Herman C. McNeile
Das Auge des Götzen
Durchblättert man die britischen Magazine der Zwischenkriegsära, gibt es Namen, die für stabile Qualität stehen. Eine Story von P.G. Wodehouse, Arthur Conan Doyle oder Stacy Aumonier ist immer gut. Und dann sind da die „flackernden Lichter“ – Autoren, die manchmal ins Schwarze treffen und manchmal sehr daneben liegen. Der Brite Herman C. McNeile (1888-1937), der unter den Pseudonym „Sapper“ schrieb, gehört dazu. Er war ein Meister des Thrillers und Agentengarns, doch seine traumatischen Erfahrungen im Ersten Weltkrieg hatten ihn hart und bitter werden lassen. Schon zu Lebzeiten stieß sein Hass auf die Deutschen und seine chauvinistische Ader zuweilen auf Ablehnung. Umso mehr heute: Manche Erzählungen sind nur schwer zu ertragen, andere fesseln durch ihre markante, oft zynische Erzählweise. Ich hatte von jeher eine Schwäche für Horror-Geschichten mit cleverer Pointe, wie sie Roald Dahl, Robert Bloch oder John Collier geprägt haben, und so fiel mir „Das Auge des Götzen“ im eher schwachen Erzählband „The Finger of Fate“ (1930) sofort als mögliche Entdeckung für Zwielicht ins Auge. Die Story spielt originell mit einer alten Legende – dem Fluch, der auf geraubten antiken Kostbarkeiten lastet ...
I
„Also ich
persönlich glaube nicht, dass an der ganzen Sache auch nur ein
Fünkchen Wahrheit dran ist“, betonte Fenton stur. „Diese ganzes
mysteriöse Trara wurde von hysterischen alten Frauen in die Welt
gesetzt und von professionellen Schurken am Leben erhalten, die sich
auf Kosten von Dummköpfen die Taschen füllen.“
Er trank
seinen Portwein aus und warf einen finsteren Blick über den Tisch,
als wollte er jeden dazu herausfordern, seine Behauptung
anzufechten.
„Ich hatte eine schräge alte Tante“, fuhr er
fort und streckte sein markantes Gesicht vor, „die vor zwei oder
drei Jahren ein Haus in der Nähe von Camberley gekauft hat. Ein
bewundernswertes Haus: genau das Richtige für die alte Dame. Ein
spezielles Zimmer nach Süden für die Kanarienvögel und Papageien
und all dieses Zeug.“ Er gönnte sich ein weiteres Glas Portwein.
“Sie war noch keine zwei Wochen drin, als das Dienstpersonal
kündigte. Sie wollten nicht länger in einem Haus bleiben, in dem
nachts seltsame Geräusche zu hören waren und in dem der Köchin die
Bettdecke weggerissen wurde. Also schrieb mir die alte Schachtel –
ich regelte ihre Angelegenheiten für sie – und fragte, was sie tun
solle. Ich antwortete ihr, dass ich vorbeikommen und mich um die
Geräusche kümmern würde und dass jeder, der es wagte, mir die
Decke wegzuziehen, sich eine schallende Ohrfeige einfangen
würde.“
Fenton lachte, lehnte sich auf seinem Stuhl zurück
und steckte die Hände in die Hosentaschen. „Natürlich gab es
Geräusche“, fuhr er fort. „Zeigt mir ein Haus – vor allem ein
altes – in dem es nachts keine Geräusche gibt. Die Treppen
knarrten – das tun Treppen immer. Die Dielen in den Gängen zogen
sich leicht zusammen und knackten – das tun Dielen immer. Und was
die Decke der Köchin anging, so wunderte ich mich nicht, dass sie
nicht auf ihr liegenblieb, nachdem ich die Frau gesehen hatte. Sie
muss zwanzig Zentner gewogen haben, und nichts Geringeres als
Bettlaken in Übergröße wären auf ihr ruhig liegengeblieben. Aber
glaubt ihr, es hätte etwas genützt, Tantchen darauf hinzuweisen?
Nicht im Leben! Alles, was sie sagte, war: „Harry, mein Junge: Es
gibt gewaltige Energien in dieser Welt, von denen wir nichts wissen.
Du bist vielleicht nicht in der Lage, sie zu spüren; einige von uns
können es. Und in der heiligen Schrift steht geschrieben, dass sie
böse sind.“
Wieder lachte Fenton grob. „Schwachsinn! Die
einzige gewaltige Energie in der Umgebung war hatte ihr Makler, der
das Haus in Rekordzeit neu verkaufte.“
„Sie ist also
umgezogen?“, fragte Lethbridge, unser Gastgeber.
„Natürlich
ist sie das“, spottete Fenton. „Und das Letzte, was ich über das
Haus gehört habe, ist, dass es von einem pensionierten
Lebensmittelhändler mit großer Familie bezogen wurde, die dort
vollkommen glücklich ist.“ Er schlug mit der Faust auf den Tisch.
“Das Ganze ist reine Einbildung. Wenn man sich am Ende einer
dunklen Gasse befindet und der Mond fantastische Schatten wirft, und
sich dann fest einbildet, dass gleich ein Geist um die Ecke biegt,
dann biegt auch einer. Zumindest glaubt man daran. Aber das ist kein
Geist. Da ist nichts, wirklich. Man könnte genauso gut sagen, dass
die Kreaturen, die man in einem Traum sieht, real sind.“
„Das
wirft philosophische Fragen auf, nicht wahr?“, sinnierte Mansfrey
nachdenklich. Er war ein ruhiger Mann mit Brille, der sich bisher
kaum am Gespräch beteiligt hatte. „Selbst wenn man davon ausgeht,
dass das richtig ist, was du sagst - und ich bestreite das gar nicht!
