem jungen Mann, der Freda wirklich liebte und sie heiraten wollte - erfuhr Miss Finlayson zum ersten Mal von Doktor Hessian. Sie erfuhr, dass er eine Woche bei Freda verbracht hatte, kurz bevor das alles passierte.

Sie beschloss, ihn deshalb in die Harley Street aufzusuchen. Miss Finlayson hatte sich auf diese Begegnung gut vorbereitet. Sie kam nicht als die rüstige Frau, die sie war, sondern als eine schwache, senile alte Dame, die sich auf einen schweren Ebenholzstock stützte.

Dr. Hessian erwies sich als ein dunkler, zierlicher Mann von etwa fünfunddreißig Jahren, mit kleinen Füßen und Händen und einer ungeheuren nervösen Energie. Er empfing sie mit professioneller Teilnahmslosigkeit. Nach einem nervösen Blick auf alle Liegen und Sitze, Glühbirnen, Spulen und Projektoren im Raum setzte sie sich auf den von ihm bezeichneten Stuhl. Dr. Hessian wollte wissen, wie alt sie sei, ob sie verheiratet sei, welche Operationen sie bereits durchgemacht hatte, wo sie wohne, welchen Beruf sie ausübe, und schließlich fragte er: "Und was ist nun das genaue Problem, Miss Finlayson?“

Und so erzählte ihm Miss Finlayson in der etwas geschwätzigen Art, die sie vor ihrem Spiegel geübt hatte:

Ich kann einfach nicht wach bleiben, Doktor! Das geht jetzt schon seit Monaten so. Wenn ich ein Buch in die Hand nehme oder an meiner Nähmaschine sitze oder so, dann schlafe ich plötzlich ein. Das passiert sogar, wenn ich mit Leuten spreche. Sehr peinlich. Ich weiß, dass ich alt werde, Doktor, aber das ist doch nicht normal, oder?"

Nein, das ist nicht normal", stimmte er zu. „Wenn Sie bitte Ihren Hut abnehmen würden, dann kann ich einen Blick darauf werfen, bevor wir weiter reden."

Miss Finlayson nahm ihren Hut ab, er stand auf und stellte sich hinter sie. Sie sammelte sich für eine Tortur - abgesehen von ihrem Verdacht fand sie ihn körperlich abstoßend. Seine verstohlenen gierigen Augen und seine kleinen Hände und Füße hatten etwas Widerwärtiges. Und jetzt erkundeten diese Hände ihren Nacken. Ganz sanft. Aber sie spürte die Kraft, die in ihnen steckte. Sie dachte an die Hände, die Fredas Körper berührt hatten, und fragte sich, ob er wohl wusste, dass sie Fredas Tante war. Sie erschauerte.

Ist das eine empfindliche Stelle?", fragte er.

Nein, nein", erwiderte Miss Finlayson.

Aber Sie haben sich plötzlich verspannt."

Nicht so wichtig. Ich fürchte, ich bin immer ziemlich angespannt in Sprechzimmern."

Ach, wirklich? Nun, es gibt nichts zu befürchten. Ich werde Ihnen nicht wehtun."

Die Hände setzten ihre Erkundung fort. Noch ein paar Fragen. Gibt es hier Schmerzen? Irgendeine Steifheit dort? Dann hörten sie auf. Doktor Hessian setzte sich an seinen Schreibtisch.

Wie sind Sie auf mich gekommen, Miss Finlayson?", fragte er. In seinen Augen lag jetzt ein misstrauischer Blick, und Miss Finlayson antwortete bedächtig.

Nun, Doktor Gregory - er ist unser Hausarzt - hat mich zu Sir Giles Clauson, dem Spezialisten, geschickt. Und Sir Giles hat mich zu Ihnen geschickt."

Oh! Ich kann mich nicht erinnern, dass Sir Giles mir jemals einen seiner Patienten überwiesen hätte."

Tja, er meinte, Sie hätten einige sehr beeindruckende Ergebnisse erzielt.“

Sie sah ihn ernst an und stellte erleichtert fest, dass der misstrauische Blick aus seinen Augen verschwand.

Ich will ganz offen zu Ihnen sein, Miss Finlayson", sagte er. „Ich weiß nicht genau, ob ich Sie heilen kann, aber wenn die Methode, die ich im Sinn habe, anschlägt, wird es Ihnen schnell besser gehen."

Ist die Behandlung sehr teuer?", fragte sie nervös.

Die Behandlung kostet fünf Guineen pro Sitzung, aber Sie werden nicht mehr als drei brauchen. Wenn ich nach drei Sitzungen keinen Erfolg habe, weiß ich, dass Sie für meine Methoden nicht infrage kommen."

Worin genau besteht die Behandlung, Doktor?", fragte sie.

Nur Bestrahlung", erwiderte er. „Eine Art von Stimulation. Die erste Behandlung wird nur drei Minuten dauern, also kann ich sie Ihnen auch gleich geben."

Miss Finlayson spürte, wie sie blass wurde. Sie musste zweimal schlucken, bevor sie antworten konnte.

Einverstanden", willigte sie schließlich ein. Sie sah ihm beim Aufstehen zu. Sie fragte sich, welches dieser albtraumhaften Instrumente er zu benutzen gedachte. Würde es dasselbe sein, das er bei Freda verwendet hatte? Aber es war keines der Geräte, die im Zimmer herumstanden. Er hob einen Koffer auf, der einen tragbaren Plattenspieler enthalten haben könnte. Aber es befand sich kein Grammophon darin. Das Gerät sah eher aus wie ein Maschinengewehr auf einem Ständer mit einem dünnen, stumpfen Lauf. Er stellte es auf einem Stuhl mit niedriger Lehne. Dann schloss er es an die Steckdose in der Wand an. Miss Finlayson biss die Zähne zusammen. Es war ihr immer ein Rätsel gewesen, wie jemand den Schaden anrichten konnte, ohne dass Freda davon wusste. Aber dieses tragbare Gerät konnte überall benutzt werden. Man konnte es auch in einem Hotelzimmer an die Steckdose anschließen. Sie konnte sich jetzt alles genau ausmalen: Freda lag im Bett und schlief; der Mann neben ihr erhob sich heimlich, arbeitete geschickt in der Dunkelheit; und dann war das Gerät an seinem Platz und tötete ihren Schlaf - tötete ihn, während sie schlief!

"Jetzt wären wir soweit!", rief Doktor Hessian. "Kommen Sie hierher und setzen Sie sich auf diesen Stuhl." Miss Finlayson ging mit Hilfe Ihres Ebenholzstocks hinüber. Er bückte sich und schaltete den Strom ein, aber es schien kein Licht aus dem Lauf zu dringen.

Funktioniert es?", fragte sie. "Ich sehe kein Licht."

Diese Strahlen sind für das bloße Auge nicht sichtbar", erklärte er. „Setzen Sie sich einfach hin, bitte. Sie werden überhaupt nichts merken."

Sie setzte sich und versuchte, nicht hinter sich zu schauen.

Jetzt beugen Sie Ihren Nacken ein wenig vor!" Sie bewegte sich nicht. Aber die flinken Finger richteten ihren Kopf genau dorthin, wo er ihn haben wollte. Eine gepolsterte Kinnstütze hielt ihn in Position. Und jetzt berührte etwas Kühles ihren Hinterkopf genau an der Stelle, an der Sir Giles ihr den Hypothalamus gezeigt hatte. Das war zu viel! Ihre Nerven versagten. Sie rutschte in einer täuschend echten Ohnmacht aus dem Stuhl. Natürlich war sie nicht wirklich ohnmächtig geworden. Sie wollte Zeit zum Nachdenken gewinnen, bevor sie etwas riskierte. Sie entschuldigte sich und murmelte etwas von einem Sonnenstich am Vortag; und Doktor Hessian stimmte zu, dass sie mit der Behandlung besser erst beginnen sollte, wenn es ihr wieder richtig gut ging. Und so war sie, immer noch Entschuldigungen murmelnd, aus der Praxis geflohen.

Danach hatte sie einen ganzen Tag in ihrem Hotelzimmer verbracht und sich gefragt, was sie als Nächstes tun könnte. Sie war sich sicher, dass Doktor Hessian der richtige Mann war. Aber wie sollte sie jemals andere davon überzeugen, dass sie den richtigen Riecher hatte?

Sollte sie wieder bei Sir Giles angekrochen kommen? Der würde sie wahrscheinlich einfach in eine Nervenheilanstalt einweisen. Zu Scotland Yard gehen? Die Chancen, dort angehört zu werden, standen gut! Aber mit welchem Ergebnis? Nein, sie würde allein weitermachen müssen. Es gab keinen anderen Weg. Riskant? Ja, es war riskant. Aber sie war jetzt eine alte Frau, und es gab keinen Grund anzunehmen, dass sie noch viel vom Leben zu erwarten hatte.

