So sehr sie sich auch bemühte –
Louise konnte sich nicht bewegen. Sie versuchte sich umzusehen, doch
es war stockfinster. Und dann, bewegungslos, blind, machte sie eine
übermenschliche Anstrengung nachzudenken – sich zu erinnern.
Zunächst versagte sie auch hierbei.
Sie wußte nicht, wo sie sich befand, oder was passiert war. Das
Äußerste, das ihr Hirn ihr zu bieten hatte, war ein verwirrter
Eindruck von etwas zutiefst Bedrückendem, Schlimmem, Quälendem.
Doch nichts war konkret, nichts klar.
Dann, augenscheinlich ohne ihren
Willen, begann ihr rechtes Bein konvulsivisch zu zucken. Und mit der
Bewegung kam eine stechende Schmerzwelle von solcher Schärfe, dass
sie einen Schrei herausröchelte, der erschreckend harsch und
krächzend in ihren Ohren klang.
Der Schmerz weckte sie endgültig. Wie
ein Dolchhieb erreichte er ihr betäubtes und träges Hirn und
peitschte es ins Bewußtsein zurück.
Die Empfindung war so grauenvoll wie
ein plötzlicher Lichtstrahl in den Augen einer Person, die für
Jahre im Dunklen saß. Sie war erhellend, doch sie bedeutete Qual.
Sie erinnerte sich nun genau: Das
kleine Dinner für sechs Personen im beliebtesten Restaurant der
Stadt, dann der Ausflug zum Joybell Vergnügungspark in Harry
Crawford's riesigem Wagen, die lächerlichen Dinge, die sie getan
hatten, der feierliche Schwur von allen, hier wirklich alles
auszuprobieren. Sie erinnerte sich daran mit wachsender Klarheit, und
die physische Pein wuchs mit ihren zurückkehrenden geistigen
Fähigkeiten, bis sie nur noch ein einziger großer Schmerz vom Kopf
bis zu den Füßen zu sein schien.
Sie erinnerte sich an Wanda Herron,
Wanda in ihrem blassblauen Kleid... wie ein Engel von Botticelli. Wie
schön und liebenswürdig sie aussah! Kein Wunder, dass ihr
Verlobter, Dick Maynard, sie anbetete; sie war mit jeder Faser der
Typ, den er anbeten würde. Er und alle anderen Männer. Zweifellos.
Wanda war sehr klein und sehr blond, mit einem Mund wie eine Blume
und Kinderaugen, und die Aura um sie herum suggerierte etwas
wundervoll Fragiles und Kostbares, das um jeden Preis beschützt
werden mußte vor den rauhen und wilden Stößen und Erschütterungen
einer brutalen Welt. Louise, die mit dem Leben zu kämpfen hatte seit
den frühen Tagen ihrer Kindheit, und die mit 28 völlig auf eigenen
Füßen stand und nach außen hin wohl ein bißchen prosaisch wirkte,
gönnte sich den Luxus halb trauriger, halb zynischer Gedanken, die
Unterschiede zwischen Wanda und ihr betreffend.
Louise war durchaus keine neidische
Frau. Sie beneidete Wanda überhaupt nicht um ihre behütete
Existenz, oder das komfortable Einkommen, das es ihr ermöglichte,
sich exquisit zu kleiden, und das sie vor allem elenden Gerangel um
einen guten Platz in der Gesellschaft bewahrte. Sie würde sie auch
nicht beneidet haben, wenn Wanda zu ihrem anderen Flitterkram auch
noch eine Krone und einen Thron addiert hätte. Sie beneidete sie
nicht um ihr gutes Aussehen. Naja, vielleicht doch - insofern, dass
sie ein Typ war, der Dick Maynard besser gefiel als ihre eigene
dunkle, lebhafte Schönheit.
Tja, genau da lag der Hund begraben.
Louise beneidete Wanda, weil sie die Zuneigung von Dick besaß. Sie
selbst hatte ihn nun schon so lange begehrt, dass ihr Begehren ein
Teil von ihr geworden war; sie arbeitete und aß und lief herum mit
dieser Besessenheit, ging abends mit ihr zu Bett und stand morgens
mit ihr auf. Manchmal lächelte sie ein bißchen in sich hinein, wenn
sie daran dachte, wie verblüfft die Leute sein würden, wenn sie
wüssten, dass in Louise Crammers wohlausbalanciertem Hirn die
Überzeugung herrschte, dass es auf der ganzen weiten Erde nichts
Bedeutenderes gab als Dick Maynard...