- kann man die Vorstellungskraft nicht auf die gleiche Weise abtun
wie einen Traum. Es kann gut sein, dass die Hälfte der sogenannten
Geister, die Menschen sehen oder hören, nur Einbildung sind: Aber
die Wirkung, die sie auf die Menschen haben, ist die gleiche, als
wären sie in Wirklichkeit da.“ Seine blauen Augen waren mild auf
Fenton gerichtet, und er blinzelte ein- oder zweimal. „Jeder nach
seiner Fasson, und nicht jeder ist so phantasielos wie du,
Fenton.“
„Ich weiß nicht, ob ich phantasielos bin“, gab
Fenton zurück. „Ich kann genauso trickreich agieren wie die
meisten Männer, wenn es ums Geschäft geht. Aber wenn du damit sagen
willst, dass ich wahrscheinlich nie einen Geist sehen werde, dann
hast du recht.“ Er starrte Mansfrey an und sein Gesicht war ein
wenig gerötet. Als er so da saß und sich halb über den Tisch
lehnte, kam er mir wie ein ungehobeltes Tier vor. Und doch ging das
Gerücht, dass er bei einer gewissen Sorte Frauen sehr beliebt
war.
Mansfrey nippte an seinem Portwein, und ein leichtes
Lächeln umspielte seine Lippen. Lethbridge bemerkte es und machte
eine Bewegung, als wolle er zu den Damen im Salon stoßen. Denn
Mansfreys Lächeln war absichtlich provokativ, und Fenton war kein
angenehmer Zeitgenosse, wenn er provoziert wurde – schon gar nicht
nach drei Gläsern Portwein. Seine Stimme, die zu normalen Zeiten
schon laut genug war, wurde noch lauter. Der Raufbold in ihm, der nie
weit unter der Oberfläche lag, kam zum Vorschein.
„Geister“,
sagte Mansfrey sanft, „sind eigentlich das Unspektakulärste, das
der menschliche Wille hervorbringen kann. Selbst wenn du einen sehen
würdest, Fenton, würde er dich wohl kaum beunruhigen.“ Seine
sanften blauen Augen waren wieder ihn gerichtet. „Geister sind
nicht die faszinierendsten Phänomene, die mir zuerst einfallen
würden, wenns um Übersinnliches geht.“
Fenton lachte
höhnisch. „Was dann?“, fragte er. „Wenn du zwischen zwei
Laternenpfählen hindurchgehst und hinterher merkst, dass es nur
einen gab?“
„Ich persönlich“, antwortete Mansfrey
anzüglich, „habe dieses Erfahrung noch nie gemacht.“ Lethbridge
sah mich unbehaglich an, aber Mansfrey sprach wieder. „Ich dachte
an die Macht des Geistes über die Materie in Bezug auf körperliche
Beschwerden.“
„Guter Gott!“ spottete Fenton, „Du willst
doch nicht sagen, dass du zu diesen christlichen Sektenspinnern
gehörst, die an Wunderheilungen glauben?“
“Bis zu einem
gewissen Grad schon“, antwortete der andere. „Wenn es möglich
ist - und wir wissen durch unbestreitbare Belege, dass es möglich
ist - dass ein Mensch sich absichtlich dafür entscheidet zu sterben,
obwohl er kerngesund ist, und sich dann hinsetzt, um diesen
Entschluss in die Tat umzusetzen ... Wenn das geht, sage ich, muss
das Gegenteil doch noch viel eher möglich sein. Denn der Sterbende
wendet seinen Geist gegen die Natur. Im Fall eines Menschen, der
versucht, sich selbst zu heilen, handelt sein Geist im Einklang mit
der Natur.“
„Die Typen, die auf diese Weise sterben, wurden
immer vom Schwager eines anderen gesehen“, antwortete Fenton. „Ich
glaube es erst, Mansfrey, wenn ich es selbst sehe.“
“Ich
bezweifle, dass du das würdest“, entgegnete Mansfrey. „Du
würdest auch noch behaupten, dass der Mann simuliert, wenn tot im
Sarg liegt.“
Wieder warf ich einen Blick auf Lethbridge,
unseren Gastgeber. Es schien fast so, als würde Mansfrey, der
normalerweise der mildeste aller Männer war, vorsätzlich alles tun,
um Fenton zu ärgern.
„Und ich nehme an“, fuhr er nach einer
Pause fort, „dass du absolut nicht an das Unglück glaubst, das an
bestimmten Häusern und anderen leblosen Gegenständen klebt – wie
zum Beispiel am Maga-Diamanten?“
„So ist es“, donnerte
Fenton. „Und wenn ich das Geld hätte, würde ich jedem, der mir
das Gegenteil beweisen könnte, tausend Pfund zahlen!“ Dann lachte
er. „Ich dachte, du wärst ein Wissenschaftler von gutem Ruf,
Mansfrey! Eine seltsame Art von Wissenschaft, oder? Willst du mir
wirklich weismachen, dass du glaubst, ein Stück Kohlenstoff wie der
Maga-Diamant hätte die Macht, seinem Besitzer Unglück zu
bringen?“
„Die letzten vier sind eines gewaltsamen Todes
gestorben“, bemerkte Mansfrey leise.
Fenton schnaubte.
„Zufall!“, schrie er. “Meine Güte, Mann, du redest wie eine
hysterische Amme!“
„Gemessen an wissenschaftlichem
Standard“, erwiderte Mansfrey milde, „reden viele Menschen wie
hysterische Ammen. Wenn man bedenkt, wie wenig wir wissen, frage ich
mich manchmal, warum selbst der klügste Mensch überhaupt spricht.“
Er begann in seiner Westentasche herumzuwühlen. “Aber wo wir
gerade vom Maga-Diamanten sprechen, ich habe hier etwas, das dich
interessieren könnte.“
Er holte ein kleines Ledertetui hervor
und löste die Schnur, die es verschloss. Dann kippte er vor unseren
erstaunten Blicken etwas auf die Tischdecke, das wie ein großer
Rubin aussah. Es war ein geschliffener Stein, der im Licht leuchtete
und mit tausend roten Flammen funkelte.
