Montag, 18. November 2024

Sapper - Das Götzenauge (1930)

 

Herman C. McNeile

Das Auge des Götzen

Durchblättert man die britischen Magazine der Zwischenkriegsära, gibt es Namen, die für stabile Qualität stehen. Eine Story von P.G. Wodehouse, Arthur Conan Doyle oder Stacy Aumonier ist immer gut. Und dann sind da die „flackernden Lichter“ – Autoren, die manchmal ins Schwarze treffen und manchmal sehr daneben liegen. Der Brite Herman C. McNeile (1888-1937), der unter den Pseudonym „Sapper“ schrieb, gehört dazu. Er war ein Meister des Thrillers und Agentengarns, doch seine traumatischen Erfahrungen im Ersten Weltkrieg hatten ihn hart und bitter werden lassen. Schon zu Lebzeiten stieß sein Hass auf die Deutschen und seine chauvinistische Ader zuweilen auf Ablehnung. Umso mehr heute: Manche Erzählungen sind nur schwer zu ertragen, andere fesseln durch ihre markante, oft zynische Erzählweise. Ich hatte von jeher eine Schwäche für Horror-Geschichten mit cleverer Pointe, wie sie Roald Dahl, Robert Bloch oder John Collier geprägt haben, und so fiel mir „Das Auge des Götzen“ im eher schwachen Erzählband „The Finger of Fate“ (1930) sofort als mögliche Entdeckung für Zwielicht ins Auge. Die Story spielt originell mit einer alten Legende – dem Fluch, der auf geraubten antiken Kostbarkeiten lastet ...

I

„Also ich persönlich glaube nicht, dass an der ganzen Sache auch nur ein Fünkchen Wahrheit dran ist“, betonte Fenton stur. „Diese ganzes mysteriöse Trara wurde von hysterischen alten Frauen in die Welt gesetzt und von professionellen Schurken am Leben erhalten, die sich auf Kosten von Dummköpfen die Taschen füllen.“
Er trank seinen Portwein aus und warf einen finsteren Blick über den Tisch, als wollte er jeden dazu herausfordern, seine Behauptung anzufechten.
„Ich hatte eine schräge alte Tante“, fuhr er fort und streckte sein markantes Gesicht vor, „die vor zwei oder drei Jahren ein Haus in der Nähe von Camberley gekauft hat. Ein bewundernswertes Haus: genau das Richtige für die alte Dame. Ein spezielles Zimmer nach Süden für die Kanarienvögel und Papageien und all dieses Zeug.“ Er gönnte sich ein weiteres Glas Portwein. “Sie war noch keine zwei Wochen drin, als das Dienstpersonal kündigte. Sie wollten nicht länger in einem Haus bleiben, in dem nachts seltsame Geräusche zu hören waren und in dem der Köchin die Bettdecke weggerissen wurde. Also schrieb mir die alte Schachtel – ich regelte ihre Angelegenheiten für sie – und fragte, was sie tun solle. Ich antwortete ihr, dass ich vorbeikommen und mich um die Geräusche kümmern würde und dass jeder, der es wagte, mir die Decke wegzuziehen, sich eine schallende Ohrfeige einfangen würde.“
Fenton lachte, lehnte sich auf seinem Stuhl zurück und steckte die Hände in die Hosentaschen. „Natürlich gab es Geräusche“, fuhr er fort. „Zeigt mir ein Haus – vor allem ein altes – in dem es nachts keine Geräusche gibt. Die Treppen knarrten – das tun Treppen immer. Die Dielen in den Gängen zogen sich leicht zusammen und knackten – das tun Dielen immer. Und was die Decke der Köchin anging, so wunderte ich mich nicht, dass sie nicht auf ihr liegenblieb, nachdem ich die Frau gesehen hatte. Sie muss zwanzig Zentner gewogen haben, und nichts Geringeres als Bettlaken in Übergröße wären auf ihr ruhig liegengeblieben. Aber glaubt ihr, es hätte etwas genützt, Tantchen darauf hinzuweisen? Nicht im Leben! Alles, was sie sagte, war: „Harry, mein Junge: Es gibt gewaltige Energien in dieser Welt, von denen wir nichts wissen. Du bist vielleicht nicht in der Lage, sie zu spüren; einige von uns können es. Und in der heiligen Schrift steht geschrieben, dass sie böse sind.“
Wieder lachte Fenton grob. „Schwachsinn! Die einzige gewaltige Energie in der Umgebung war hatte ihr Makler, der das Haus in Rekordzeit neu verkaufte.“
„Sie ist also umgezogen?“, fragte Lethbridge, unser Gastgeber.