Ihre Gedanken und die steigende Qual,
die ihren Körper mit zunehmender Blutzirkulation immer heftiger
marterte, schlugen zusammen in einer riesigen Welle des Schmerzes,
und eine gnädige Schwärze hüllte sie erneut ein.
Auch das ging vorüber, nach einer
Zeitspanne, die ein- bis zweihundert Jahre zu dauern schien. Der
Schmerz war nun scharf und anhaltend, doch sie war etwas zu Kräften
gekommen. Ihr Verstand war jetzt völlig klar und arbeitete normal,
abgesehen davon, dass sie sich nur in krampfhaften Schüben erinnern
konnte. Diese Abwesenheit von Kontinuität beunruhigte sie, denn sie
war für gewöhnlich ein streng logisches Wesen. Vom Thema Dick
natürlich abgesehen.
Sie erinnerte sich mit plötzlicher
Schärfe an Ella Minton, die reiche Witwe mit den rundlichen
Proportionen und den protzigen Juwelen, die bei ihrem Ausflug den
Anstandswauwau mimte. Sie hatte ein volles rosa Gesicht und einen
Kicher-Tick, und sie trug Diamanten. Diamanten in einem
Vergnügungspark! Und dann, zusammen mit dem Bild von Mrs. Minton,
stieg heiß ein anderes auf, plötzlich, erschreckend, ein
angespannter, häßlicher Moment, der um diese Dinger kreiste... wie
hieß das glitzernde Zeug? Diamanten! Das wars – Diamanten! Sie
saßen alle um den kleinen Tisch herum, geeiste Drinks vor sich, und
Ella Minton plapperte:
„Ich sag euch, ich hab diese beiden
Diamant-Haarspangen hier auf den Tisch gelegt, während ich mein Haar
geflochten hab! Irgendwer hat sie. Mir egal wer – aber irgendwer
hat sie!“
Die Erinnerung drohte zu verblassen,
und sie mußte sehr kämpfen, um sie festzuhalten, festzunageln,
bevor sie vielleicht für immer verschwand.
„Sie sind sehr wertvoll...Mein Mann
hat sie mir geschenkt...“
Dann Harry Crawfords beruhigende
Stimme: „Wir werden zur nächsten Polizeistation gehen und es da
melden, Mrs. Minton. Jerry, bleibst du bei den Mädchen, ja? Wir
treffen uns dann bei Andersons Biergarten, in einer halben Stunde.“
Und Jerry Barlow hatte gesagt: „Klar. Kommt, Mädels, wir probieren
die Themenbahn aus. Sie heißt 'Durchs Drachental.' Man sagt, das ist
der Knaller hier.“
Jetzt war ihr alles klar. Sie und Wanda
und Jerry waren zum „Drachental“ gegangen, einer Mischung aus
Achter-und Geisterbahn. In der dicken schwarzen Dunkelheit, die sie
nun umgab, konnte sie deutlich den hohen grellbunten Torbogen sehen
mit dem Namen darauf, geschrieben mit blutroten Lettern, die sofort
in die Augen stachen. Sie konnte die wartenden Massen sehen, das
Schielen nach der plumpen, billigen Szenerie, die die Kurven und
Täler der Bahn drapierte, den ankommenden Wagon mit seiner Ladung
von schreienden, kreischenden, lachenden Leuten, demonstrierend, wie
nahe die Extreme der Empfindung, Freude, und das Gegenteil, Grauen,
sich annähern konnten. Und dann das Besteigen ihres Wagons, mit
Wanda.
Es war nur Raum für zwei auf dem
Vordersitz, und sie beide wollten auf den Vordersitz. Jerry Barlow
hatte sich auf den engen Rücksitz im hinteren Teil quetschen müssen.
Dann folgte der gleitende Sturz in den
ersten Tunnel, der übelkeiterregende, faszinierende Sprung abwärts,
dann das Aufwärtssausen zum Gipfel eines hölzernes Gestells, die
Sterne über ihnen und Millionen Lichter um und unter ihnen, und ein
silbernes Glitzern der See, ganz in der Nähe. Sie erinnerte sich,
wie sich Wanda an sie klammerte und schrie: „Jetzt kommt der
schlimmste Teil! Ich hab Angst, Louise!“, und dass sie in diesem
Moment dachte: Das ist der Kitzel des Sterbens! Deswegen lieben wir
es...