„Hübsches Ding, nicht
wahr?“, sagte Mansfrey.
„Meine Güte!“, rief Lethbridge
und beugte sich vor, “ist der echt? Wenn ja, muss er ein Vermögen
wert sein. Ich kenne mich mit Edelsteinen aus, aber ich habe noch nie
etwas gesehen, das dem auch nur nahekommt!“
„Glas“, lachte
sein Besitzer. ‚Ein besonders schönes Stück aus rotem Glas. Nein
– es ist kein historisches Juwel, das ich hier habe, Lethbridge,
sondern etwas, das mit dem zu tun hat, worüber wir gesprochen
haben.“ Seine sanften Augen suchten erneut Fentons Gesicht. “Dieses
Stück Glas, so besagt die Legende, war ursprünglich das Auge eines
Götzenbildes in einem der heiligsten Schreine in Lhasa. Die Tibeter
sind, wie ihr wisst, ein sehr religiöses Volk – und dieser
bestimmte Götze war anscheinend der „Joker“ unter all ihren
Göttern. Ein paar junge Idioten gelangten auf einer Jagdexpedition
nach Lhasa – was übrigens an sich schon eine beachtliche Leistung
ist – und gaben sich nicht damit zufrieden, sondern verletzten
diesen heiligsten Tempel und stahlen das Auge des Gottes.“
Fenton
brach in schallendes Gelächter aus. „Prachtkerle“, rief er. „Das
ist das Zeug, aus dem Helden geschnitzt sind.“
Mansfrey sah
ihn ernst an. „Sie wurden von den Priestern entdeckt“, fuhr er
fort, „und mussten um ihr Leben rennen. Klingt alles sehr vertraut,
oder? Die gute alte historische Fabel. Sogar der Fluch kommt vor, um
die Tradition zu wahren. Ich habe es natürlich nur aus fünfzehnter
Hand, aber ich erzähle es so, wie ich es gehört habe. Das Ding ist
harmlos, es sei denn, man lässt es eine gewisse Zeit lang in der
Hand ruhen oder auf der nackten Haut eines Menschen. Wie lange, weiß
ich nicht. Der Seemann, von dem ich es habe, war selbst etwas vage –
alles, was er wollte, war, es so schnell wie möglich loszuwerden.
Aber wenn es (so geht das Gerücht) für diesen bestimmten Zeitraum
in der Hand eines Mannes bleibt oder irgendwo an seinem Körper –
dann stirbt der Mann."
Fenton schüttelte sich vor
Vergnügen. „Und glaubst du diesen Unsinn?“, fragte er.
„Ich
weiß nicht“, sagte Mansfrey langsam. „Es gibt ein oder zwei sehr
seltsame Geschichten darüber.“ Er stieß mit dem Finger leicht
gegen das Glas, und die rubinroten Lichter flackerten und tanzten,
als stünde das Ding in Flammen. “Ein dänischer Seemann stahl es
dem Kerl, der es mir verkaufte. Mit wenig Erfolg. Er war ein enorm
kräftiger, gesunder Bursche, aber am nächsten Morgen wurde er tot
aufgefunden, mit dem Ding unter seinem Hemd. Mein Seemannsfreund
erfuhr es von einem Chinesen in Chefoo. Der Assistent des Chinesen
hatte es kürzlich aus dem Laden seines Herrn gestohlen. Er wurde tot
aufgefunden, das Ding noch in der Hand, und der Chinese hatte Angst.“
Mansfrey lächelte und steckte das Stück Glas wieder in seine
Tasche. “Nur zwei von vielen Geschichten, aber sie sind alle
gleich. Jeder, der das hier in der Hand hält oder es zu lange bei
sich hat, stirbt. Und er stirbt allem Anschein nach eines natürlichen
Todes.“
„Und du glaubst wirklich an diesen Unsinn?“,
schnaubte Fenton erneut, noch aggressiver als zuvor.
Mansfrey
zuckte mit den Schultern. „Ich weiß nicht, ob ja oder nein“,
antwortete er. „Ich selbst habe das Ding gründlich untersucht; und
soweit ich das beurteilen kann, ist es nur ein Stück gewöhnliches
rotes Glas, aber...“ Erneut zuckte er mit den Schultern und steckte
das Lederetui wieder in seine Tasche.
„Willst du damit sagen,
dass du zu ängstlich warst, das Ding in der Hand zu halten und zu
beweisen, dass alles Schwindel ist?“, rief Fenton. Er wandte sich
an Lethbridge. „Also, ich bin sprachlos! Und das im zwanzigsten
Jahrhundert. Wirf den Klunker hierher, Mansfrey. Ich werde heute
Nacht mit ihm in der Hand schlafen und dir das Ding morgen beim
Frühstück zurückgeben.“
Aber Mansfrey schüttelte den Kopf.
„Oh nein, Fenton“, versicherte er, „ganz sicher nicht. Wenn
irgendetwas passieren würde,
das könnte ich mir nie verzeihen.“
Die
Ablehnung machte Fenton nur entschlossener als je zuvor - und noch
unverschämter. Ich persönlich war überrascht, dass Mansfrey so
etwas mit sich herumtrug – das passte überhaupt nicht zu dem,
was ich über den Mann wusste; aber noch mehr überraschte mich seine
Weigerung, Fenton das Stück zu überlassen. Es war absurd, dass er
wirklich glauben konnte, es bestehe irgendeine Gefahr, wenn man ein
Stück farbiges Glas in der Hand hält, und dennoch blieb er fünf
oder zehn Minuten lang stur.