Und sie konnte alles in ihr Tagebuch schreiben. Wenn dann etwas passierte, würde immer noch ihr Tagebuch da sein. Sie hatte schon angefangen zu schreiben, als ihr plötzlich noch eine andere Idee kam. Zufällig hatte sie aufgeschaut und ihren Ebenholzstock erblickt, und ihre Gedanken waren fast fünfundzwanzig Jahre zurückgesprungen, in die Zeit, als sie während des Krieges als Krankenschwester in Frankreich gearbeitet hatte. Es hatte da einen widerlichen Feldsanitäter gegeben ... Sie hatte gespürt, dass er es auf sie abgesehen hatte. Sie wusste auch, dass der Krankenwagen irgendwann mal eines Abends, als sie allein waren, eine Panne haben würde. Und so kam es auch! Sie hatte Recht gehabt mit dem Sanitäter! Nur hatte der nicht gewusst, wie geschickt sie mit einem Schraubenschlüssel umgehen konnte. Er war den ganzen Weg zurück ins Lager bewusstlos gewesen, und der Arzt hatte ihr gratuliert und gesagt, sie hätte keinen effektivere Stelle am Schädel für ihren Schlag wählen können. Sie erinnerte sich jetzt genau an diese Stelle und dachte an Doktor Hessian, wie er sich bückte, um den Schalter zu betätigen ... Natürlich war sie älter, nicht mehr so stark, und der Ebenholzstock würde nicht so leicht zu handhaben sein wie ein Schraubenschlüssel. Aber es müsste gehen ... Kurzerhand rief sie an und bat um einen neuen Termin für den nächsten Tag. Sie wählte den letzten vor dem Mittagessen. Da war die Gefahr nicht so groß, unterbrochen zu werden. Sie setzte sich wieder an den Schreibtisch und brachte ihr Tagebuch auf den neuesten Stand.


III


Es war viertel vor eins, als Miss Finlayson am nächsten Tag das Sprechzimmer von Doktor Hessian betrat. Mit Bestürzung stellte sie fest, dass der tragbare Apparat bereits an die Steckdose angeschlossen war. Dr. Hessian würde sich nicht bücken. Ihr musste etwas einfallen - und zwar schnell. Sie setzte sich auf den Stuhl, der seinem Schreibtisch gegenüber stand.

Ich hoffe, Sie haben sich gut erholt", begrüßte Doktor Hessian sie freundlich.

Ziemlich", antwortete Miss Finlayson und sah sich vorsichtig um. „Ich schäme mich wirklich, dass ich neulich solch einen Aufstand gemacht habe ..." Der Arzt kommentierte das nicht. Er war bereits dabei, die Maschine einzustellen. Miss Finlayson schaute sich hilflos um.

Jetzt ist alles bereit, Miss Finlayson", sagte er. „Wenn Sie jetzt Ihren Hut abnehmen würden ..." Miss Finlayson nahm ihren Hut ab.

Setzen sich auf diesen Stuhl!"

Miss Finlayson legte ihre linke Hand auf den Schreibtisch. Dort lagen zwei schwere medizinische Wälzer; als sie sich erhob, verfing sich ihr Ärmel darin. Sie polterten auf den Boden.

Oh je, wie ungeschickt von mir!", murmelte Miss Finlayson, und der Arzt war sofort an ihrer Seite, bückte sich sehr höflich und zuvorkommend.

Bitte erlauben Sie mir ..."

Miss Finlayson erlaubte. Sie zielte genau und zog ihm den schweren Ebenholzgriff über den Schädel. Er fiel stöhnend um, nur halb ohnmächtig, und sie versetzte ihm einen weiteren Schlag, bevor er sich erholen konnte. Dann lag er still, und Miss Finlayson untersuchte ihn. Sie hatte bei dem Sanitäter bessere Arbeit geleistet als bei ihm. Der Doktor war kaum bewusstlos, sogar jetzt noch. Also versetzte sie ihm einen weiteren Schlag, um sicher zu gehen. Dann verriegelte sie die Tür und machte sich methodisch an die Arbeit. Sie zerrte ihn zu dem Stuhl hinüber und zog ihn hinauf. Sie legte seinen Kopf auf die Kinnstütze, so wie er ihren Kopf hineingelegt hatte. Dann richtete sie das Gerät auf dieselbe Stelle an seinem Hinterkopf, schaltete es kurz ein und aus. Als nächstes schaute sie auf die Uhr. Es war fünf Minuten vor eins. Sie fragte sich, wie lange es wohl dauern würde, bis er wieder zu Bewusstsein kam. Das war eigentlich egal, solange er dachte, er sei schon lange bewusstlos gewesen. Sie öffnete das Glasgehäuse der Wanduhr und drehte den Zeiger auf zwanzig nach. Dann zog sie einen Stuhl in die Nähe von Doktor Hessian und beobachtete ihn. Als die Zeiger der Uhr auf die halbe Stunde zeigte, glaubte sie, seine Augenlider flackern zu sehen, und schaltete das Gerät ein. Aber es war ein falscher Alarm, und sie schaltete es wieder aus. Als die Uhr schließlich zehn Minuten vor zwei anzeigte, stöhnte er auf und regte sich. Miss Finlayson schaltete das Gerät wieder ein und beobachtete ihn aufmerksam. Er kam ganz langsam zu sich. Zuerst öffnete er die Augen, aber er schien nichts zu sehen. Dann schaute er sie an, zunächst ausdruckslos, dann mit zunehmender Verwirrung. Er hob vage die Hand, um seinen Kopf zu betasten und berührte den Lauf der Maschine hinter ihm. Misstrauen und Angst traten in seine Augen - vor allem Angst. Er drehte den Kopf vorsichtig und langsam herum, als würde er kaum wagen, hinzusehen. Als er die Maschine erblicke, sprang er auf, taumelte wimmernd auf die gegenüberliegende Seite des Raumes und kauerte sich an die Wand. Miss Finlayson beobachtete ihn mit einem dümmlichen Lächeln. Die Maschine war durch den Ruck, den er in seinem rasenden Bemühen, ihr zu entkommen, auslöste, zu Boden gestürzt. Selbst jetzt schien er sie nicht ansehen zu wollen. Er glotzte mit starren Augen auf die Uhr. Endlich sah er Miss Finlayson an. „Wer sind Sie?", flüsterte er. „Warum haben Sie mir das angetan?"

Miss Finlayson lächelte immer noch ihr idiotisches Lächeln. „Ich habe nur Doktor gespielt", sagte sie. „So ein schönes Spiel! Jetzt werden sie mich wohl wieder ins Heim stecken ..."

Danach ging alles sehr schnell. Doktor Hessian schien völlig den Kopf zu verlieren. Er stürzte auf den Flur und rief um Hilfe, und im Nu war das Sprechzimmer mit anderen Ärzten, Krankenschwestern und Bediensteten überfüllt. Bald darauf kam die Polizei - zwei von ihnen. Dr. Hessian war immer noch völlig außer sich und konnte kaum einen zusammenhängenden Bericht über den Vorfall abgeben. Aber die Hämatome an seinem Kopf und der Ebenholzstock halfen ihm. Miss Finlayson bemerkte, dass er sie nur beschuldigte, ihn bewusstlos geschlagen zu haben. Mehr erwähnte er nicht. Er schien nicht die geringste Neigung zu verspüren, die Aufmerksamkeit auf den Mechanismus auf dem Boden zu lenken ...

Miss Finlayson war noch nie vor einem Polizeigericht angeklagt worden, und sie fand es äußerst faszinierend. Die Polizisten waren wirklich sehr freundlich. Selbst der neugierige Mann von Scotland Yard war nett. Seltsam, wie sehr er sich für Doktor Hessian zu interessieren schien. - Inzwischen saß Miss Finlayson auf der Anklagebank; der Richter sah gelangweilt aus, und die Polizei beantragte Untersuchungshaft. Jemand sprach von einer Kaution, doch die Polizei lehnte sie ab, weil sie nicht für ihre Taten verantwortlich war. Aber jetzt sagte der liebe Sir Giles, dass er für sie verantwortlich sei. Der Richter murmelte etwas Unverständliches, und schon war sie mit Sir Giles allein in einem Taxi. Dann befanden sie sich im sonnigen Zimmer eines Pflegeheims, und Sir Giles stand vor ihr.

Und nun, Miss Finlayson", begann er, „ wird es Zeit, dass Sie mir erklären, was das alles zu bedeuten hat."

Ich glaube, es war ein Anflug von Schizophrenie", entschuldigte sich Miss Finlayson.

Blödsinn!" Sir Giles wurde ungeduldig. „Sie sind geistig genauso gesund wie ich, und das wissen Sie!" Miss Finlayson schnaubte spöttisch. „Ich denke, ich bin um einiges gesünder!"

Er sah sie säuerlich an. Dann versuchte er es mit Flehen. „Sehen Sie nicht, dass mich das in eine sehr unangenehme Lage bringt, nach dem, was Sie mir neulich gesagt haben?"

Ich wüsste nicht, was das mit dem zu tun haben sollte, was ich neulich gesagt habe", erwiderte Miss Finlayson.

Wollen Sie mir weismachen, dass Sie nicht zu Dr. Hessian gegangen sind, weil Sie glauben, dass er etwas mit dem Tod Ihrer Nichte zu tun hat?"