„Natürlich ist sie das“, spottete Fenton. „Und das Letzte, was ich über das Haus gehört habe, ist, dass es von einem pensionierten Lebensmittelhändler mit großer Familie bezogen wurde, die dort vollkommen glücklich ist.“ Er schlug mit der Faust auf den Tisch. “Das Ganze ist reine Einbildung. Wenn man sich am Ende einer dunklen Gasse befindet und der Mond fantastische Schatten wirft, und sich dann fest einbildet, dass gleich ein Geist um die Ecke biegt, dann biegt auch einer. Zumindest glaubt man daran. Aber das ist kein Geist. Da ist nichts, wirklich. Man könnte genauso gut sagen, dass die Kreaturen, die man in einem Traum sieht, real sind.“
„Das wirft philosophische Fragen auf, nicht wahr?“, sinnierte Mansfrey nachdenklich. Er war ein ruhiger Mann mit Brille, der sich bisher kaum am Gespräch beteiligt hatte. „Selbst wenn man davon ausgeht, dass das richtig ist, was du sagst - und ich bestreite das gar nicht! - kann man die Vorstellungskraft nicht auf die gleiche Weise abtun wie einen Traum. Es kann gut sein, dass die Hälfte der sogenannten Geister, die Menschen sehen oder hören, nur Einbildung sind: Aber die Wirkung, die sie auf die Menschen haben, ist die gleiche, als wären sie in Wirklichkeit da.“ Seine blauen Augen waren mild auf Fenton gerichtet, und er blinzelte ein- oder zweimal. „Jeder nach seiner Fasson, und nicht jeder ist so phantasielos wie du, Fenton.“
„Ich weiß nicht, ob ich phantasielos bin“, gab Fenton zurück. „Ich kann genauso trickreich agieren wie die meisten Männer, wenn es ums Geschäft geht. Aber wenn du damit sagen willst, dass ich wahrscheinlich nie einen Geist sehen werde, dann hast du recht.“ Er starrte Mansfrey an und sein Gesicht war ein wenig gerötet. Als er so da saß und sich halb über den Tisch lehnte, kam er mir wie ein ungehobeltes Tier vor. Und doch ging das Gerücht, dass er bei einer gewissen Sorte Frauen sehr beliebt war.
Mansfrey nippte an seinem Portwein, und ein leichtes Lächeln umspielte seine Lippen. Lethbridge bemerkte es und machte eine Bewegung, als wolle er zu den Damen im Salon stoßen. Denn Mansfreys Lächeln war absichtlich provokativ, und Fenton war kein angenehmer Zeitgenosse, wenn er provoziert wurde – schon gar nicht nach drei Gläsern Portwein. Seine Stimme, die zu normalen Zeiten schon laut genug war, wurde noch lauter. Der Raufbold in ihm, der nie weit unter der Oberfläche lag, kam zum Vorschein.
„Geister“, sagte Mansfrey sanft, „sind eigentlich das Unspektakulärste, das der menschliche Wille hervorbringen kann. Selbst wenn du einen sehen würdest, Fenton, würde er dich wohl kaum beunruhigen.“ Seine sanften blauen Augen waren wieder ihn gerichtet. „Geister sind nicht die faszinierendsten Phänomene, die mir zuerst einfallen würden, wenns um Übersinnliches geht.“
Fenton lachte höhnisch. „Was dann?“, fragte er. „Wenn du zwischen zwei Laternenpfählen hindurchgehst und hinterher merkst, dass es nur einen gab?“
„Ich persönlich“, antwortete Mansfrey anzüglich, „habe dieses Erfahrung noch nie gemacht.“ Lethbridge sah mich unbehaglich an, aber Mansfrey sprach wieder. „Ich dachte an die Macht des Geistes über die Materie in Bezug auf körperliche Beschwerden.“
„Guter Gott!“ spottete Fenton, „Du willst doch nicht sagen, dass du zu diesen christlichen Sektenspinnern gehörst, die an Wunderheilungen glauben?“
“Bis zu einem gewissen Grad schon“, antwortete der andere. „Wenn es möglich ist - und wir wissen durch unbestreitbare Belege, dass es möglich ist - dass ein Mensch sich absichtlich dafür entscheidet zu sterben, obwohl er kerngesund ist, und sich dann hinsetzt, um diesen Entschluss in die Tat umzusetzen ... Wenn das geht, sage ich, muss das Gegenteil doch noch viel eher möglich sein. Denn der Sterbende wendet seinen Geist gegen die Natur. Im Fall eines Menschen, der versucht, sich selbst zu heilen, handelt sein Geist im Einklang mit der Natur.“
„Die Typen, die auf diese Weise sterben, wurden immer vom Schwager eines anderen gesehen“, antwortete Fenton. „Ich glaube es erst, Mansfrey, wenn ich es selbst sehe.“
“Ich bezweifle, dass du das würdest“, entgegnete Mansfrey. „Du würdest auch noch behaupten, dass der Mann simuliert, wenn tot im Sarg liegt.“
Wieder warf ich einen Blick auf Lethbridge, unseren Gastgeber. Es schien fast so, als würde Mansfrey, der normalerweise der mildeste aller Männer war, vorsätzlich alles tun, um Fenton zu ärgern.
„Und ich nehme an“, fuhr er nach einer Pause fort, „dass du absolut nicht an das Unglück glaubst, das an bestimmten Häusern und anderen leblosen Gegenständen klebt – wie zum Beispiel am Maga-Diamanten?“
„So ist es“, donnerte Fenton. „Und wenn ich das Geld hätte, würde ich jedem, der mir das Gegenteil beweisen könnte, tausend Pfund zahlen!“ Dann lachte er. „Ich dachte, du wärst ein Wissenschaftler von gutem Ruf, Mansfrey! Eine seltsame Art von Wissenschaft, oder? Willst du mir wirklich weismachen, dass du glaubst, ein Stück Kohlenstoff wie der Maga-Diamant hätte die Macht, seinem Besitzer Unglück zu bringen?“
„Die letzten vier sind eines gewaltsamen Todes gestorben“, bemerkte Mansfrey leise.
Fenton schnaubte. „Zufall!“, schrie er. “Meine Güte, Mann, du redest wie eine hysterische Amme!“
„Gemessen an wissenschaftlichem Standard“, erwiderte Mansfrey milde, „reden viele Menschen wie hysterische Ammen. Wenn man bedenkt, wie wenig wir wissen, frage ich mich manchmal, warum selbst der klügste Mensch überhaupt spricht.“ Er begann in seiner Westentasche herumzuwühlen. “Aber wo wir gerade vom Maga-Diamanten sprechen, ich habe hier etwas, das dich interessieren könnte.“
Er holte ein kleines Ledertetui hervor und löste die Schnur, die es verschloss. Dann kippte er vor unseren erstaunten Blicken etwas auf die Tischdecke, das wie ein großer Rubin aussah. Es war ein geschliffener Stein, der im Licht leuchtete und mit tausend roten Flammen funkelte.