Dann gab er plötzlich nach. „Na
gut, Fenton“, seufzte er, „du sollst es haben. Aber sag nicht,
ich hätte dich nicht gewarnt.“
Fenton lachte. „Wenn ich
deinen absurden Geschichten Glauben schenken würde und das Ganze
stimmt, wäre ich wohl kaum in der Lage, noch viel zu sagen. Aber in
diesem Fall wird mein Geist dich heimsuchen, Mansfrey. Ich werde
deine Bettdecke wegziehen und mit Ketten in den Gängen klirren.“
Wir
lachten alle, und kurz darauf stand Lethbridge auf. Als er zur Tür
kam, hielt er inne und sah uns zweifelnd an. „Natürlich ist das
alles Quatsch und nur ein Scherz – aber ich denke, wir müssen es
unsern Frauen nicht unbedingt auf die Nase binden, bis Fenton es
morgen beim Frühstück zurückgibt. Meine Frau ist sowieso
hypernervös, wisst ihr. Wahrscheinlich kommt sie jede halbe Stunde
in dein Zimmer gerannt, Fenton, um zu sehen, ob du noch
schnarchst.“
Fenton stieß einen seiner üblichen Brülllaute
aus, und ein paar Minuten später waren wir alle ins Bridge-Spiel
vertieft.
II
Es
war Fenton selbst, der darauf bestand, dass seine Hand mit einem
Taschentuch umwunden wurde. Wir vier standen in seinem Zimmer und
unterhielten uns, bevor wir uns hinlegten. Tatsächlich
war Mansfrey bereits legerer gekleidet und hatte seine Weste
abgelegt.
„Bring dein verdammtes Glasstück her,
mein Junge“, donnerte Fenton jovial, „und leg es genau dort hin.“
Er streckte eine Hand aus, die so dick wie eine Lammkeule war. „Dann
schließe ich meine Faust, und danach bindest du meine Hand mit einem
Taschentuch fest, damit ich sie nachts nicht öffnen kann.“
Aber
das Götzenauge erschien nicht gleich. „Ich sage dir ganz offen,
Fenton“, grollte Mansfrey, „ich würde mich wohler fühlen, wenn
wir das nicht durchziehen würden. Ich glaube selbst nicht, dass da
etwas dran ist, aber irgendwie ...“ Seine Augen hinter der Brille
blinzelten rasch; er wirkte wie die Inkarnation verängstigter
Unentschlossenheit.
Fenton lachte und klopfte ihm auf die
Schulter. Von Fenton auf die Schulter geklopft zu werden, ist in etwa
so, als würde man von einem Maultier getreten werden. Ich habe
Erfahrung mit beidem gemacht und kann das beurteilen.
„Kleiner
Spaßvogel!“, dröhnte er und war im Begriff, es noch einmal zu
tun, so daß Mansfrey sich diskret außer Reichweite begab.
„Spaßvogel – blinzelst wie eine aufgeschreckte Eule. Weißt du,
Lethbridge, ich glaube wirklich, dass er denkt, mit diesem gesegneten
alten Glasauge aus Lhasa stimmt etwas nicht. Gib her, du Idiot‘,
sagte er zu Mansfrey. „Ich werds dir zeigen.“ Zu sagen, dass
Fentons Sprache schwerfällig war, wäre sicher übertrieben, aber
als ich auf der Kante seines Garderobentischchens saß und eine
Zigarette rauchte, fiel mir wieder ein, dass Lethbridge und ich zwar
beide einen Whisky mit Soda während des Abends getrunken hatten
(Mansfrey übrigens nur Mineralwasser), Fentons Portweinflasche aber
fast leer war, als wir zu Bett gingen. Fenton war weiß Gott einem
Zustand, in dem es für alle Beteiligten besser war, ihn nicht zu
reizen.
Anscheinend hatte Lethbridge die gleiche Befürchtung,
denn er wandte sich Mansfrey zu und nickte mit dem Kopf. „Gib ihm
das Ding, alter Junge, und lass uns ins Bett gehen. Ich bin
hundemüde.“
„Na gut“, antwortete Mansfrey. „Ich hole
es. Es ist in meiner Westentasche.“
Langsam, fast widerwillig,
verließ er den Raum und ging den Flur entlang zu seinem eigenen.
Während wir warteten, zog Fenton seinen Schlafanzug an, und als
Mansfrey zurückkam, lag er bereits im Bett.
„Hier ist es“,
grollte Mansfrey und holte das kleine Etui heraus. „Aber ich
wünschte, du würdest das nicht tun, Fenton.“
„Ach! Zum
Teufel mit deinen Wünschen“, rief Fenton gereizt und streckte
seine Hand aus. „Leg es dort hin, Kleiner, leg es dort hin.“
Das
Stück Glas glitt aus dem Etui und lag einen Moment lang scharlachrot
glitzernd in Fentons riesiger Handfläche. Dann schlossen sich seine
Finger darum, und Lethbridge band ein Taschentuch um seine
Faust.
„Ich gebe es dir beim Frühstück zurück, Mansfrey“,
murmelte er und drehte sich auf die Seite. „Und du kannst dich
schon mal drauf einstellen, gegrillt zu werden, mein Junge, richtig
gegrillt. Gute Nacht, Jungs! Macht mal bitte einer von euch das Licht
aus, wenn ihr geht.“
Ich schloss die Tür hinter mir und
schlenderte in mein eigenes Zimmer. Es lag neben Mansfreys, und ich
blieb einen Moment stehen, um mit ihm zu reden.