Ich will Ihnen gar nichts weismachen. Dr. Hessian hat mich beschuldigt, ihm einen Stock auf den Kopf geschlagen zu haben. Wenn ich mehr als das getan habe, dann soll er es sagen, nicht wahr?“

Sir Giles gab den ungleichen Kampf auf. „Na schön, wenn Sie es mir nicht sagen wollen, dann eben nicht, aber wenn Sie denken, die Sache sei damit erledigt, dann haben Sie sich geschnitten. Ich bin jetzt Ihr Vormund und werde Ihnen Senneskapseln und eine Milchdiät verordnen."

Miss Finlayson schüttete die Senneskapseln in die Kloschüssel. Und was die Milchdiät betrifft, so hatte sie sowieso seit einiger Zeit vor, ein wenig abzunehmen, und dies war eine ausgezeichnete Gelegenheit dazu. In den nächsten Tagen wurde sie von Sir Giles, den Kriminalbeamten und dem Kommissar selbst unentwegt verhört. Doch sie blieb verschlossen wie eine Auster. Der richtige Zeitpunkt, um ihre Geschichte zu erzählen, war vor Gericht, und dort wollte sie sie von Anfang bis Ende erzählen, wenn Doktor Hessian anwesend war und sie alle sein Gesicht sehen konnten. Das Einzige, das sie in der Zwischenzeit wirklich interessierte, war, was Dr. Hessian tat und dachte. Was sie betraf, so hatte sich ihr Verdacht durch das Verhalten von Doktor Hessian, als er zu sich kam, bestätigt. Der Schrecken in seinen Augen konnte nur eines bedeuten: dass er dachte, sie hätte ihm genau das angetan, was er Freda angetan hatte. Ein weiterer Beweis dafür war, dass er jedes Wort über die Maschine vermieden hatte. Inzwischen würde er natürlich herausgefunden haben, dass er schlafen konnte, dass sie ihm keinen wirklichen Schaden zugefügt hatte, und wenn er vor Gericht erscheinen würde, würde er wahrscheinlich behaupten, sie sei eine Verrückte. Wenn schon! Natürlich gab es ein gewisses Risiko, dass alle tatsächlich glaubten, sie wäre irrsinnig ...

Am Morgen des sechsten Tages kam Sir Giles mit ernster Miene herein.

"Ich habe eine schlimme Nachricht für Sie. Doktor Hessian wurde heute Morgen tot im Bett aufgefunden."

Miss Finlayson starrte ihn an: „Sie meinen doch nicht etwa, dass ich so hart zugeschlagen habe?"

Nein, das nicht", erwiderte Sir Giles. „Aber er hat in den letzten sechs Tagen nicht geschlafen. Letzte Nacht hat er eine Überdosis Tabletten genommen und es beendet."

Aber ich kann ihn doch nicht umgebracht haben, dachte Miss Finlayson; die Maschine war nur ein paar Minuten lang an. Das kann nicht lange genug gewesen sein, um diese Wirkung zu erzielen ...

"Sie müssen jetzt alles sagen, was Sie wissen", fuhr Sir Giles fort. „Das ist Ihre einzige Hoffnung. Der Kommissar wird jeden Moment hier sein. Ich bin gekommen, um Sie zu warnen."

Ich nehme an, Sie haben ihm erzählt, was ich Ihnen beim ersten Besuch gesagt habe?"

Noch nicht", gab Sir Giles zu. „Aber ich werde es vielleicht tun müssen. Bisher war er es, der mir aufschlussreiche Dinge erzählt hat. Anscheinend war Freda nicht die Einzige. Zwei andere Mädchen starben, die mit Hessian befreundet waren. Sie wussten das schon lange, aber sie hatten keine Beweise, die sie nutzen konnten. Jetzt wissen sie auch von Freda, und sie wissen, dass sie Ihre Nichte war. Sie müssen ihnen die ganze Wahrheit sagen!"

Aber was soll ich denn getan haben?", fragte Miss Finlayson unschuldig.

Sie könnten einen Apparat bei ihm benutzt haben - den gleichen Apparat, den er bei diesen Mädchen benutzt hat."

Soso! Hat man diesen Apparat in seinem Sprechzimmer gefunden?"

Nein. Alles dort ist reine Standardausrüstung. Nichts Außergewöhnliches."

Und wie kommen Sie dann auf ..."

Es fehlt etwas. Es befand sich eindeutig etwas auf dem Boden, als er die Polizei rief. Jetzt ist es verschwunden."

Hm! Wie schade, dass die Polizei nicht nachgeschaut hat, als sie die Gelegenheit dazu hatte. Vielleicht habe ich es ja verschwinden lassen?"

Nein, Hessian war es! Es hätte als Beweismittel gegen ihn verwendet werden können."

Hat er die Existenz dieses Apparats gestanden?"

Nein, er hat ihn nie erwähnt."

"Ach, wie bedauerlich!", seufzte Miss Finlayson. „Tja, es sieht so aus, als hätte die Polizei überhaupt nichts gegen mich in der Hand, bevor sie dieses Ding gefunden hat."

Heißt das, Sie weigern sich, darüber zu sprechen?"

Ich kann nicht über etwas sprechen, wovon ich nichts weiß!"

Aber es ist Ihre Pflicht! Im Interesse der Gerechtigkeit und auch der Wissenschaft!"

Meiner Meinung nach", erwiderte Miss Finlayson trocken, „ist der Gerechtigkeit bereits Genüge getan. Und was die Wissenschaft angeht, so sind es Entdeckungen wie diese, die die Menschheit ruinieren. Je eher sie verlorengehen, desto besser."

Das war das Ende ihres Gesprächs mit Sir Giles. Als der Kommissar seinen Platz einnahm, leugnete sie jede Kenntnis von diesem angeblichen Gerät. Ihr war klar, dass sie, sobald sie darüber sprach, nicht nur wegen Körperverletzung, sondern wegen Mordes angeklagt werden würde, und so gab sie zu, dass sie Doktor Hessian angegriffen hatte, weil sie wusste, dass er der Mann war, der Freda verführt hatte. Das und nichts anderes gab sie zu, und drei Stunden Verhör konnten sie nicht erschüttern. Der Kommissar beobachtete sie die ganze Zeit über genau. Eine tolle Frau, dachte er, und eine tolle Show! Schade, dass sie das Tagebuch vergessen hatte, das in seiner Tasche steckte! In diesem Tagebuch stand nicht genug, aber mit etwas Geschick könnte er sie dazu bringen, ihm den Rest zu erzählen. Aber das würde er nicht tun. Warum sollte er die Sache wieder aufrühren, wo doch bereits alles zum Besten stand? War es seine Pflicht, weitere Opfer zu fordern, wenn die Rechnung bereits beglichen war? Er beschloss, den Fall zu abzuschließen. Die Maschine war verschwunden, und ohne sie hatte er wirklich nichts in der Hand.

Der Kommissar wandte sich zum Gehen, blieb aber plötzlich noch einmal vor Miss Finlayson stehen. "Sie sind also ganz sicher, dass Sie mir nichts mehr zu sagen haben?"

Ganz sicher", versicherte Miss Finlayson.

Na gut, das wäre dann alles." Er holte das Tagebuch aus seiner Tasche und reichte es ihr.

Ich wollte Sie eigentlich um Erlaubnis bitten, es zu lesen, aber ich glaube, das ist jetzt nicht mehr nötig. Sie sollten es lieber verbrennen."

Miss Finlayson spürte, wie sie auf den Boden sank, als er den Raum verließ. Sie hatte das Tagebuch völlig vergessen, und sie wusste, dass er jedes Wort davon gelesen hatte ...

Als der Fall schließlich zur Verhandlung kam, wurde Miss Finlayson zu zwölf Monaten Bewährung verurteilt. Sir Giles hatte ihre Zurechnungsfähigkeit bezeugt, doch der Richter beschloss, Milde walten zu lassen. Sir Giles verabschiedete sie, als sie den Zug zurück nach Devonshire nahm. Der Zug war fast schon in Bewegung, als sie das Fenster öffnete und sich hinauslehnte. „Es gibt da noch einen Punkt zum Thema Schlaf, zu dem ich Sie befragen möchte.“

Oh! Und was wäre das?" Sir Giles klang misstrauisch.

Gehe ich recht in der Annahme, dass ein Schock oder Angstzustand schwere Schlaflosigkeit verursachen können?"

Durchaus möglich, Miss Finlayson."

Angenommen, jemand wäre von der Vorstellung besessen, nie wieder schlafen zu können - wäre das schon ausreichend, um ihn vom Schlafen abzuhalten?"

Nicht auszuschließen, würde ich sagen."

Das ist alles, was ich wissen wollte", beendete Miss Finlayson das Gespräch freundlich. „Auf Wiedersehen - und vielen Dank!"

Nachdem der Zug außer Sichtweite war, stand Sir Giles noch lange da und starrte auf die Gleise.


Originaltitel: Doctor Macbeth

Diese Version: Cosmopolitan, April 1940

Übersetzung: Matthias Käther © 2022


*Der Text legt nahe, dass es mindestens einen früheren Fall mit Mrs. Finlayson gibt – eine entsprechende Erzählung habe ich allerdings bisher nicht gefunden.