„Hübsches Ding, nicht wahr?“, sagte Mansfrey.
„Meine Güte!“, rief Lethbridge und beugte sich vor, “ist der echt? Wenn ja, muss er ein Vermögen wert sein. Ich kenne mich mit Edelsteinen aus, aber ich habe noch nie etwas gesehen, das dem auch nur nahekommt!“
„Glas“, lachte sein Besitzer. ‚Ein besonders schönes Stück aus rotem Glas. Nein – es ist kein historisches Juwel, das ich hier habe, Lethbridge, sondern etwas, das mit dem zu tun hat, worüber wir gesprochen haben.“ Seine sanften Augen suchten erneut Fentons Gesicht. “Dieses Stück Glas, so besagt die Legende, war ursprünglich das Auge eines Götzenbildes in einem der heiligsten Schreine in Lhasa. Die Tibeter sind, wie ihr wisst, ein sehr religiöses Volk – und dieser bestimmte Götze war anscheinend der „Joker“ unter all ihren Göttern. Ein paar junge Idioten gelangten auf einer Jagdexpedition nach Lhasa – was übrigens an sich schon eine beachtliche Leistung ist – und gaben sich nicht damit zufrieden, sondern verletzten diesen heiligsten Tempel und stahlen das Auge des Gottes.“
Fenton brach in schallendes Gelächter aus. „Prachtkerle“, rief er. „Das ist das Zeug, aus dem Helden geschnitzt sind.“
Mansfrey sah ihn ernst an. „Sie wurden von den Priestern entdeckt“, fuhr er fort, „und mussten um ihr Leben rennen. Klingt alles sehr vertraut, oder? Die gute alte historische Fabel. Sogar der Fluch kommt vor, um die Tradition zu wahren. Ich habe es natürlich nur aus fünfzehnter Hand, aber ich erzähle es so, wie ich es gehört habe. Das Ding ist harmlos, es sei denn, man lässt es eine gewisse Zeit lang in der Hand ruhen oder auf der nackten Haut eines Menschen. Wie lange, weiß ich nicht. Der Seemann, von dem ich es habe, war selbst etwas vage – alles, was er wollte, war, es so schnell wie möglich loszuwerden. Aber wenn es (so geht das Gerücht) für diesen bestimmten Zeitraum in der Hand eines Mannes bleibt oder irgendwo an seinem Körper – dann stirbt der Mann."
Fenton schüttelte sich vor Vergnügen. „Und glaubst du diesen Unsinn?“, fragte er.
„Ich weiß nicht“, sagte Mansfrey langsam. „Es gibt ein oder zwei sehr seltsame Geschichten darüber.“ Er stieß mit dem Finger leicht gegen das Glas, und die rubinroten Lichter flackerten und tanzten, als stünde das Ding in Flammen. “Ein dänischer Seemann stahl es dem Kerl, der es mir verkaufte. Mit wenig Erfolg. Er war ein enorm kräftiger, gesunder Bursche, aber am nächsten Morgen wurde er tot aufgefunden, mit dem Ding unter seinem Hemd. Mein Seemannsfreund erfuhr es von einem Chinesen in Chefoo. Der Assistent des Chinesen hatte es kürzlich aus dem Laden seines Herrn gestohlen. Er wurde tot aufgefunden, das Ding noch in der Hand, und der Chinese hatte Angst.“ Mansfrey lächelte und steckte das Stück Glas wieder in seine Tasche. “Nur zwei von vielen Geschichten, aber sie sind alle gleich. Jeder, der das hier in der Hand hält oder es zu lange bei sich hat, stirbt. Und er stirbt allem Anschein nach eines natürlichen Todes.“
„Und du glaubst wirklich an diesen Unsinn?“, schnaubte Fenton erneut, noch aggressiver als zuvor.
Mansfrey zuckte mit den Schultern. „Ich weiß nicht, ob ja oder nein“, antwortete er. „Ich selbst habe das Ding gründlich untersucht; und soweit ich das beurteilen kann, ist es nur ein Stück gewöhnliches rotes Glas, aber...“ Erneut zuckte er mit den Schultern und steckte das Lederetui wieder in seine Tasche.
„Willst du damit sagen, dass du zu ängstlich warst, das Ding in der Hand zu halten und zu beweisen, dass alles Schwindel ist?“, rief Fenton. Er wandte sich an Lethbridge. „Also, ich bin sprachlos! Und das im zwanzigsten Jahrhundert. Wirf den Klunker hierher, Mansfrey. Ich werde heute Nacht mit ihm in der Hand schlafen und dir das Ding morgen beim Frühstück zurückgeben.“
Aber Mansfrey schüttelte den Kopf. „Oh nein, Fenton“, versicherte er, „ganz sicher nicht. Wenn irgendetwas passieren würde, das könnte ich mir nie verzeihen.“
Die Ablehnung machte Fenton nur entschlossener als je zuvor - und noch unverschämter. Ich persönlich war überrascht, dass Mansfrey so etwas mit sich herumtrug – das passte überhaupt nicht zu dem, was ich über den Mann wusste; aber noch mehr überraschte mich seine Weigerung, Fenton das Stück zu überlassen. Es war absurd, dass er wirklich glauben konnte, es bestehe irgendeine Gefahr, wenn man ein Stück farbiges Glas in der Hand hält, und dennoch blieb er fünf oder zehn Minuten lang stur.