„Ein
Teufelskerl, dieser Bursche!“
Er antwortete nicht sofort, und
ich warf ihm einen Blick zu. Er stand ganz still da, seine
blassblauen Augen auf Fentons Zimmer gerichtet, aus dem ich bereits
animalisches Schnarchen zu hören glaubte.
„Teufel ist keine
schlechte Beschreibung für ihn“, antwortete er nachdenklich.
“Wirklich nicht schlecht. Gute Nacht.“
Er betrat sein Zimmer
und schloss die Tür. Erst als ich mein Licht ausschaltete, fiel mir
auf, dass Mansfrey nicht ein einziges Mal geblinzelt hatte, während
wir vor Fentons Tür standen. Und Blinzeln war eine chronische Manie
bei ihm.
Ich schien nur ein paar Minuten geschlafen zu haben,
als ich geweckt wurde, weil jemand das Licht einschaltete. Lethbridge
stand an meinem Bett und sah blass und erschüttert aus.
„Mein
Gott!“, stöhnte er, als ich blinzelnd zu ihm aufsah. „Er ist
tot!“
„Wer ist tot?“, rief ich törichterweise und setzte
mich im Bett auf.
„Na, Fenton!“, antwortete er, und mir fiel
alles wieder ein.
„Fenton tot?!“ Entsetzt schaute ich ihn
an. „Unmöglich, Mann! Das muss ein Irrtum sein.‘
“Gott
sei seiner Seele gnädig!“, antwortete er heiser. „Mansfrey ist
jetzt bei ihm – und dreht bald durch.“
Ich griff nach meinem
Morgenmantel und warf einen Blick auf die Uhr. Es war gerade halb
fünf.
„Ich werde mir das nie verzeihen“, fuhr er fort,
während ich nach meinen Hausschuhen suchte. „Diese blöde
Geschichte von Mansfrey hat mich irgendwie beeindruckt, und ich
konnte nicht schlafen. Nach einer Weile bin ich aus dem Bett
gestiegen und in Fentons Zimmer gegangen. Ich habe draußen
gelauscht, und du weißt ja, wie laut er zu schnarchen pflegte. Es
war kein Laut zu hören: absolute Stille.“ Er wischte sich mit
zitternder Hand über die Stirn. „Keine Ahnung – ich wurde
unruhig. Ich öffnete die Tür und ging hinein. Immer noch kein Laut.
Dann schaltete ich das Licht ein.“ Lethbridge schauderte. „Da lag
er, absolut regungslos im Bett. Ich ging zu ihm hinüber und legte
meine Hand auf sein Herz. Kein Lebenszeichen. Er war tot.“
Ich
starrte ihn sprachlos an, dann gingen wir gemeinsam zu Fentons
Zimmer. Die Tür stand einen Spalt weit offen, und als wir sie
aufstießen, drehte Mansfrey, der neben dem Toten stand, sein weißes,
verstörtes Gesicht zu uns.
„Keine Spur von Leben“,
flüsterte er. „Keine Spur.“ Er fuhr sich mit den Händen durch
die Haare und blinzelte uns verzweifelt an. „Was für ein Narr ich
war, was für ein absoluter Schwachkopf, ihm dieses Ding zu
zeigen.“
„Ach, Unsinn, Mann“, fuhr Lethbridge in grob an.
“Es kann nicht an diesem armseligen Stück rotem Glas gelegen
haben. Er ist jetzt tot, der arme Kerl, aber er war ein schwerer
Trinker, und es lässt sich nicht leugnen, dass er letzte Nacht zu
viel intus hatte. Wahrscheinlich Herzversagen.“
Aber Mansfrey
schüttelte nur den Kopf und starrte kläglich aus dem Fenster, wo
sich die ersten schwachen Streifen der Morgendämmerung am Himmel
zeigten.
„Die Frage ist, was wir jetzt machen sollen“,
fragte sich Lethbridge. Er hob Fentons Hand mit dem Auge des Götzen
darin hoch und ließ sie dann mit einem Schaudern wieder fallen.
„Ruf
sofort einen Arzt!“, schrie Mansfrey. „Er ist tot, aber wir
müssen einen holen.“
„Ja“, bestätigte Lethbridge
langsam, „ich nehme an, das müssen wir. Äh – das Einzige ist –
ähm…“ er blickte verlegen von Mansfrey zu mir, “dieses – äh
– Stück Glas. Du weißt ja, wie die Leute hier sind und was alles
so geredet wird. Ich meine, es wird ziemlich schwierig sein, zu
erklären, dass der arme Kerl tot aufgefunden wurde, mit diesem
Klunker in der Hand, so festgebunden. Die Zeitungen werden davon Wind
bekommen, und es werden eine Menge verdammter Reporter um uns
herumschwirren, die versuchen, eine Story draus zu
stricken.“
Mansfrey blinzelte ihn schweigend an. „Du
schlägst vor“, fragte er schließlich, „dass wir es ihm aus der
Hand nehmen sollten?“
„Genau das!“, versicherte Lethbridge
eifrig. “Schließlich ist der arme Kerl tot, und wir müssen an die
Lebenden denken. Es ist schlimm genug, überhaupt einen Toten im Haus
zu haben. Es wäre schrecklich, wenn daraus ein neuntägiges
Zeitungswunder würde. Ich meine, es ist ja nicht so, dass es
irgendeine Art von Zweifel gäbe!“, er warf Mansfrey einen
entschuldigenden Blick zu, “wir sind alle gleichermaßen betroffen,
und es kann sich hier nur um einen sehr seltsamen und grausamen
Zufall handeln. Was meinst du, Mayhew?“
„Ich stimme zu“,
antwortete ich. Zu dieser Zeit war ich in ein wichtiges Geschäft
verwickelt und wollte auf keinen Fall, dass die Zeitungen über mich
berichteten – selbst wenn ich nur am Rande erwähnt wurde. „Ich
schlage vor, dass wir den Stein entfernen und ihn sofort zerstören,
indem wir ihn in Stücke zerschlagen und die Teile in den Teich
werfen.“
Lethbridge seufzte erleichtert auf und begann, das
Taschentuch zu lösen. „Einen Moment“, unterbrach Mansfrey, „bei
allem Respekt für eure beiden Interessen - mein Fall ist nicht ganz
derselbe wie eurer. Wir sind durchaus nicht alle gleichermaßen
betroffen. Das Ding gehört mir: Ich habe es ihm gegeben.“ Er
blinzelte uns entschuldigend zu. „Ich muss an die kommenden Jahre
denken, in denen ihr eure aktuelle Verlegenheit vergessen haben und
euch beide – quasi unbewusst – fragen werdet: War es wirklich
Zufall?“ Er brachte unsere sofortigen Proteste mit einem Lächeln
zum Verstummen. „Die Möglichkeit besteht“, versicherte er uns,
“und ich möchte das nicht riskieren. Und so werde ich eurem
Vorschlag nur unter einer Bedingung zustimmen: nämlich dass einer
von euch das Ding einem guten analytischen Chemiker schickt und es
testen lässt. Ich weiß, dass es Glas ist; ich möchte, dass
Ihr es auch wisst.“
„Na schön“, gab Lethbridge nach, der
bereitwillig alles versprochen hätte, solange er nur das Glasauge
entfernen durfte. „Ich verstehe deinen Standpunkt, Mansfrey.‘ Er
war damit beschäftigt, den Knoten im Taschentuch zu lösen.