Winston K. Marks: Die Körperformer kommen! (1955)

 


Winston K. Marks (1915-79) gehört zu meinen Favoriten unter den SF- und Horror-Autoren. Nach schüchternem Start im legendären Fantasy-Magazin „Unknown“ in den Vierzigern schwieg er einige Jahre – vermutlich kriegsbedingt –, um dann sein Hauptwerk in den 50ern zu schreiben – und für immer zu schweigen. Ein erstaunlicher Typ, der fast an alle renommierten SF-Magazine der Ära Qualitätsware verkaufte und doch bis heute selbst in Amerika kaum (noch) bekannt ist. Vielleicht, weil seine Art, seltsam zu sein, nicht in die 50er passte. Hätte sie besser in die psychodelischen New-Wave-Jahre der 60er gepasst? Ich weiß nicht recht. Marks Blasphemien scheinen in kein Zeitalter zu passen. Sie (ver)stören überall und immer, auch wenn er seine Pillen oft mit einem hinreißenden trockenen Humor versüßt.

Nicht alle seine Storys treffen ins Schwarze. Doch es gibt eine Reihe echter Meisterwerke. Sein Kanon ist überschaubar. 62 Kurzgeschichten hat er hinterlassen, erst sieben wurden ins Deutsche übersetzt; eine übrigens von mir für den dritten Teil der Pulp-Fiction-Serie beim BLITZ-Verlag, die dieser Tage erscheint (Fantastic Pulp 3), und die ich zusammen mit Zwielicht-Herausgeber Michael Schmidt veröffentliche.

Diese Geschichte hier illustriert blendend Marks satirisches wie fantastisches Potential. Aliens sind gefährlich, Invasionen können jederzeit stattfinden - aber vielleicht haben wir uns vom Grauen, das diese Wesen auslösen können, bisher eine ganz falsche Vorstellung gemacht ...


Warum ausgerechnet ich? Warum mussten sie von vier Milliarden Menschen auf der Erde ausgerechnet mich auswählen?

Und wenn es schon geschehen musste, warum konnte es nicht geschehen, bevor ich Betty traf und mich in sie verliebte? Wissen Sie, Betty und ich wollten eigentlich morgen heiraten. Wir hätten geheiratet. Morgen.

Morgen, in der Tat! Was für ein grässlicher Gedanke! Wie kann ich es Betty erklären? Wem kann ich es überhaupt erklären? Ich kann ihr nicht gegenübertreten. Und was sollte ich am Telefon sagen? „Tut mir leid, Betty, ich kann dich nicht heiraten. Ich bin nicht mehr ganz – menschlich ..."

Keine Witze, Kelley! Ganz im Ernst: Ich bin nüchtern und wach - und es ist passiert. Betty zu heiraten kommt nicht mehr in Frage, selbst wenn sie dich so haben wollte, wie du jetzt aussiehst. Aber so fies bist du nicht!

Hör auf, nackt und zitternd vor dem Spiegel zu stehen, nach Narben zu suchen und deine Finger und Zehen zu zählen. Du hast schon hundertmal Inventur gemacht, und es kommt immer falsch heraus. Und das wird auch so bleiben, es sei denn ... SIE kommen zurück. Aber das ist hoffnungslos. Sie würden mich nie wieder finden. Nicht bei all den vielen Menschen auf der Welt. Außerdem schien es ihnen völlig egal zu sein. Genau wie es einem Kind egal ist, was mit einem Klumpen Knete passiert, wenn es ihn aus Langeweile in diese und jene Form presst.

Von wo sind sie gekommen? Oder müsste man eher fragen, nach dem, was sie „geredet" haben: von wann sind sie gekommen? Würde es mir etwas nützen, wenn ich es wüsste?

Ich saß in meiner Junggesellenwohnung, trank eine Dose Bier und versuchte, ein Kreuzworträtsel zu lösen, um müde zu werden. Ich war nicht besonders hibbelig, wie es der Bräutigam am Vorabend seiner Hochzeit eigentlich sein sollte. Ich war einfach nur um Mitternacht hellwach und wollte müde werden, damit ich mich richtig ausschlafen konnte, wenn ich ins Bett ging.

Ich saß einfach da und versuchte, mir ein Wort mit zwei Buchstaben für "Sonnengott" auszudenken. Dabei musste ich an das Gold in Bettys Haar denken, wenn die Sonne am Strand darauf schien. Und schon bald starrte ich nur noch ins Leere, sehnte mich nach Betty und wünschte mir, die nächsten zwölf Stunden meines Lebens würden verschwinden und wir könnten zusammen zu unserem kleinen Häuschen am See fahren.

Ich starrte in den leeren Raum ... Dann war er plötzlich nicht mehr leer. Da waren diese beiden großen Kugel-ähnlichen Dinger vor mir, etwa einen Meter im Durchmesser ... Wenn man sich dazu durchringen will, dass sie so etwas wie einen „Durchmesser“ hatten. Sie sahen eben wie Kugeln aus, denn ihre Oberflächen waren aus glänzendem, spiegelndem Stahl. Aber sie hatten ungleichmäßig verteilte, glatte Unebenheiten. So ähnlich wie die unregelmäßigen Hügel auf einer Kartoffel, sie waren also nicht wirklich rund.

Das Licht meiner Lampe reflektierte seltsam auf ihnen, und mein eigenes Bild spiegelte sich in den verzerrten, reflektierenden Rundungen wider. Wie diese Spaß-Spiegel auf dem Jahrmarkt, nur verrückter ... und überhaupt nicht lustig. Angst ist nie lustig. Und ich hatte Angst. Ich könnte schwören, dass ich die Angst schmecken konnte. Sie lag salzig auf meiner Zunge. Als ich versuchte zu schreien, fühlte sich mein Gaumen wie alter Beton an.

Dann „sprach“ eines von ihnen. „Es ist lebendig! Es ist intelligent! Es spürt unsere Anwesenheit!"

Ich empfing reine Gedanken, keine Worte. Aber der Mensch denkt nur in Worten. Und ihre Gedanken fischten passende Worte aus meinem Unbewussten, um sie für meine Assimilation zu nutzen.

Telepathie? Unmöglich! Welche gemeinsamen Bezugspunkte könnte ich mit diesen beiden unvorstellbar fremden Lebensformen haben?

Die Antwort peitschte auf einer intuitiven, unterschwelligen Ebene zu mir zurück: „Der Gedanke ist eine universelle Energiemanifestation. Die Sprache ist nur das unbeholfene Vehikel für den Gedanken!“


Zwischen mir und den Aliens gab es keine solche Barriere.

„Offensichtlich intelligent", stimmte das andere zu. „Spürst du seine Gammastrahlung? Schade, dass sie so schwach ist. Es wäre interessant, wenn er mit uns kommunizieren könnte."

Ich stotterte laut: „Aber-aber ich kann mit euch kommunizieren. Ich verstehe alles ..."

Sie schenkten meinen Worten keine Beachtung. "Ja, das ist typisch für diese alten, organischen Lebensformen. Wenn ich mich recht erinnere, benutzen sie eine Art physische Vibration ihres gasförmigen Mediums, um untereinander zu kommunizieren ..."

„Apropos", unterbrach das andere, „dieses gasförmige Medium scheint Sauerstoff zu enthalten. Wir sollten nicht zu lange bleiben, sonst rosten wir, und sie machen uns bei der Rückkehr die Hölle heiß."

„Leg doch ein bisschen Chrom auf, wenn es dich stört. Wir werden so oder so in der Hölle landen, wenn Mama ..."

Wirklich – Mama, das ist das Wort, das sich in meinem Kopf bildete!

„... rausfindet, wo wir gewesen sind. Aber ich bin fasziniert von diesen Kreaturen aus Fleisch und Blut. Ich frage mich, wer diese plumpe Monstrosität da erfunden hat."

Es meinte mich. Es rollte etwas näher heran, und das andere folgte mit einem unsicheren Wackeln. „In der dritten Klasse hatte ich mehr auf dem Kasten als er."

„Quatsch! Du wärst in Metaplastik fast durchgefallen."

„Na ja, du bist durchgefallen, also halt die Klappe.“

„Ach, spiel dich nicht so auf. Hm. Ich denke, das Ding hier sieht ziemlich praktisch aus. Ausgewogen ..."

„Genau, was ich meine. Schau dir diese einfallslose Bi-Symmetrie an. Zwei Arme, zwei Beine, zwei Augen, fünf Finger an jeder Hand, fünf Zehen an jedem Fuß. Eins steht fest: der Erfinder war eher ein Mechaniker als ein Künstler. Angesichts der Schwerkraft gibt es keinen Grund, warum ..."

„Und wie würden Sie das Design verbessern, Herr Naseweis?"

„Tja ... Zuerst sollten wir mal die Verpackung entfernen."

Meine Kleider verließen meinen Körper sanft, aber lautstark: Sie fielen ab unter heftigen Reiß-Geräuschen. In zwei Sekunden saß ich nackt da, meine Kleider lagen wie abgerissene Binden auf dem Boden.

Ich schrie: „He, was zum Teufel ..."