Dann gab er plötzlich nach. „Na gut, Fenton“, seufzte er, „du sollst es haben. Aber sag nicht, ich hätte dich nicht gewarnt.“
Fenton lachte. „Wenn ich deinen absurden Geschichten Glauben schenken würde und das Ganze stimmt, wäre ich wohl kaum in der Lage, noch viel zu sagen. Aber in diesem Fall wird mein Geist dich heimsuchen, Mansfrey. Ich werde deine Bettdecke wegziehen und mit Ketten in den Gängen klirren.“
Wir lachten alle, und kurz darauf stand Lethbridge auf. Als er zur Tür kam, hielt er inne und sah uns zweifelnd an. „Natürlich ist das alles Quatsch und nur ein Scherz – aber ich denke, wir müssen es unsern Frauen nicht unbedingt auf die Nase binden, bis Fenton es morgen beim Frühstück zurückgibt. Meine Frau ist sowieso hypernervös, wisst ihr. Wahrscheinlich kommt sie jede halbe Stunde in dein Zimmer gerannt, Fenton, um zu sehen, ob du noch schnarchst.“
Fenton stieß einen seiner üblichen Brülllaute aus, und ein paar Minuten später waren wir alle ins Bridge-Spiel vertieft.
II

Es war Fenton selbst, der darauf bestand, dass seine Hand mit einem Taschentuch umwunden wurde. Wir vier standen in seinem Zimmer und unterhielten uns, bevor wir uns hinlegten. Tatsächlich war Mansfrey bereits legerer gekleidet und hatte seine Weste abgelegt.
„Bring dein verdammtes Glasstück her, mein Junge“, donnerte Fenton jovial, „und leg es genau dort hin.“ Er streckte eine Hand aus, die so dick wie eine Lammkeule war. „Dann schließe ich meine Faust, und danach bindest du meine Hand mit einem Taschentuch fest, damit ich sie nachts nicht öffnen kann.“
Aber das Götzenauge erschien nicht gleich. „Ich sage dir ganz offen, Fenton“, grollte Mansfrey, „ich würde mich wohler fühlen, wenn wir das nicht durchziehen würden. Ich glaube selbst nicht, dass da etwas dran ist, aber irgendwie ...“ Seine Augen hinter der Brille blinzelten rasch; er wirkte wie die Inkarnation verängstigter Unentschlossenheit.
Fenton lachte und klopfte ihm auf die Schulter. Von Fenton auf die Schulter geklopft zu werden, ist in etwa so, als würde man von einem Maultier getreten werden. Ich habe Erfahrung mit beidem gemacht und kann das beurteilen.
„Kleiner Spaßvogel!“, dröhnte er und war im Begriff, es noch einmal zu tun, so daß Mansfrey sich diskret außer Reichweite begab. „Spaßvogel – blinzelst wie eine aufgeschreckte Eule. Weißt du, Lethbridge, ich glaube wirklich, dass er denkt, mit diesem gesegneten alten Glasauge aus Lhasa stimmt etwas nicht. Gib her, du Idiot‘, sagte er zu Mansfrey. „Ich werds dir zeigen.“ Zu sagen, dass Fentons Sprache schwerfällig war, wäre sicher übertrieben, aber als ich auf der Kante seines Garderobentischchens saß und eine Zigarette rauchte, fiel mir wieder ein, dass Lethbridge und ich zwar beide einen Whisky mit Soda während des Abends getrunken hatten (Mansfrey übrigens nur Mineralwasser), Fentons Portweinflasche aber fast leer war, als wir zu Bett gingen. Fenton war weiß Gott einem Zustand, in dem es für alle Beteiligten besser war, ihn nicht zu reizen.
Anscheinend hatte Lethbridge die gleiche Befürchtung, denn er wandte sich Mansfrey zu und nickte mit dem Kopf. „Gib ihm das Ding, alter Junge, und lass uns ins Bett gehen. Ich bin hundemüde.“
„Na gut“, antwortete Mansfrey. „Ich hole es. Es ist in meiner Westentasche.“
Langsam, fast widerwillig, verließ er den Raum und ging den Flur entlang zu seinem eigenen. Während wir warteten, zog Fenton seinen Schlafanzug an, und als Mansfrey zurückkam, lag er bereits im Bett.
„Hier ist es“, grollte Mansfrey und holte das kleine Etui heraus. „Aber ich wünschte, du würdest das nicht tun, Fenton.“
„Ach! Zum Teufel mit deinen Wünschen“, rief Fenton gereizt und streckte seine Hand aus. „Leg es dort hin, Kleiner, leg es dort hin.“
Das Stück Glas glitt aus dem Etui und lag einen Moment lang scharlachrot glitzernd in Fentons riesiger Handfläche. Dann schlossen sich seine Finger darum, und Lethbridge band ein Taschentuch um seine Faust.
„Ich gebe es dir beim Frühstück zurück, Mansfrey“, murmelte er und drehte sich auf die Seite. „Und du kannst dich schon mal drauf einstellen, gegrillt zu werden, mein Junge, richtig gegrillt. Gute Nacht, Jungs! Macht mal bitte einer von euch das Licht aus, wenn ihr geht.“
Ich schloss die Tür hinter mir und schlenderte in mein eigenes Zimmer. Es lag neben Mansfreys, und ich blieb einen Moment stehen, um mit ihm zu reden.