“Vielleicht nimmt Mayhew es morgen mit in die Stadt, wenn er
geht.“
Schließlich wurde das Taschentuch entfernt, und mit
deutlichem Widerwillen bog Lethbridge die Finger zurück. Dort lag
das Glas, ein wenig getrübt durch die Feuchtigkeit der Hand des
Toten – aber immer noch funkelnd in seinem teuflischen roten Licht.
Dann plötzlich entspannte sich der Arm und das Auge des Götzen
rollte auf den Teppich.
„Mein Gott!“, krächzte Lethbridge
heiser, „steck das abscheuliche Ding weg, Mansfrey, und lass uns
einen Arzt rufen ...“
“Meine Tasche steht drüben auf meinem
Tisch“, antwortete er. „Ich werd es hineinlegen.“ Mit seinem
Taschentuch hob er das Auge auf und trug es weg.
Lethbridge
wandte sich mir zu. „Ich trinke nicht oft zu dieser Zeit am frühen
Morgen“, sagte er, „aber wenn ich den Arzt gerufen habe, werde
ich eine Flasche Brandy öffnen. Ich kanns weiß Gott
gebrauchen.“
Wir legten Fentons Kleidungstücke zusammen, und
mit einem letzten Blick auf den großen Körper, der regungslos auf
dem Bett lag, gingen wir leise hinaus und schlossen die Tür hinter
uns ab.
Eine Stunde später kam der Arzt und untersuchte den
Toten. Zu diesem Zeitpunkt wusste natürlich das ganze Haus Bescheid,
und an Schlaf war nicht mehr zu denken. Die Frauen hatten sich in
Mrs. Lethbridges Zimmer versammelt, und wir drei Männer warteten
unten auf den Arzt. Er kam nach kurzer Zeit aus dem Zimmer des Toten
und gönnte sich eine Tasse Tee.
„Es könnte notwendig sein“,
sagte er, „eine Obduktion durchzuführen. Sie sagen, dass er
gestern Abend vollkommen gesund war?“
„Vollkommen“ ,
bestätigte Lethbridge.
„Verzeihen Sie mir die Frage“, fuhr
der Arzt fort, „aber hat er viel getrunken?‘
„Er war schon
immer ein starker Trinker und Esser“, antwortete Lethbridge, und
sowohl Mansfrey als auch ich nickten zustimmend.
„Das hätte
ich mir denken können“, kommentierte der Arzt. “Ich habe keinen
Zweifel daran, dass er, obwohl er wie ein starker, gesunder Mann
aussah, innerlich ziemlich zerfressen war. Selbstzerstörung durch
übermäßigen Genuss, wissen Sie. Er war im Grunde der Typ, der
später im Leben irgendwann einen Anfall bekommt wird. Das ist für
Sie sehr unangenehm, Mr. Lethbridge. Ich werde alles tun, um Ihnen
unnötige Unannehmlichkeiten zu ersparen. Aber ich fürchte, wir
müssen eine Obduktion durchführen.
Sehen Sie, es gibt keine offensichtliche Todesursache.“
Lethbridge
begleitete ihn zur Tür, und kurz darauf hörten wir sein Auto
wegfahren.
„Dem Himmel sei Dank“, seufzte Lethbridge, als er
wieder ins Zimmer kam, „dass wir ihm das Glasding aus der Hand
genommen haben! Und dass wir es den Frauen gestern Abend nicht gesagt
haben.“ Er setzte sich und wischte sich den Scheiß von der Stirn.
„Schenk mir noch einen Brandy ein, Mansfrey, ich brauche noch
einen.“
So endete die tragische Party. Um neun Uhr machte ich
mich auf den Weg in die Stadt, mit dem Auge des Götzen in meiner
Tasche. Ich brachte es zu einem Drogisten und bat ihn, es allen Tests
zu unterziehen, die er für sinnvoll hielt, und mir zu sagen, was es
war. Später am Abend ging ich zu ihm, und er reichte es mir über
den Ladentisch zurück.
„Soweit ich das beurteilen kann, Sir“,
bemerkte er, „ist es einfach ein Stück gewöhnliches rotes Glas,
das nicht den geringsten Wert hat, abgesehen von seiner etwas
eigenartigen Form.“
Ich dankte ihm und nahm es mit nach Hause.