Die Aliens hatten keine sichtbare Bewegung gemacht, aber offensichtlich eine mächtige Energie eingesetzt, um mir alles vom Leib zu reißen, was ich trug: Hemd, Hose, Unterwäsche und sogar meine Schuhe … und das alles, ohne meine Haut auch nur zu streifen.

Ich sprang auf die Füße, nackt wie eine Gummi-Ente. Sie schwebten zwischen mir und der Tür, und wirkten seltsam unbeholfen.

„Achtung! Es ist aufgeschreckt. Lass es nicht entkommen!"

„Versucht, mich aufzuhalten!", schrie ich und spannte meine Muskeln für einen Sprung über die beiden Eindringlinge an. Plötzlich schien die Luft um meinen schwitzenden Körper so dickflüssig zu werden wie Sirup. Ich konnte zwar atmen, aber jegliche schnelle Bewegung war mir verwehrt. Mein großer Sprung erstarb, bevor mein rechter Fuß den Boden überhaupt verließ. In Zeitlupe zog ich mich panisch wieder auf meinen Stuhl zurück und sank langsam durch die zähe Atmosphäre in eine sitzende Position auf meiner zerrissenen Kleidung.

„Ja, eine sehr unbeholfene, unästhetische Lebensform. Tatsächlich widert mich diese Bi-Symmetrie ziemlich an. Zugegeben, die beiden Arme sind praktisch, aber zweifellos erledigt der linke oder der rechte 90 Prozent aller Arbeiten. Warum sollten sie also gleich gebaut sein? Schau mal, ich könnte ..."

„Warte!", mahnte der andere. "Das ist ein empfindungsfähiges Wesen. Du kannst nicht ohne ..."

„Natürlich nicht!"

Etwas vibrierte in meiner Wirbelsäule, und ich wurde kurz ohnmächtig - für den Zeitraum eines Atemzuges, wie mir schien.

„So, das ist besser."

„Ja, da muss ich dir recht geben."

Ein schwaches Kribbeln in meinem linken Arm veranlasste mich, ihn anzustarren. Unglaublich! Seine Länge war gleich geblieben, aber sein Durchmesser hatte sich auf zwei Drittel reduziert, und es fehlten zwei Finger an der Hand. Der Daumen war noch vorhanden, aber er sah jetzt mehr wie eine Klaue als wie ein menschlicher Finger aus. Ich versuchte zu schreien, aber das fühlte sich an wie eine klebrige Luftblase, die meine Lippen nie erreichte.

„Was ist mit den pedalförmigen Anhängseln?"

„Nun ...", es zögerte kurz. „In Anbetracht der Art der Fortbewegung scheint die Bi-Symmetrie hier eher gerechtfertigt. Aber warum zwei? Warum nicht vier, zwei vorn und zwei hinten?"

„Weil die Sehorgane nur in eine Richtung zeigen."

„Das lässt sich ändern."

Meine Wirbelsäule brummte, und als ich wieder nach unten blickte, hatte sich eine Flut von merkwürdigen Veränderungen vollzogen. Meine Knöchel endeten in der Mitte meiner Füße, und meine Fersen waren verschwunden. An ihrer Stelle waren ebenfalls Zehen.

„Schau, mit dem doppelgelenkigen Knie kann er jetzt vorwärts und rückwärts laufen, ohne zu sich umzudrehen ..."

Dann wurde mir bewusst, dass ich gleichzeitig nach vorne und nach hinten sehen konnte.

„Das Ding da ... In der Mitte! Ist sicher überflüssig."

„Ja."

Wamm!

Es war verschwunden.

„Ein Tentakel, der zum Beispiel am rechten Hüftknochen befestigt ist, könnte sehr nützlich sein."

Wamm!

Meine rechte Hüfte kribbelte. Aus ihr ragte ein peitschenartiges Anhängsel hervor, das etwa einen Meter lang, braun und lederartig war, sich auf den Durchmesser eines Bleistifts verjüngte und in einem rosafarbenen Fleischpolster endete, das reichlich mit einer Art Geschmacksknospen ausgestattet war. Ich konnte jedes Haar im Flor des Teppichs, auf dem es ruhte, spüren: fühlen, schmecken, riechen und - hören! Vier Sinnesorgane in einem!

„Na wird doch!", rief eins der Aliens.

Wamm!!

Wamm!!

Die augenblicklich wirkenden Narkosemomente kamen in rascher Folge über mich, und jedes Mal wurde ich eines normalen menschlichen Glieds beraubt oder war im Besitz einer außergewöhnlichen Ergänzung meiner Anatomie - ohne mehr als das erwähnte leichte Kribbeln zu spüren.

Aus ihren mentalen Bemerkungen schloss ich, dass ich meinen Blinddarm, meine Mandeln und ein Muttermal auf meinem linken Schulterblatt verloren hatte. Die meisten der Gegenstände, die ich dafür erhielt, waren zu grotesk, um sie näher zu beschreiben.

„Zwei zusätzliche Herzstrukturen und die Anpassung der Nebennieren sollten nun eigentlich Unsterblichkeit gewährleisten", erklärte einer der Eindringlinge.

„Was wahrscheinlich zu einer Überbevölkerung in zehn Generationen führen würde", erinnerte ihn der andere.

„Richtig. Das sollte ich kompensieren."

Wamm! Und das tat er!

„Mist! Ich roste."

„Leg etwas Chrom auf, wie oft denn noch!"

„Ich glaube, ich höre Mama rufen. Lass uns abhauen, bevor sie ..."

Zu spät. Eine dritte holprige Kugel materialisierte sich hinter den beiden Aliens, und augenblicklich durchströmte ein Schwall mütterlicher Schimpfworte den Äther.

„Ich habe das ganze Kontinuum nach euch beiden abgesucht! Was stellt ihr denn schon wieder an?"

„Wir wollten gerade zurück, Mam."

„Ehrlich, Mam. Wir sind nur hier, um zu üben."

„Üben?", schrie Mam. „Üben an diesem armen, primitiven, organischen Wesen?"

Ich fühlte mich in der Tat arm und primitiv. Gelähmt vor Angst wie ich war, grenzte es an ein Wunder, dass ich meinen Verstand während dieses wachen Albtraums nicht verloren hatte.

„Wir haben ihm nicht wehgetan."

Ihr setzt das Viech genauso wieder zusammen, wie ihr es gefunden habt, verstanden? Und zwar auf der Stelle!"

„Ja, Mam! Mal sehen ... Wie war es denn?"

„Einfache bilaterale Symmetrie, du Idiot!"

„Oh, ja, zwei von allem, außer..."

„Moment noch! Denk an an die Narkose."

Wamm!

Als ich dieses Mal aufwachte, waren sie weg. Meine elektrische Uhr summte leise auf dem Kaminsims und verriet mir die unsinnige Information, dass seit der Ankunft meiner Besucher weniger als eine Stunde vergangen war.

Ich taumelte auf die Beine und stemmte mich gegen dicke Luft – was überflüssig war, denn die Atmosphäre war wieder nur gewöhnlich: dünn und substanzlos. Meine Hand fiel auf meine rechte Hüfte.

Der Tentakel war verschwunden.

„Gott sei Dank!" hauchte ich, und für einen Moment versuchte mein gesunder Menschenverstand darauf zu bestehen, dass ich nur für ein paar Minuten eingeschlafen war und die ganze fantastische Szene geträumt hatte.

Aber nein! Warum sollte ich splitternackt sein? Und warum lagen meine Klamotten zerfetzt in meinem Sessel, wie Bandagen, die mit einem riesigen Rasiermesser zerschnitten worden waren?

Ich ballte meine linke Faust und fühlte mich durch den beruhigenden Druck von vier Fingern und einem Daumen in meiner Handfläche wohl. Aber dann trat ich in mein Schlafzimmer und stand vor meinem Ganzkörperspiegel - wo ich seither wie angewurzelt stehengeblieben bin.

Und eine Frage kreist in meinem Kopf, unterbrochen nur von Schimpfwörtern und Schluchzern der Verzweiflung. Wie kann ich Betty jetzt heiraten? Wie kann ich ihr gegenübertreten, geschweige denn sie heiraten?

Welche Frau auf Erden könnte sich dazu durchringen, einen Mann zu heiraten, der zwei Köpfe hat und keinen... Nabel?


Anmerkung des Übersetzers: Sicher hatte der Autor pikanteres im Sinn als einen Nabel – doch das ließ sich im Jahr 1955 in einem SF-Magazin wohl kaum aussprechen ...


Winston K. Marks

Kid Stuff

Infinity SF, November 1955

Übersetzung: Matthias Käther © 2022

Edith Nesbit – No.17 (1910)

 



Der Geistergeschichtenjäger muss man manchmal nicht weniger Geduld haben als der Geisterjäger. Es ist kein Problem, unübersetzte Storys aus der „Golden Ära“ 1890-1945 zu finden. Aber es stellen sich dem neugierigen Stöberer in alten Magazinen doch zwei immense Schwierigkeiten in den Weg: Oft sind die wirklich guten Geschichten wegen diverser Copyright-Probleme nicht so ohne weiteres übertragbar, und zum zweiten ist das Feld der berühmten copyrightfreien Namen dann doch erheblich abgegrast.