„Ein Teufelskerl, dieser Bursche!“
Er antwortete nicht sofort, und ich warf ihm einen Blick zu. Er stand ganz still da, seine blassblauen Augen auf Fentons Zimmer gerichtet, aus dem ich bereits animalisches Schnarchen zu hören glaubte.
„Teufel ist keine schlechte Beschreibung für ihn“, antwortete er nachdenklich. “Wirklich nicht schlecht. Gute Nacht.“
Er betrat sein Zimmer und schloss die Tür. Erst als ich mein Licht ausschaltete, fiel mir auf, dass Mansfrey nicht ein einziges Mal geblinzelt hatte, während wir vor Fentons Tür standen. Und Blinzeln war eine chronische Manie bei ihm.
Ich schien nur ein paar Minuten geschlafen zu haben, als ich geweckt wurde, weil jemand das Licht einschaltete. Lethbridge stand an meinem Bett und sah blass und erschüttert aus.
„Mein Gott!“, stöhnte er, als ich blinzelnd zu ihm aufsah. „Er ist tot!“
„Wer ist tot?“, rief ich törichterweise und setzte mich im Bett auf.
„Na, Fenton!“, antwortete er, und mir fiel alles wieder ein.
„Fenton tot?!“ Entsetzt schaute ich ihn an. „Unmöglich, Mann! Das muss ein Irrtum sein.‘
“Gott sei seiner Seele gnädig!“, antwortete er heiser. „Mansfrey ist jetzt bei ihm – und dreht bald durch.“
Ich griff nach meinem Morgenmantel und warf einen Blick auf die Uhr. Es war gerade halb fünf.
„Ich werde mir das nie verzeihen“, fuhr er fort, während ich nach meinen Hausschuhen suchte. „Diese blöde Geschichte von Mansfrey hat mich irgendwie beeindruckt, und ich konnte nicht schlafen. Nach einer Weile bin ich aus dem Bett gestiegen und in Fentons Zimmer gegangen. Ich habe draußen gelauscht, und du weißt ja, wie laut er zu schnarchen pflegte. Es war kein Laut zu hören: absolute Stille.“ Er wischte sich mit zitternder Hand über die Stirn. „Keine Ahnung – ich wurde unruhig. Ich öffnete die Tür und ging hinein. Immer noch kein Laut. Dann schaltete ich das Licht ein.“ Lethbridge schauderte. „Da lag er, absolut regungslos im Bett. Ich ging zu ihm hinüber und legte meine Hand auf sein Herz. Kein Lebenszeichen. Er war tot.“
Ich starrte ihn sprachlos an, dann gingen wir gemeinsam zu Fentons Zimmer. Die Tür stand einen Spalt weit offen, und als wir sie aufstießen, drehte Mansfrey, der neben dem Toten stand, sein weißes, verstörtes Gesicht zu uns.
„Keine Spur von Leben“, flüsterte er. „Keine Spur.“ Er fuhr sich mit den Händen durch die Haare und blinzelte uns verzweifelt an. „Was für ein Narr ich war, was für ein absoluter Schwachkopf, ihm dieses Ding zu zeigen.“
„Ach, Unsinn, Mann“, fuhr Lethbridge in grob an. “Es kann nicht an diesem armseligen Stück rotem Glas gelegen haben. Er ist jetzt tot, der arme Kerl, aber er war ein schwerer Trinker, und es lässt sich nicht leugnen, dass er letzte Nacht zu viel intus hatte. Wahrscheinlich Herzversagen.“
Aber Mansfrey schüttelte nur den Kopf und starrte kläglich aus dem Fenster, wo sich die ersten schwachen Streifen der Morgendämmerung am Himmel zeigten.
„Die Frage ist, was wir jetzt machen sollen“, fragte sich Lethbridge. Er hob Fentons Hand mit dem Auge des Götzen darin hoch und ließ sie dann mit einem Schaudern wieder fallen.
„Ruf sofort einen Arzt!“, schrie Mansfrey. „Er ist tot, aber wir müssen einen holen.“
„Ja“, bestätigte Lethbridge langsam, „ich nehme an, das müssen wir. Äh – das Einzige ist – ähm…“ er blickte verlegen von Mansfrey zu mir, “dieses – äh – Stück Glas. Du weißt ja, wie die Leute hier sind und was alles so geredet wird. Ich meine, es wird ziemlich schwierig sein, zu erklären, dass der arme Kerl tot aufgefunden wurde, mit diesem Klunker in der Hand, so festgebunden. Die Zeitungen werden davon Wind bekommen, und es werden eine Menge verdammter Reporter um uns herumschwirren, die versuchen, eine Story draus zu stricken.“
Mansfrey blinzelte ihn schweigend an. „Du schlägst vor“, fragte er schließlich, „dass wir es ihm aus der Hand nehmen sollten?“
„Genau das!“, versicherte Lethbridge eifrig. “Schließlich ist der arme Kerl tot, und wir müssen an die Lebenden denken. Es ist schlimm genug, überhaupt einen Toten im Haus zu haben. Es wäre schrecklich, wenn daraus ein neuntägiges Zeitungswunder würde. Ich meine, es ist ja nicht so, dass es irgendeine Art von Zweifel gäbe!“, er warf Mansfrey einen entschuldigenden Blick zu, “wir sind alle gleichermaßen betroffen, und es kann sich hier nur um einen sehr seltsamen und grausamen Zufall handeln. Was meinst du, Mayhew?“