Am nächsten Tag gab ich es Mansfrey mit einer kurzen Notiz zurück,
die den Bericht des Drogisten und den Vorschlag enthielt, er solle es
in die Themse werfen.
Lethbridge schickte mir einen Ausschnitt
aus der Lokalzeitung, in dem über die Untersuchung und das Ergebnis
der Obduktion berichtet wurde.
„Tod durch natürliche
Ursache“, lautete das Urteil; und allmählich, und ganz davon in
Abspruch genommen, mein Unternehmen wieder aufzubauen, das während
des Krieges stark gelitten hatte, verlor ich die Angelegenheit aus
den Augen. Gelegentlich kam mir der seltsame Abend wieder in den Sinn
und verstörte mich - mitunter fragte ich mich, ob in diesem roten
Glas tatsächlich eine tödliche Kraft steckte - ob in einem weit
entfernten tibetischen Tempel seltsame Priester, die ihre
unheimlichen Riten um ein blindes Götzenbild herum vollzogen, auf
mysteriöse Weise die Rache ihres Gottes verübt hatten. Dann lachte
ich über meine Albernheit und erinnerte mich an die Worte des
Arztes, nachdem er Fenton kurz untersucht hatte: „Sie werden
feststellen, dass er innerlich ziemlich zerfressen war.“
III
Und so hätte ich die
Angelegenheit endgültig zu den Akten gelegt, und sie wäre
vollständig in Vergessenheit geraten, wenn nicht eine seltsame Laune
des Schicksals es verhindert hätte. Und jetzt… das Schlimme ist:
ich weiß nicht, was ich tun soll ...
Vor zwei Tagen bin ich
zufällig an Jones' Kuriositätengeschäft gleich neben der
Strand-Passage vorbeigekommen. Hin und wieder habe ich dort wirklich
schöne Sachen gefunden; ich schaue öfter mal rein, um ein
Schnäppchen zu machen.
„Ich habe genau das Richtige für Sie,
Mr. Mayhew“, erklärte der Besitzer, als er mich sah. „Ein paar
alte Dinge aus Sheffield. Warten Sie, ich hole sie.“
Er
verschwand im hinteren Teil des Ladens und ließ mich allein. Ich
schlenderte herum und schaute mir seine Sachen an. In einer Ecke fand
ich einen besonders hässlichen geschnitzten Tisch, der auf drei
klapprigen Beinen stand. Normalerweise hätte ich mich nur
geschüttelt und wäre weitergegangen, aber irgendetwas brachte mich
dazu, stehen zu bleiben und ihn mir genauer anzusehen. Sein stolzer
Designer hatte, vermutlich um ihn den letzten Schliff zu geben, vier
Löcher in die Tischplatte geschnitten und dort vier Stücke farbigen
Glases eingesetzt – gelb, blau, grün und rot. Mechanisch berührte
ich sie, und zu meiner Überraschung stellte ich fest, dass das rote
lose war. Ich bewegte es eine Weile mechanisch hin und her und nahm
es schließlich heraus.
Eine Minute später bemerkte Jones, dass
ich benommen auf etwas in meiner Hand starrte, das selbst im
schwachen Licht des Ladens wie ein riesiger Rubin leuchtete und
funkelte.
„Hier sind die beiden Teller, Mr. Mayhew“,
bemerkte er. Dann sah er, was ich in der Hand hielt, und warf einen
Blick auf den Tisch. „Machen Sie sich darüber keine Sorgen. Das
ist schon lose, seit ich ihn habe. Ich muss es irgendwann mal
einkleben.‘
„Sagen Sie, Mr. Jones“, ich bemühte mich,
ganz ruhig zu sprechen, „woher haben Sie das?“
„Was –
den Tisch? Ein Mr. Mansfrey hat mich vor Monaten gebeten, ihn für
ihn zu verkaufen: Sie wissen schon, der Gentleman, der gerade dieses
Buch über Gifte geschrieben hat. Nicht, dass ich da viel für ihn
rausholen werde - es ist ein abscheuliches Teil, finde ich.“
Tausend
wilde Gedanken schossen mir durch den Kopf, als ich dort stand und
der Händler mich neugierig beobachtete. Wenn dieses Stück rotes
Glas von einem Tisch stammte, hatte es nie das Gesicht eines Götzen
in Tibet geschmückt. Und da es tatsächlich von
einem Tisch stammte, war klar, dass Mansfrey gelogen
hatte. Aber warum?
„Ich nehme diesen Tisch!“, sagte ich zu
dem verblüfften Händler. „Ich gebe Ihnen fünf Pfund dafür.
Schicken Sie ihn sofort an meine Adresse.“
„Soll ich das
rote Ding einkleben, Sir?“ fragte er.
„Nein“, antwortete
ich, „das nehme ich gleich mit.“
Ich verließ den Laden und
trat auf die Straße. Warum hatte Mansfrey sich die Mühe gemacht,
diese lange Lügengeschichte zu erfinden? Warum? Diese Frage ging mir
unaufhörlich durch den Kopf. Warum sollte ein Autor, der über Gifte
schrieb, und ein fähiger, kluger Mann – ich hatte von Mansfreys
neuem Buch gehört – sich die Mühe machen, einen ganzen Abend lang
ununterbrochen zu lügen, es sei denn, er verfolgte ein bestimmtes
Ziel?
Ich ging in meinen Club und setzte mich, um zu versuchen,
die Dinge zu durchschauen. Und je mehr ich darüber nachdachte, desto
weniger gefiel mir das Ganze.