Ziemlich hoffnungslos checkt man dann eine Entdeckung, die einem gefallen hat, mit den entsprechenden Datenbanken, und findet in 99 von 100 Fällen einen Eintrag für eine erfolgte deutsche Übersetzung. Zu meiner Verblüffung – sie muss der mit Ungläubigkeit gemischten Freude des Ghost-Busters gleichen, der wirklich mal keinen Typen im Bettlaken enttarnt, sondern in frischem Ektoplasma stochert – konnte ich keine Übersetzung der folgenden Story finden, die von der großen Edith Nesbit (1858-1924) stammt. Die weltberühmte Kinderbuchautorin machte öfter Abstecher in die Welt des Grusels, nicht allzu oft, aber ein einzelner Band ließe sich mit ihren Horrorgeschichten doch bequem füllen (und wurde, nebenbei gesagt, auch gefüllt, 2000 nämlich in der bahnbrechenden Sammlung „In the Dark“ bei Harper Collins Publishers.) Warum entging „Number 17“ den deutschen Übersetzern?

Die Antwort auf die Frage findet man, wenn man einen Blick in das Magazin des Erstdrucks wirft:

Im Strand-Magazine vom Juni 1910 wird die Autorin der Story als „E. Bland“ aufgeführt. Das ist völlig korrekt, sogar korrekter als Edith Nesbit, denn Nesbit war der Mädchenname der Autorin, ihr richtiger (angeheirateter) Name war damals Bland. Doch obwohl sie den Mädchennamen fast immer für ihre literarischen Produktionen nutzte, ging das hier nicht, denn in der „Strand“-Ausgabe stand damals bereits ein anderer Nesbit-Text – nichts Geringeres als eine Fortsetzung ihres vielgelesenen Fantasy-Romans „The Magic City“. Da ein zweites Mal aufzutrumpfen, wäre unbescheiden gewesen.

Ich hoffe, Sie können sich mit mir über den hübschen Fund freuen...


I.


Ich gähnte. Ich konnte es nicht verhindern. Aber die monotone, unerbittliche Stimme fuhr fort.

Vom journalistischen Standpunkt aus – und ich weiß, wovon ich rede, meine Herren, schließlich war ich mal Anzeigenredakteur des Bradford-Wollwaren-Journals – vom journalistischen Standpunkt aus bin ich der Meinung, dass die besten Geistergeschichten eigentlich immer wieder dasselbe beschreiben. Wenn ich meinen Job aufgeben und eine literarische Karriere einschlagen würde, dann wäre das Geisterthema für mich tabu. Heutzutage ist Realismus gefragt, wenn man auf der Höhe der Zeit sein will!“

Der fette Geschäftsmann holte tief Luft.

Beim Publikum weiß man nie, was ankommt“, meinte ein hagerer, ältere Reisender, „das ist wie in der Modebranche. Man weiß nie, was einschlägt. Ob es sich nun um einen mechanischen Vogel Strauß handelt oder um Sometit-Seide oder um eine besondere Form von getöntem Glas oder um eine Tabakdose, die wie ein rohes Kotelett aussieht: Man weiß nie, ob man Glück hat.“

Das hängt davon ab, wer sich drum kümmert“, sagte der elegante Mann in der Ecke am Feuer. „Wenn man den richtigen Dreh raushat, kann man jede Sache zum Laufen bringen, egal, ob es sich um ein mechanisches Spielzeug oder eine Fleischimitation handelt. Und bei Geschichten, nehme ich an, ist es genau dasselbe – egal ob realistische oder Geistergeschichten. Aber die effektivste Gespenstergeschichte wäre wohl die realistischste, denke ich.“

Der fette Geschäftsmann atmete wieder aus.

Ich selbst glaube nicht an Gespenstergeschichten“, sagte er mit humorloser Drögheit, „aber einer Cousine zweiten Grades einer angeheirateten Tante von mir ist etwas ziemlich Seltsames passiert eine sehr vernünftige Frau, der jeglicher Unsinn zuwider ist. Eine Seele von Rechtschaffenheit. Eine ehrliche Haut. Ich hätte es nie geglaubt, wenn sie eine von der flatterhaften, phantasievollen Sorte gewesen wäre.“

Bitte erzählen Sie uns diese Geschichte nicht“, flehte ein melancholischer Mann, ein Eisenwarenvertreter, „Sie werden uns so ängstigen, dass wir dann keine Lust mehr haben, ins Bett zu gehen.“

Der gut gemeinte Versuch schlug fehl. Der fette Geschäftsmann fuhr fort, wie ich es geahnt hatte; seine Worte quollen über seine Lippen, wie seine Figur über seinem Stuhl quoll. Ich wandte mich meinen eigenen Angelegenheiten zu, verließ den Clubraum des Hotels und kehrte rechtzeitig zurück, um das Resümee zu hören.

Die Türen waren alle verschlossen, und sie war sich ganz sicher, dass sie eine große, weiße Gestalt an sich vorbeigleiten und verschwinden sah. Ich hätte es nicht geglaubt, wenn...“ Und so weiter, und so weiter, von wenn sie nicht die Cousine zweiten Grades gewesen wäre bis zu wirklich, eine ehrliche Haut!

Ich gähnte wieder.

Sehr gute Geschichte“, sagte der kluge kleine Mann am Feuer. Er war Vertreter, wie wir anderen auch, das bewies seine Anwesenheit im Clubzimmer. Während des Abendessens war er eher schweigsam gewesen, und danach, als die roten Vorhänge zugezogen und das rot-schwarze Tuch zwischen den Gläsern, den Karaffen und dem Mahagoniholz ausgelegt wurde, hatte er sich stillschweigend auf den besten Sessel in der wärmsten Ecke gesetzt. Wir hatten unsere Briefe geschrieben, und der fette Vertreter hatte uns schon eine ganze Weile gelangweilt, bevor ich überhaupt bemerkte, dass es so etwas wie einen „besten Sessel“ gab und dass dieser schweigsame, helläugige, adrette Mann ihn sich gesichert hatte.

Sehr gute Geschichte“, sagte er, „aber sie ist nicht grade das, was ich realistisch nennen würde. Sie erzählen uns nicht genug, Sir. Sie sagen nicht, wann und wo es passiert ist, oder zu welcher Jahreszeit, oder welche Haarfarbe die Cousine zweiten Grades Ihrer Tante hatte. Sie sagen uns auch nicht, was sie gesehen hat, oder wie der Raum aussah, in dem sie es gesehen hat, oder warum sie es gesehen hat, oder was danach passiert ist. Nichts gegen die Cousine einer Tante ersten oder zweiten Grades, aber ich muss sagen, ich mag Geschichten aus erster Hand lieber.“

Ich auch“, knirschte der fette Vertreter, „falls ich eine höre.“

Er blies durch seine Nase wie in eine trotzige Trompete.

Aber“, meinte ein Mann mit Hasengesicht, „wir wissen doch heute, durch den Fortschritt der Wissenschaft und so, dass es so etwas wie Geister gar nicht gibt. Das sind Halluzinationen. Genau das sind sie – Halluzinationen!“

Es spielt keine Rolle, wie man sie nennt“, entgegnete der elegante Mann. „Wenn Sie etwas sehen, das so echt aussieht wie Sie selbst, etwas, das Ihnen das Blut in den Adern gefrieren lässt und Sie krank und starr vor Angst werden lässt - nun, nennen Sie es Geist oder nennen Sie es Halluzination oder nennen Sie es Lieschen Müller; auf den Namen kommts dann nicht an.“

Ein älterer Vertreter hustete und sagte: „Man kann es mitunter auch anders nennen. Man könnte es nach ein paar Gläsern auch...“

Nein, das können Sie nicht“, rief der kleine Mann munter, „nicht, wenn die Person, der es passiert ist, fünf Jahre lang Abstinenzler war und es bis heute ist.“

Warum erzählen Sie uns nicht die Geschichte?“ fragte ich.

Ich wäre dazu bereit“, räumte er ein, „wenn der Rest der Gesellschaft damit einverstanden wäre. Aber ich warne Sie, es ist nicht diese Art von Story, die jemand erlebt hat, der sich einbildet, etwas gesehen zu haben. Nein, Sir. Alles, was ich Ihnen erzählen werde, ist klar und deutlich, so klar wie ein Fahrplan – vielleicht sogar noch klarer. Aber ich erzähle es nicht gerne, vor allem nicht Leuten, die nicht an Geister glauben.“

Mehrere von uns versicherten eifrig, dass wir an Geister glaubten. Der fette Mann schnaubte und schaute auf seine Uhr. Und der Mann im besten Sessel begann.


II.