„Ich stimme zu“, antwortete ich. Zu dieser Zeit war ich in ein wichtiges Geschäft verwickelt und wollte auf keinen Fall, dass die Zeitungen über mich berichteten – selbst wenn ich nur am Rande erwähnt wurde. „Ich schlage vor, dass wir den Stein entfernen und ihn sofort zerstören, indem wir ihn in Stücke zerschlagen und die Teile in den Teich werfen.“
Lethbridge seufzte erleichtert auf und begann, das Taschentuch zu lösen. „Einen Moment“, unterbrach Mansfrey, „bei allem Respekt für eure beiden Interessen - mein Fall ist nicht ganz derselbe wie eurer. Wir sind durchaus nicht alle gleichermaßen betroffen. Das Ding gehört mir: Ich habe es ihm gegeben.“ Er blinzelte uns entschuldigend zu. „Ich muss an die kommenden Jahre denken, in denen ihr eure aktuelle Verlegenheit vergessen haben und euch beide – quasi unbewusst – fragen werdet: War es wirklich Zufall?“ Er brachte unsere sofortigen Proteste mit einem Lächeln zum Verstummen. „Die Möglichkeit besteht“, versicherte er uns, “und ich möchte das nicht riskieren. Und so werde ich eurem Vorschlag nur unter einer Bedingung zustimmen: nämlich dass einer von euch das Ding einem guten analytischen Chemiker schickt und es testen lässt. Ich weiß, dass es Glas ist; ich möchte, dass Ihr es auch wisst.“
„Na schön“, gab Lethbridge nach, der bereitwillig alles versprochen hätte, solange er nur das Glasauge entfernen durfte. „Ich verstehe deinen Standpunkt, Mansfrey.‘ Er war damit beschäftigt, den Knoten im Taschentuch zu lösen. “Vielleicht nimmt Mayhew es morgen mit in die Stadt, wenn er geht.“
Schließlich wurde das Taschentuch entfernt, und mit deutlichem Widerwillen bog Lethbridge die Finger zurück. Dort lag das Glas, ein wenig getrübt durch die Feuchtigkeit der Hand des Toten – aber immer noch funkelnd in seinem teuflischen roten Licht. Dann plötzlich entspannte sich der Arm und das Auge des Götzen rollte auf den Teppich.
„Mein Gott!“, krächzte Lethbridge heiser, „steck das abscheuliche Ding weg, Mansfrey, und lass uns einen Arzt rufen ...“
“Meine Tasche steht drüben auf meinem Tisch“, antwortete er. „Ich werd es hineinlegen.“ Mit seinem Taschentuch hob er das Auge auf und trug es weg.
Lethbridge wandte sich mir zu. „Ich trinke nicht oft zu dieser Zeit am frühen Morgen“, sagte er, „aber wenn ich den Arzt gerufen habe, werde ich eine Flasche Brandy öffnen. Ich kanns weiß Gott gebrauchen.“
Wir legten Fentons Kleidungstücke zusammen, und mit einem letzten Blick auf den großen Körper, der regungslos auf dem Bett lag, gingen wir leise hinaus und schlossen die Tür hinter uns ab.
Eine Stunde später kam der Arzt und untersuchte den Toten. Zu diesem Zeitpunkt wusste natürlich das ganze Haus Bescheid, und an Schlaf war nicht mehr zu denken. Die Frauen hatten sich in Mrs. Lethbridges Zimmer versammelt, und wir drei Männer warteten unten auf den Arzt. Er kam nach kurzer Zeit aus dem Zimmer des Toten und gönnte sich eine Tasse Tee.
„Es könnte notwendig sein“, sagte er, „eine Obduktion durchzuführen. Sie sagen, dass er gestern Abend vollkommen gesund war?“
„Vollkommen“ , bestätigte Lethbridge.
„Verzeihen Sie mir die Frage“, fuhr der Arzt fort, „aber hat er viel getrunken?‘
„Er war schon immer ein starker Trinker und Esser“, antwortete Lethbridge, und sowohl Mansfrey als auch ich nickten zustimmend.
„Das hätte ich mir denken können“, kommentierte der Arzt. “Ich habe keinen Zweifel daran, dass er, obwohl er wie ein starker, gesunder Mann aussah, innerlich ziemlich zerfressen war. Selbstzerstörung durch übermäßigen Genuss, wissen Sie. Er war im Grunde der Typ, der später im Leben irgendwann einen Anfall bekommt wird. Das ist für Sie sehr unangenehm, Mr. Lethbridge. Ich werde alles tun, um Ihnen unnötige Unannehmlichkeiten zu ersparen. Aber ich fürchte, wir müssen eine Obduktion durchführen. Sehen Sie, es gibt keine offensichtliche Todesursache.“
Lethbridge begleitete ihn zur Tür, und kurz darauf hörten wir sein Auto wegfahren.
„Dem Himmel sei Dank“, seufzte Lethbridge, als er wieder ins Zimmer kam, „dass wir ihm das Glasding aus der Hand genommen haben! Und dass wir es den Frauen gestern Abend nicht gesagt haben.“ Er setzte sich und wischte sich den Scheiß von der Stirn. „Schenk mir noch einen Brandy ein, Mansfrey, ich brauche noch einen.“
So endete die tragische Party. Um neun Uhr machte ich mich auf den Weg in die Stadt, mit dem Auge des Götzen in meiner Tasche. Ich brachte es zu einem Drogisten und bat ihn, es allen Tests zu unterziehen, die er für sinnvoll hielt, und mir zu sagen, was es war. Später am Abend ging ich zu ihm, und er reichte es mir über den Ladentisch zurück.