Schließlich stand ich auf, ging
zu einem Tisch und schrieb eine Nachricht an Mansfrey, in der ich ihn
bat, mich in meiner Wohnung zu besuchen. Er kam gestern Abend – und
wie ich bereits sagte, weiß ich nicht, was ich tun soll ...
Direkt
vor ihm, als er den Raum betrat, hatte ich den Tisch platziert. Das
Loch für das rote Glas war leer, das Stück selbst befand sich gut
sichtbar auf meinem Kaminsims. Er blieb abrupt stehen und starrte auf
den kleinen Tisch: dann drehte er sich um, und das leuchtend rote
Ding vor der Uhr fiel ihm ins Auge. Er sah mich an, blinzelte
gelassen und hatte ein schwaches Lächeln im Gesicht.
„Ich
wusste nicht, dass du Jones Laden kennst!“, sagte er, ließ sich in
einen Sessel sinken und zündete sich eine Zigarette an.
„Ich
hätte gerne eine Erklärung, Mansfrey!“, bemerkte ich streng.
„Was
denn? Fentons Tod? Mein lieber Freund – das war doch von Anfang an
offensichtlich. Ich habe ihn getötet.“ Er blinzelte mich immer
noch mit seinen milden blauen Augen an.
„Du hast ihn
getötet!?“, schrie ich fast.
„Nur ruhig!“ Er hob eine
abwehrende Hand. „Nicht so laut, bitte. Natürlich habe ich ihn
getötet, wie ich es schon lange vorhatte. Er gehörte zu der Sorte
Aas, die es nicht verdient, zu leben. Er hat meine Schwester - ins
Unglück gestürzt!“ Für einen Moment lang hörte er auf zu
blinzeln, dann fuhr er ganz ruhig fort: “Aber warum sollte ich dich
mit meiner persönlichen Geschichte langweilen? Gibt es noch etwas,
das du wissen möchtest?“
„Eine Menge!“, rief ich.
„Natürlich ist das ein wichtiger mildernder Umstand, und
zweifellos war Fenton ein Schurke, wenn er so etwas getan hat –
aber das ist keine Entschuldigung für Mord, Mansfrey!“
„Da
bin ich ganz anderer Meinung“, erwiderte er sanft. „Das Gesetz
hätte mir keine Genugtuung verschafft, also musste ich mir selbst
helfen.“
„Natürlich“, meldete ich nach einer Pause zu
Wort, „werde ich Scotland Yard informieren müssen. Ich meine, ich
kann so etwas unmöglich dulden!“
Er lächelte friedlich und
schüttelte den Kopf.
„Das würde ich schön bleiben lassen,
wenn ich du wäre“, murmelte er. „Wer war es, der Fenton
anflehte, das Auge der Statue nicht in die Hand zu nehmen –?“ Er
warf einen Blick auf das Glas auf dem Kaminsims. „Es hatte eine
verblüffende Ähnlichkeit mit dem Ding, das du da stehen hast, fällt
mir jetzt auf. Aber wer hat dagegen argumentiert? Ich natürlich. Und
wer hat mich überstimmt? Nun – weder du noch Lethbridge habt mich
unterstützt. Wer hat vorgeschlagen, es zu entfernen, bevor der Arzt
kam? Ich glaube, ich liege richtig, wenn ich sage, dass es Lethbridge
war. Wer bestand auf einer chemischen Analyse? Ich. Wer hat sie
durchführen lassen? Du, und ich habe den Bericht des Drogisten in
meinem Schreibtisch. Was hat die Untersuchung des Gerichtsmediziners
ergeben? Natürlicher Tod. Keine Spur von Gift.“ Er blinzelte
gelassen. “Oh nein, mein Freund, ich glaube nicht, daß du zu
Scotland Yard rennst. In dem äußerst unwahrscheinlichen Fall, dass
diese erlauchte Behörde dich nicht für verrückt hält, würdest du
und Lethbridge unweigerlich als meine Komplizen in dieser
Angelegenheit angesehen werden. Siehst du, du hast dich in aller
Unschuld sehr ungeschickt kompromittiert – sehr ungeschickt,
wirklich!“ Er stand auf, um zu gehen.
„Wie hast du ihn
getötet?“, fragte ich.
„Mit einem seltenen und wenig
bekannten Gift“, antwortete er. „In meinem neuen Buch findest du
etwas darüber. Wahrscheinlich das gefährlichste der Welt, denn es
hinterlässt keine Spuren. Es tötet durch eine Lähmung, die zu
Herzversagen führt. Ich habe das Glas – äh – ich meine das Auge
des Götzen, das diesem Stück Glas dort so ähnlich sieht – in
eine Lösung des Giftes getaucht, bevor ich es ihm in die Hand
gegeben habe. Am nächsten Morgen habe ich es dann in eine andere
Lösung getaucht. Ihr habt es mir liebenswürdigerweise für einige
Stunden überlassen – eine Minute hätte gereicht. Anhand meiner
Tierversuche würde ich schätzen, dass er etwa innerhalb einer
halben Stunde gestorben ist. Äh – gute Nacht.“
Die Tür
schloss sich hinter ihm, und ich starrte auf die roten Glaskugel, die
im Licht glitzerte. Dann schleuderte ich sie in einem Wutanfall zum
Fenster hinaus auf die Straße. Sie zerbrach in tausend Scherben und
Mansfrey, der gerade die Eingangstür verlassen hatte, blickte auf
und lächelte. „Gute Nacht!“, rief er, und ich konnte mir
vorstellen, wie seine blauen Augen mild blinzelten.
Und das
Schlimme daran ist - wie ich bereits erwähnt habe – ich weiß
nicht, was ich jetzt machen soll ...
Herman C. McNeile – The Idol’s Eye
Aus der Sammlung „The Finger of Fate“ (1930)
Übersetzung © Matthias Käther 2024
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