Dann – war etwas mit dem Universum
passiert. Der Himmel war auseinandergebrochen, die Sterne waren in
Fragmente zerborsten, und es gab keine Welt mehr. Nur noch eine
monströse, lärmende Konfusion aller Dinge, eine donnernde und
kataklysmische Rückkehr ins kosmische Chaos.
Dann nichts mehr außer Schmerzen.
Es schien, als ob sie in ihrer Qual
nicht allein war. Eine schwaches, unaufhörliches Stöhnen drängte
sich allmählich immer deutlicher in ihre bis dahin tauben Ohren.
Wenn sie jetzt darüber nachdachte, hatte sie dieses Stöhnen
unbewußt schon die ganze Zeit gehört. Sie befeuchtete ihre Lippen
und versuchte zu rufen, doch es brauchte eine ganze Reihe von
vergeblichen Versuchen, bis sie ein krächzendes „Wer ist da?“
zustande brachte.
Ein leiser, schluchzender Aufschrei –
halb qualvoll, halb erleichtert – antwortete ihr. Dann drang Wandas
Stimme zu ihr, schwach und zitternd, doch ganz aus der Nähe: „Oh
Louise, Gottseidank! Ich dachte, alle wären tot außer mir – und
daß ich allein hier draußen sterben muß – im Dunkeln!“
Louise lächelte schwach und ein wenig
sardonisch. Das war typisch Wanda – sie sah die Katastrophe nur aus
ihrem eigenen überspannten Blickwinkel. Dennoch rief sie mit all der
peinvollen, heiseren Kraft, die ihre Lungen hergaben: „Ich kann
nicht zu dir, Wanda! Was Großes und Schweres liegt auf mir, ein Teil
des Wagons, glaub ich. Bist du schlimm verletzt?“
„Mir tut alles weh!“ wimmerte
Wanda. „Und mein Arm...“
„Ja, ich weiß“, unterbrach das
ältere Mädchen mit all der Ungeduld, für die sie noch Kraft
aufbieten konnte. „Es ist ein Wunder, das wir nicht sofort
gestorben sind. Ich fürchte, die meisten andern sind tot. Arme
Seelen. Ich meinte – bist du...zerquetscht, oder irgendwas in der
Art? Kannst du dich bewegen?“
„J-ja, aber es tut weh...“
„Egal! Krabbel rüber zu mir, und wir
können zusammen versuchen, dieses Ding von mir zu wälzen.“
Wanda kroch zu ihr, stoppte dabei oft,
um zu stöhnen und zu erklären, sie könne nicht mehr. Was immer an
Kraftreserven und Selbstbeherrschung in ihr gewesen sein mochte –
es war verbraucht, als sie Louise erreichte. Sie brach an ihrer
Schulter zusammen – was bei Louise ein schmerzhafteres Zucken der
zusammengepressten Lippen auslöste – und gab sich hysterischer
Panik hin.
Heftig schluchzend klammerte sie sich
an Louise und keuchte immer und immer wieder: „Oh Louise, ich werde
sterben! Hier an diesem gräßlichen Ort! Ich werde sterben! Oh, ich
kann hier nicht sterben – ich sollte hier nicht sterben – Louise,
was sollen wir machen, wenn sie uns hier nicht rausholen?“
„Du hast es jetzt schon eine ziemlich
lange Zeit gesagt“, meinte Louise lakonisch. „'Wir werden
sterben'- Aber sie holen uns hier raus. Auf jeden Fall holen sie dich
raus. Ich habe so eine Ahnung, dass meine persönliche Uhr abgelaufen
ist.“
Wanda nahm die letzten Worte kaum wahr.
Sie lauschte angestrengt, und ihre Hand krampfte sich um Louises Arm.
Durch die Ruinen der Themenbahn konnte sie aufgeregte Männerstimmen
hören, und da war auch noch der Klang schwerer Schläge, als ob sie
begannen, sich einen Weg durch die Trümmer zu bahnen.
„Sie kommen uns retten!“ schrie
Wanda. „Oh, Louise! Denkst du, wir werden überleben?“
Louise fühlte sich schwächer. Sie
hatte mehrere Versuche unternommen, sich von dem Gewicht auf ihr zu
befreien, doch nun wußte sie, dass ihre Kraft nicht ausreichte, und
wahrscheinlich auch Wandas nicht, selbst wenn sie ein Interesse daran
gezeigt hätte, ihr zu helfen.