„Soweit ich das beurteilen kann, Sir“, bemerkte er, „ist es einfach ein Stück gewöhnliches rotes Glas, das nicht den geringsten Wert hat, abgesehen von seiner etwas eigenartigen Form.“
Ich dankte ihm und nahm es mit nach Hause. Am nächsten Tag gab ich es Mansfrey mit einer kurzen Notiz zurück, die den Bericht des Drogisten und den Vorschlag enthielt, er solle es in die Themse werfen.
Lethbridge schickte mir einen Ausschnitt aus der Lokalzeitung, in dem über die Untersuchung und das Ergebnis der Obduktion berichtet wurde.
„Tod durch natürliche Ursache“, lautete das Urteil; und allmählich, und ganz davon in Abspruch genommen, mein Unternehmen wieder aufzubauen, das während des Krieges stark gelitten hatte, verlor ich die Angelegenheit aus den Augen. Gelegentlich kam mir der seltsame Abend wieder in den Sinn und verstörte mich - mitunter fragte ich mich, ob in diesem roten Glas tatsächlich eine tödliche Kraft steckte - ob in einem weit entfernten tibetischen Tempel seltsame Priester, die ihre unheimlichen Riten um ein blindes Götzenbild herum vollzogen, auf mysteriöse Weise die Rache ihres Gottes verübt hatten. Dann lachte ich über meine Albernheit und erinnerte mich an die Worte des Arztes, nachdem er Fenton kurz untersucht hatte: „Sie werden feststellen, dass er innerlich ziemlich zerfressen war.“

III


Und so hätte ich die Angelegenheit endgültig zu den Akten gelegt, und sie wäre vollständig in Vergessenheit geraten, wenn nicht eine seltsame Laune des Schicksals es verhindert hätte. Und jetzt… das Schlimme ist: ich weiß nicht, was ich tun soll ...
Vor zwei Tagen bin ich zufällig an Jones' Kuriositätengeschäft gleich neben der Strand-Passage vorbeigekommen. Hin und wieder habe ich dort wirklich schöne Sachen gefunden; ich schaue öfter mal rein, um ein Schnäppchen zu machen.
„Ich habe genau das Richtige für Sie, Mr. Mayhew“, erklärte der Besitzer, als er mich sah. „Ein paar alte Dinge aus Sheffield. Warten Sie, ich hole sie.“
Er verschwand im hinteren Teil des Ladens und ließ mich allein. Ich schlenderte herum und schaute mir seine Sachen an. In einer Ecke fand ich einen besonders hässlichen geschnitzten Tisch, der auf drei klapprigen Beinen stand. Normalerweise hätte ich mich nur geschüttelt und wäre weitergegangen, aber irgendetwas brachte mich dazu, stehen zu bleiben und ihn mir genauer anzusehen. Sein stolzer Designer hatte, vermutlich um ihn den letzten Schliff zu geben, vier Löcher in die Tischplatte geschnitten und dort vier Stücke farbigen Glases eingesetzt – gelb, blau, grün und rot. Mechanisch berührte ich sie, und zu meiner Überraschung stellte ich fest, dass das rote lose war. Ich bewegte es eine Weile mechanisch hin und her und nahm es schließlich heraus.
Eine Minute später bemerkte Jones, dass ich benommen auf etwas in meiner Hand starrte, das selbst im schwachen Licht des Ladens wie ein riesiger Rubin leuchtete und funkelte.
„Hier sind die beiden Teller, Mr. Mayhew“, bemerkte er. Dann sah er, was ich in der Hand hielt, und warf einen Blick auf den Tisch. „Machen Sie sich darüber keine Sorgen. Das ist schon lose, seit ich ihn habe. Ich muss es irgendwann mal einkleben.‘
„Sagen Sie, Mr. Jones“, ich bemühte mich, ganz ruhig zu sprechen, „woher haben Sie das?“
„Was – den Tisch? Ein Mr. Mansfrey hat mich vor Monaten gebeten, ihn für ihn zu verkaufen: Sie wissen schon, der Gentleman, der gerade dieses Buch über Gifte geschrieben hat. Nicht, dass ich da viel für ihn rausholen werde - es ist ein abscheuliches Teil, finde ich.“
Tausend wilde Gedanken schossen mir durch den Kopf, als ich dort stand und der Händler mich neugierig beobachtete. Wenn dieses Stück rotes Glas von einem Tisch stammte, hatte es nie das Gesicht eines Götzen in Tibet geschmückt. Und da es tatsächlich von einem Tisch stammte, war klar, dass Mansfrey gelogen hatte. Aber warum?
„Ich nehme diesen Tisch!“, sagte ich zu dem verblüfften Händler. „Ich gebe Ihnen fünf Pfund dafür. Schicken Sie ihn sofort an meine Adresse.“
„Soll ich das rote Ding einkleben, Sir?“ fragte er.
„Nein“, antwortete ich, „das nehme ich gleich mit.“
Ich verließ den Laden und trat auf die Straße. Warum hatte Mansfrey sich die Mühe gemacht, diese lange Lügengeschichte zu erfinden? Warum? Diese Frage ging mir unaufhörlich durch den Kopf. Warum sollte ein Autor, der über Gifte schrieb, und ein fähiger, kluger Mann – ich hatte von Mansfreys neuem Buch gehört – sich die Mühe machen, einen ganzen Abend lang ununterbrochen zu lügen, es sei denn, er verfolgte ein bestimmtes Ziel?
Ich ging in meinen Club und setzte mich, um zu versuchen, die Dinge zu durchschauen. Und je mehr ich darüber nachdachte, desto weniger gefiel mir das Ganze.