Drehen Sie das Gas ein bisschen runter, ja? Danke. Kannte jemand von Ihnen Herbert Hatteras? Er war viele Jahre in dieser Gegend unterwegs. Nein? Na ja, macht nichts. Er war ein netter Kerl, denke ich, mit guten Zähnen und einem schwarzen Schnurrbart. Ich kannte ihn nicht persönlich. Das war vor meiner Zeit. Das, was ich Ihnen jetzt erzähle, geschah in einem bestimmten Business-Hotel. Ich werde dem Hotel keinen Namen geben, denn so etwas spricht sich herum, und in jeder anderen Hinsicht ist es eine gute Unterkunft mit akzeptablen Preisen, und wir müssen schließlich alle über die Runden kommen. Es war einfach ein gutes, gewöhnliches, altmodisches, Business-Hotel, wie das hier zum Beispiel. Und ich habe es seitdem oft besucht, obwohl sie mich nie wieder in jenem Zimmer untergebracht haben. Vielleicht haben sie es nach dem Vorfall verschlossen.

Nun, es fing damit an, dass ich einem alten Schulkameraden begegnete; in Boulter`s Lock war es, an einem Sonntag, erinnere ich mich. Jones war sein Name, Ted Jones. Wir ruderten beide in Kanus. Wir tranken danach Tee in Marlow, und wir unterhielten uns über dies und das und alte Zeiten und alte Freunde; und erinnerst du dich an Jim und was ist Tom geworden und so weiter. Na, Sie wissen schon. Und dann fragte ich zufällig nach seinem Bruder, Fred hieß er. Ted wurde blass, er ließ fast seine Tasse fallen und sagte: „Du willst doch nicht etwa sagen, dass du es nicht gehört hast?“ „Nein“, meinte ich und wischte den Tee, den er verschüttet hatte, mit meinem Taschentuch auf. „Was gehört?“ fragte ich.

Es war schrecklich!“, rief er. „Sie haben nach mir telegraphiert, und ich habe ihn danach gesehen. Ob er es selbst getan hat oder nicht, weiß niemand; aber sie haben ihn mit durchgeschnittener Kehle auf dem Boden liegend gefunden“.

Ted sagte mir, dass es keinen Grund für die überstürzte Tat gab. Ich fragte ihn, wo es passiert sei, und er nannte mir den Namen eines Hotels - ich werde ihn nicht verraten. Und als ich ihm mein Beileid aussprach und ihm von den alten Zeiten erzählte und dass der arme alte Fred so ein guter Kerl war und so, fragte ich ihn nebenbei, wie dieses Zimmer aussah. Ich möchte immer gerne wissen, wie die Orte aussehen, an denen etwas Besonderes passiert.

Nein, das Zimmer hatte nichts Besonderes an sich, nur ein französisches Bett mit roten Vorhängen in einer Art Nische und einen großen Mahagonischrank, so groß wie ein Leichenwagen, mit einer Glastür, und statt eines Drehspiegels war dort ein geschnitzter, schwarz gerahmter, der zwischen den Fenstern an die Wand geschraubt war, und es gab ein Bild vom „Fest des Belsazar“ über dem Kaminsims. Ja, was ist?

Er hielt inne, denn der fette Vertreter hatte seinen Mund geöffnet und wieder geschlossen.

Ich dachte, Sie wollten etwas sagen. Nun, wir sprachen über andere Dinge und trennten uns, und ich dachte nicht weiter darüber nach, bis mich meine Geschäfte nach X brachten - ich nenne die Stadt besser auch nicht - und ich fand heraus, dass meine Firma genau dieses Hotel - das, in dem der arme Fred zu Tode gekommen war, wissen Sie? -für mich reserviert hatte. Und ich musste mich auch dort einquartieren, weil sie alle Post dorthin schickten. Außerdem wäre ich wohl sowieso aus Neugierde dorthin gegangen.

Nein, damals habe ich nicht an Geister geglaubt. Ich war wie Sie, Sir.

Er nickte freundschaftlich dem fetten Vertreter zu.

Das Haus war sehr voll, und wir waren eine ziemlich große Gesellschaft im Clubzimmer - eine sehr angenehme Gesellschaft, genau wie heute Abend; und wir sprachen über Geister - so wie heute. Da war ein Kerl mit Brille, der dort drüben saß, ich erinnere mich - ein alter Hase des Vertreter-Geschäfts, und er sagte, so wie es jeder von euch sagen könnte: „Ich glaube nicht an Gespenster, aber ich würde trotzdem nicht in Nummer Siebzehn schlafen wollen!“ Und natürlich fragten wir ihn warum. „Darum“, sagte er kurz und bündig.

Aber nachdem wir ihn ein wenig auf ihn eingeredet hatten, erzählte er es uns.

Weil das der Raum ist, in dem sich alle mit ihrem Rasiermesser die Kehle durchschneiden“, sagte er. „Ein Kerl namens Bert Hatteras fing damit an. Sie fanden ihn in seinem Blut. Und seitdem wurde jeder Mann, der dort geschlafen hat, mit aufgeschnittener Kehle gefunden.“

Ich fragte ihn, wie viele dort geschlafen hätten. „Nun, nur zwei, außer dem ersten“, sagte er, „dann haben sie es verschlossen.“

Ach, wirklich?“, meinte ich. „Tja, sie haben es anscheinend wieder geöffnet. Nummer Siebzehn ist mein Zimmer!“

Ich sage Ihnen, die Kerle haben vielleicht geglotzt.

Aber Sie schlafen doch nicht da drin?“, fragte einer von ihnen. Und ich erklärte, dass ich nicht einen halben Dollar für ein Zimmer bezahlt hätte, um dann darin wach zu bleiben.

Ich nehme an, der Geschäftszwang hat sie dazu gebracht, es wieder zu öffnen“, vermutete der Herr mit der Brille. „Eine sehr mysteriöse Angelegenheit. In diesem Raum herrscht ein geheimes Grauen, das wir nicht verstehen“, sagte er, „und ich erzähle Ihnen noch etwas Seltsames. Jeder von diesen armen Kerlen war ein Vertreter. Das ist es, was mir daran nicht gefällt. Da war Bert Hatteras - er war der erste, und ein Kerl namens Jones - Frederick Jones, und dann Donald Overshaw - ein Schotte, er vertrat Kinderunterwäsche.“

Nun, wir saßen da und unterhielten uns ein wenig, und wenn ich nicht eine solche Frohnatur gewesen wäre, weiß ich nicht, ob ich nicht in Panik verfallen wäre, meine Herren - ja, wirklich in Panik verfallen; denn je mehr ich darüber nachdachte, desto weniger gefiel mir der Gedanke an Nummer Siebzehn. Am Zimmer war mir nichts Besonderes aufgefallen, außer dass die Möbel seit der Zeit des armen Fred ausgetauscht worden waren. Also schlich ich mich nach einer Weiler hinaus und ging zu dem kleinen Glas-Schalter am Eingang, wo die Rezeptionistin sitzt - genau wie hier im Hotel, und fragte:

Hören Sie mal, Fräulein, haben Sie nicht noch ein anderes Zimmer frei außer der Siebzehn?“

Nein“, meinte sie, „ich glaube nicht.“

Und was ist das dann?“ hakte ich nach und zeigte auf einen Schlüssel, der an der Tafel hing, den einzigen, der noch da war.

Oh“, seufzte sie, „das ist Sechzehn.“

Ist denn jemand in Sechzehn? Ist das ein komfortables Zimmer?“

Nein“, gab sie zu. „Keiner. Und ja, sehr komfortabel. Es ist neben Ihrem Zimmer, genau dieselbe Sorte.“

Dann nehme ich Sechzehn, wenn Sie nichts dagegen haben“, sagte ich und ging zu den anderen zurück, wobei ich mir sehr schlau vorkam.

Als ich zu Bett ging, schloss ich meine Tür ab, und obwohl ich nicht an Gespenster glaubte, wünschte ich mir, dass Siebzehn nicht neben mir wäre, und dass es keine Tür zwischen den beiden Zimmern gäbe, obwohl sie verschlossen war und der Schlüssel auf meiner Seite steckte. Ich hatte nur eine Kerze außer den beiden auf dem Toilettentisch, die ich nicht angezündet hatte, und ich legte grade meinen Kragen und meine Krawatte ab, als mir auffiel, dass die Möbel in meinem neuen Zimmer die Möbel aus Nummer Siebzehn waren: ein französisches Bett mit roten Vorhängen, ein Mahagonischrank so groß wie ein Leichenwagen, der geschnitzte Spiegel über dem Toilettentisch zwischen den beiden Fenstern und „Das Fest des Belsazar“ über dem Kaminsims. Ich hatte also zwar nicht das Zimmer bekommen, in dem sich die Herren Kollegen die Kehle durchzuschneiden pflegten, aber ich hatte die Möbel aus diesem Zimmer. Und einen Moment lang schien mir, dass das viel schlimmer wäre als das andere. Ich dachte daran, was diese Möbel erzählen würden, wenn sie sprechen könnten...

Es war dumm von mir, aber wir sind hier alle Freunde, und es macht mir nichts aus, es zuzugeben: Ich habe unter dem Bett nachgesehen, und ich habe in den Leichenschrank geschaut, ich habe sogar in den zweiten kleineren Schrank geschaut, in dem.... etwas hätte aufrecht stehen können.“

Etwas?“ fragte ich.