„Louise“ wisperte Wanda, dicht an
ihrem Ohr. „Ich - ich bin schrecklich fies gewesen! Es...wäre
ziemlich grausig zu sterben, ohne jemandem zu beichten, wie fies ich
war. Louise, vielleicht sind wir beide tot... in kurzer Zeit.
Jedenfalls...“ Sie zögerte.
„Ich auf jeden Fall“, sagte Louise
in einem seltsamen abwesenden Ton. „Also werd ichs nicht
weitersagen. Erzähls mir.“
„Louise, du weißt, jedermann denkt,
wir wären so furchtbar reich...Aber wir sinds nicht...nicht
wirklich. Nicht mehr. Wir halten den Schein aufrecht...aber seit
Ewigkeiten ist es nur noch das...mit wenig Solidem in Reserve. Mutter
hilft heimlich sozialen Aufsteigern bei ihren Prüfungen – und ich
– ich spiele Brigde, und...ich gewinne fast immer...“
Ihre traurige Stimme verlosch, so das
die letzten Worte kaum verständlich waren.
„Du meinst, du schummelst?“
„Ich...ja.“ eine Pause, lang genug,
um Atem zu holen. Dann: „Aber...Louise...das ist nicht das
Schlimmste. Ich...naja...du weißt, Leute in unserer Clique haben
Dinge verloren...kürzlich.“
„Du hast sie geklaut? Aber -“
Plötzlich hatte Louise das müde
Gefühl, dass einer Situation wie dieser – wartend in der
Dunkelheit, so nahe dem Tod, dass man seinen Umhang berühren könnte
– solche Kleinigkeiten wie Diebstahl und Kartentricks unwichtig und
langweilig waren. Sicher urteilte da draußen, irgendwo in der
Unendlichkeit, ein Gericht mit sublimeren Regeln und Standards, als
sie in dieser Welt üblich waren. Louise wußte, dass Stehlen und
Betrügen nicht nett waren, doch in dieser unheimlichen und seltsam
feierlichen Stunde klangen Wandas Bekenntnisse seltsam lächerlich.
„Das ist, als wenn du Angst hättest,
einen unpassenden Sarg zu bekommen“ murmelte sie laut. Dann: „Mach
dir nichts aus meinem Gebrabbel, Wanda, ich glaube, ich bin etwas
wirr im Kopf. Keine Sorge, du kannst Ella Minton ihre
Diamant-Haarspangen zurückgeben – darum geht’s doch? Ich bin
sicher, sie wird dich nicht anzeigen, oder irgendwas ähnliches
Biestiges...“
„Nein, aber sie wird quatschen –
nur im Vertrauen, klar, aber zu jedem, den sie kennt, und ich weiß,
dass Dick es mitkriegen wird, und du weißt, wie Dick über
Ehrlichkeit denkt – und all das!“
Sie brach zusammen und weinte
hemmungsloser denn je.
Louise fühlte ihr ganzes Ich mit einem
raschen mentalen Schwenk diesem neuen Gedanken zuströmen. Wandas
kleine Sünden waren plötzlich wichtig geworden, weil sie Dick
betrafen – oder betreffen würden. Sie waren nicht länger
belanglos oder langweilig. Nicht einmal der Tod selbst konnte Louise
Cramers ungeteilte Aufmerksamkeit beanspruchen, wenn es um Dick
Maynard ging.
Sie kannte Dick nur zu gut. Sie waren
jahrelang vertraute Freunde gewesen, und seine Zuneigung war niemals
getrübt worden durch den Verdacht, dass sie ihn liebte. Sie kannte
ihn, und wie wusste, dass Wanda richtig lag. Er war freundlich und
generös in den meisten Angelegenheiten des Lebens – doch
Unehrlichkeit würde keine Gnade vor ihm finden. Er würde niemals
ein Mädchen heiraten, von dem er wusste, dass sie eine Diebin war,
selbst wenn er sie liebte. Und es war mehr als wahrscheinlich, dass
das Wissen um diesen Diebstahl seine Liebe sofort ersticken würde.
Louise wusste, dass solche Dinge die Liebe eines Mannes ersticken
konnten. Nie die einer Frau – eigentlich, dachte sie mit
Bitterkeit, gab es wenige Dinge, die imstande waren, die Liebe einer
Frau zu töten. Außer, manchmal, Mangel an Nahrung. „Und für
gewöhnlich nicht mal das. Wir Frauen sind arme Idiotinnen!“ dachte
sie, sich an ihre eigenen mageren aber loyalen letzten Jahre
erinnernd.