Schließlich stand ich auf, ging zu einem Tisch und schrieb eine Nachricht an Mansfrey, in der ich ihn bat, mich in meiner Wohnung zu besuchen. Er kam gestern Abend – und wie ich bereits sagte, weiß ich nicht, was ich tun soll ...
Direkt vor ihm, als er den Raum betrat, hatte ich den Tisch platziert. Das Loch für das rote Glas war leer, das Stück selbst befand sich gut sichtbar auf meinem Kaminsims. Er blieb abrupt stehen und starrte auf den kleinen Tisch: dann drehte er sich um, und das leuchtend rote Ding vor der Uhr fiel ihm ins Auge. Er sah mich an, blinzelte gelassen und hatte ein schwaches Lächeln im Gesicht.
„Ich wusste nicht, dass du Jones Laden kennst!“, sagte er, ließ sich in einen Sessel sinken und zündete sich eine Zigarette an.
„Ich hätte gerne eine Erklärung, Mansfrey!“, bemerkte ich streng.
„Was denn? Fentons Tod? Mein lieber Freund – das war doch von Anfang an offensichtlich. Ich habe ihn getötet.“ Er blinzelte mich immer noch mit seinen milden blauen Augen an.
„Du hast ihn getötet!?“, schrie ich fast.
„Nur ruhig!“ Er hob eine abwehrende Hand. „Nicht so laut, bitte. Natürlich habe ich ihn getötet, wie ich es schon lange vorhatte. Er gehörte zu der Sorte Aas, die es nicht verdient, zu leben. Er hat meine Schwester - ins Unglück gestürzt!“ Für einen Moment lang hörte er auf zu blinzeln, dann fuhr er ganz ruhig fort: “Aber warum sollte ich dich mit meiner persönlichen Geschichte langweilen? Gibt es noch etwas, das du wissen möchtest?“
„Eine Menge!“, rief ich. „Natürlich ist das ein wichtiger mildernder Umstand, und zweifellos war Fenton ein Schurke, wenn er so etwas getan hat – aber das ist keine Entschuldigung für Mord, Mansfrey!“
„Da bin ich ganz anderer Meinung“, erwiderte er sanft. „Das Gesetz hätte mir keine Genugtuung verschafft, also musste ich mir selbst helfen.“
„Natürlich“, meldete ich nach einer Pause zu Wort, „werde ich Scotland Yard informieren müssen. Ich meine, ich kann so etwas unmöglich dulden!“
Er lächelte friedlich und schüttelte den Kopf.
„Das würde ich schön bleiben lassen, wenn ich du wäre“, murmelte er. „Wer war es, der Fenton anflehte, das Auge der Statue nicht in die Hand zu nehmen –?“ Er warf einen Blick auf das Glas auf dem Kaminsims. „Es hatte eine verblüffende Ähnlichkeit mit dem Ding, das du da stehen hast, fällt mir jetzt auf. Aber wer hat dagegen argumentiert? Ich natürlich. Und wer hat mich überstimmt? Nun – weder du noch Lethbridge habt mich unterstützt. Wer hat vorgeschlagen, es zu entfernen, bevor der Arzt kam? Ich glaube, ich liege richtig, wenn ich sage, dass es Lethbridge war. Wer bestand auf einer chemischen Analyse? Ich. Wer hat sie durchführen lassen? Du, und ich habe den Bericht des Drogisten in meinem Schreibtisch. Was hat die Untersuchung des Gerichtsmediziners ergeben? Natürlicher Tod. Keine Spur von Gift.“ Er blinzelte gelassen. “Oh nein, mein Freund, ich glaube nicht, daß du zu Scotland Yard rennst. In dem äußerst unwahrscheinlichen Fall, dass diese erlauchte Behörde dich nicht für verrückt hält, würdest du und Lethbridge unweigerlich als meine Komplizen in dieser Angelegenheit angesehen werden. Siehst du, du hast dich in aller Unschuld sehr ungeschickt kompromittiert – sehr ungeschickt, wirklich!“ Er stand auf, um zu gehen.
„Wie hast du ihn getötet?“, fragte ich.
„Mit einem seltenen und wenig bekannten Gift“, antwortete er. „In meinem neuen Buch findest du etwas darüber. Wahrscheinlich das gefährlichste der Welt, denn es hinterlässt keine Spuren. Es tötet durch eine Lähmung, die zu Herzversagen führt. Ich habe das Glas – äh – ich meine das Auge des Götzen, das diesem Stück Glas dort so ähnlich sieht – in eine Lösung des Giftes getaucht, bevor ich es ihm in die Hand gegeben habe. Am nächsten Morgen habe ich es dann in eine andere Lösung getaucht. Ihr habt es mir liebenswürdigerweise für einige Stunden überlassen – eine Minute hätte gereicht. Anhand meiner Tierversuche würde ich schätzen, dass er etwa innerhalb einer halben Stunde gestorben ist. Äh – gute Nacht.“
Die Tür schloss sich hinter ihm, und ich starrte auf die roten Glaskugel, die im Licht glitzerte. Dann schleuderte ich sie in einem Wutanfall zum Fenster hinaus auf die Straße. Sie zerbrach in tausend Scherben und Mansfrey, der gerade die Eingangstür verlassen hatte, blickte auf und lächelte. „Gute Nacht!“, rief er, und ich konnte mir vorstellen, wie seine blauen Augen mild blinzelten.
Und das Schlimme daran ist - wie ich bereits erwähnt habe – ich weiß nicht, was ich jetzt machen soll ...



Herman C. McNeile – The Idol’s Eye

Aus der Sammlung „The Finger of Fate“ (1930)

Übersetzung © Matthias Käther 2024

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