Ein Mann, meine ich. Wissen Sie, mir schien, dass diese armen Kerle entweder von jemandem ermordet worden waren, der sich in Nummer Siebzehn versteckt hatte, oder dass es dort etwas gab, das sie so erschreckte, dass sie sich die Kehle durchschnitten; und bei meiner Seele, ich kann Ihnen nicht sagen, welcher Gedanke mir besser gefiel!

Er hielt inne und füllte sehr bedächtig seine Pfeife. „Na weiter!“, rief jemand. Und er fuhr fort.

Sie werden vielleicht gemerkt haben, dass alles, was ich Ihnen bis zu dem Zeitpunkt erzählt habe, an dem ich in jener Nacht zu Bett ging, nur vom Hörensagen stammt. Ich verlange also nicht, dass Sie es glauben - obwohl die drei gerichtsmedizinischen Untersuchungen ausreichen würden, um die meisten Leute zu überzeugen, würde ich sagen. Aber was ich Ihnen jetzt erzähle, ist mein Teil der Geschichte – also das, was mir selbst in diesem Zimmer passiert ist.

Er hielt wieder inne und hielt die Pfeife in der Hand, die nicht angezündet war.

Es entstand ein beklommenes Schweigen. Ich brach es.

Also, was ist passiert?“ fragte ich.

Ich hatte ein wenig mit mir selbst zu kämpfen. Ich erinnerte mich daran, dass es nicht in diesem Zimmer, sondern im nächsten passiert war. Ich rauchte ein oder zwei Pfeifen und las die Morgenzeitung. Die Anzeigen - und alles andere. Und schließlich ging ich zu Bett. Die Kerze habe ich allerdings brennen lassen, das gebe ich zu.“

Haben Sie schlafen können?“ fragte ich.

Ja. Ich habe geschlafen. Völlig ruhig. Ich wurde durch ein leises Klopfen an meiner Tür geweckt. Ich setzte mich auf. Ich glaube, ich war noch nie in meinem Leben so erschrocken. Aber ich zwang mich, im Flüsterton zu fragen: „Wer ist da?“.

Ich hatte weiß Gott nicht erwartet, dass jemand antworten würde. Die Kerze war erloschen, und es war stockdunkel. Draußen gab es ein leises Gemurmel und ein schlurfendes Geräusch. Und niemand reagierte. Hätte ich auch nicht erwartet. Aber ich räusperte mich und rief mit lauter Stimme: „Wer ist da?“.

Ich, Sir“, murmelte eine Stimme. „Rasierwasser, Sir; sechs Uhr, Sir.“

Es war das Zimmermädchen.

Eine Bewegung der Erleichterung ging durch unseren Kreis.

Ich halte nicht viel von Ihrer Geschichte“, sagte der fette Vertreter.

Sie haben sie ja auch noch nicht zu Ende gehört. Es war sechs Uhr an einem Wintermorgen und stockdunkel. Mein Zug fuhr um sieben. Ich stand auf und begann mich anzuziehen. Meine eine Kerze war nicht viel wert. Ich zündete die beiden auf dem Toilettentisch an, um mich zu rasieren. Aber - es gab kein heißes Rasierwasser vor meiner Tür! Und der Gang war so schwarz wie ein Kohlenloch! Also habe ich angefangen, mich mit kaltem Wasser zu rasieren. Das muss man manchmal, wie Sie wissen. Ich hatte mir das Gesicht rasiert und war gerade dabei, mich an den Hals unterm Kinn zu machen, als ich sah, dass sich im Spiegel etwas bewegte. Ich meine: etwas, das sich bewegte, wurde im Spiegel reflektiert. Die große Schranktür war aufgeschwungen, und in einer Art Doppelspiegelung konnte ich das französische Bett mit den roten Vorhängen sehen. Auf der Kante des Bettes saß ein Mann in Hemd und Hose - ein Mann mit schwarzem Haar und Backenbart, mit dem furchtbarsten Ausdruck von Verzweiflung und Angst auf seinem Gesicht, den ich je gesehen oder geträumt habe. Ich stand wie gelähmt und beobachtete ihn im Spiegel. Ich hätte mich nicht umdrehen können, und wenn`s um mein Leben gegangen wäre. Plötzlich lachte die Erscheinung. Es war ein schreckliches, stummes Lachen, bei dem er alle seine Zähne zeigte. Sie waren sehr weiß und gleichmäßig. Und im nächsten Moment hatte er sich vor meinen Augen die Kehle von Ohr zu Ohr durchgeschnitten. Haben Sie jemals einen Mann gesehen, der sich die Kehle durchgeschnitten hat? Das Bett war vorher ganz weiß...“

Der Erzähler hatte seine Pfeife weggelegt und fuhr sich mit der Hand über das Gesicht, bevor er fortfuhr.

Als ich mich wieder rühren konnte, tat ich es. Es war niemand im Zimmer! Das Bett war so weiß wie immer.


III.


Nun, das ist alles“, sagte er abrupt, „außer, dass ich jetzt natürlich verstand, wie diese armen Kerle zu Tode gekommen waren. Sie alle hatten diesen Schrecken gesehen - den Geist des ersten armen Kerls, nehme ich an - Bert Hatteras, wissen Sie; und unter dem Schock müssen ihnen die Hände ausgerutscht und die Kehlen durchtrennt worden sein, bevor sie innehalten konnten. Übrigens, als ich auf die Uhr sah, war es erst zwei Uhr nachts, es war also überhaupt kein Zimmermädchen da gewesen. Das muss ich geträumt haben. Aber das andere habe ich nicht geträumt. Oh! Und noch etwas. Es war natürlich dasselbe Zimmer. Sie hatten nicht die Möbel ausgetauscht, nur die Zimmernummer. Es war derselbe Raum!“

Hören Sie mal“, schnaufte der fette Mann, „das Zimmer, von dem Sie gesprochen haben... Mein Zimmer hat die Nummer Sechzehn. Und es hat dieselben Möbel wie das, das Sie beschrieben haben. Dasselbe Bild und alles.“

Ach, wirklich?“, sagte der Erzähler, dem es ein wenig unangenehm zu sein schien. „Das tut mir leid. Aber jetzt ist die Katze aus dem Sack, und es lässt sich nicht mehr ändern. Ja, es war dieses Hotel, von dem ich sprach! Ich nehme an, sie haben den Raum wieder geöffnet. Aber Sie glauben ja nicht an Geister, Ihnen wird nichts passieren.“

Genau“, grunzte der Dicke, stand auf und verließ das Zimmer.

Er ist rausgegangen, um zu fragen, ob er sein Zimmer wechseln kann. Sie werden sehen – genau das macht er jetzt!“, feixte der Mann mit dem Hasengesicht. „Kein Wunder ...“

Der fette Vertreter kam zurück und ließ sich auf seinen Stuhl fallen.

Ich könnte einen Drink gebrauchen“, ächzte er und griff nach der Klingel.

Wenn Sie gestatten, meine Herren, kann ich auch etwas Punsch vertragen“, sagte unser eleganter Geschichtenerzähler. „Ich bin ziemlich stolz auf meinen Punsch. Ich gehe an die Bar und hole, was ich dafür brauche.“

Ich dachte, er hätte gesagt, er sei Abstinenzler?“, fragte der dicke Reisende, als er gegangen war. Und dann summten unsere Stimmen wie ein Bienenschwarm. Als unser Geschichtenerzähler wieder hereinkam, drehten wir uns zu ihm um - alle sechs auf einmal - und schrien durcheinander.

Einer nach dem anderen!“, beschwichtigte er sanft. „Ich habe nicht ganz verstanden, was Sie gesagt haben.“

Wir wollen wissen“, sagte ich, „wie Sie das fertiggebracht haben wollen! Wenn der Anblick des Gespenstes all diese Kerle dazu gebracht hat, sich die Kehle durchzuschneiden, weil sie beim Rasieren erschreckt wurden - wie kam es, dass Sie sich nicht die Kehle durchtrennt haben, als Sie es gesehen haben?“

Aber das hätte ich!“, versicherte er ernst. „Ohne den geringsten Zweifel! Ich hätte mir die Kehle durchgeschnitten! Nur“, er blickte unseren dicken Freund an, „dass ich mich mit einem Rasierapparat rasiere. Ich bin Rasierapparat-Vertreter“, fügte er versonnen hinzu und schnitt eine Zitrone in zwei Hälften.

Aber – aber ... „, stotterte der fette Mann, als er sich endlich durch unser Gelächter hindurch bemerkbar machen konnte, „ich war grade draußen und habe mein Zimmer aufgegeben!“

Ja“, seufzte der elegante Mann und drückte die Zitrone aus, „und ich habe gerade meine Sachen reinbringen lassen. Es ist das beste Zimmer im Haus. Ich finde es immer lohnenswert, sich das zu sichern. Auch wenn`s manchmal ein bisschen anstrengend ist.“



E. Bland– No.17

The Strand Magazine, June 1910

Übersetzung: Matthias Käther © 2022

Laurence Kirk: Dr. Macbeth (1940)

Heute möchte man es kaum noch glauben: Die „Cosmopolitan“ war mal ein richtig gutes Literaturmagazin! Bereits im 19. Jahrhundert gegründe...