Und so kam sie zu Louise – der
zerschmetterten, verrenkten, schmerzdurchfluteten Louise, hilflos in
einer Dunkelheit, die in jedem Moment übergehen mochte in eine
größere und mysteriösere, in die Finsternis des Todes – so kam
sie zu ihr – die große Versuchung ihres Lebens.
Es war eine wirkliche Versuchung, wenn
auch eine unwürdige. Sie könnte, immer vorausgesetzt, dass sie
überlebte, bis die Retter eintrafen, die Wahrheit sagen, Wanda als
Diebin brandmarken – die Diamanten waren mit Sicherheit irgendwo an
ihrem Körper – und so die ungeheure Freude genießen, daß, egal
ob sie nun starb oder nicht, Wanda für immer aus Dicks Leben
spazieren würde.
Es erwachte eine tiefe, wilde Rachsucht
in Louise Cramer, eine Rachsucht, die vielleicht immer schon in ihr
geschlummert hatte. Es sind meist grade die Naturen mit harten und
grausamen Charakterzügen, die die größten Schwächen in
Liebesdingen zeigen. Louise hatte ein Herz voller Zärtlichkeit –
aber das war nur für eine einzige Person bestimmt. Zum Rest der Welt
war sie bloß nett.
Doch Wanda!
Plötzlich schoß ihr der Name dieser
schrecklichen Themenbahn durch den Kopf. „Durchs Drachental!“
Ihr Hirn, nun schon halb delirierend
von der langen Anspannung und der unerwarteten Krise, malte die
Finsternis mit verzerrten Horrorgestalten aus, visualisierte den
Drachen als ihre monströse Versuchung, das Ding, das sie bekämpfen
und besiegen mußte, wenn sie ruhig sterben wollte.
Der Schweiß lief ihr übers Gesicht,
nicht nur der Schwäche wegen, nicht nur der Schmerzen wegen, nicht
einmal wegen der Todesangst. Es war pure Seelenpein, der Schweiß
eines großes Kampfes gegen einen Feind ohne Gnade.
Die phantastische Vision des Drachens
füllte die stickige Dunkelheit – nun wurde es erschreckend eng um
sie...
Die Geräusche der rettenden Sucher
kamen näher.
„Was soll ich tun, Loiuse?“ stöhnte
Wanda, und Louise fühlte ihr Zittern, als sie sich näher an sie
presste. Ihr eigener Körper zitterte nicht, er fühlte sich seltsam
ruhig an, fast steif eigentlich. Ihr war kalt, und sie fand es
zunehmend schwerer zu atmen.
Der Drachen drohte riesig, schrecklich,
unfaßbar grausam. Und dann fand sie heraus, dass sie ihre Hand
bewegen konnte, wenn auch mit Mühe. Sie berührte das jüngere
Mädchen.
„Gib mir die Diamanten – schnell!“
sagte sie, und im selben Moment sah sie einen Lichtschimmer
aufblitzen, als die Trümmer beiseitegezerrt wurden. Sie fühlte zwei
kalte, wellige Objekte, die Wandas zitternde Finger in ihre
Handfläche schoben. Dann war keine Zeit mehr, weder für weitere
Aktionen, noch für irgendwelche Worte. Im nächsten Moment hatten
die Männer sich zu ihnen hindurchgegraben, -gewunden und -geschoben.
Der erste war Dick. Im Licht der
Taschenlampe, die sein Nebenmann hielt, wirkte er gespenstisch
bleich. Als er Wanda in seine Arme schloß, konnte er für eine
Minute lang nicht sprechen.
„Gott sei Dank!“ stieß er
abgehackt hervor. „Ich dachte, du wärst tot – meine Süße...
Einer der tiefen Tunnel ist eingebrochen, die ganze Konstruktion hat
nachgegeben, und zwei Wagons... Gott, es ist gräßlich...Armer
Jerry...Grauenvoll...aber – wo ist Louise? Ist sie o.k.?“
„Mir geht’s prima, danke, Dicky“
sagte Louise ruhig. „Oder zumindest wird’s mir prima gehen, wenn
ich hier ausgegraben wurde. Wenn du vielleicht eben...“
Als sie sie bewegten, verlor sie das
Bewußtsein, doch sie starb nicht so rasch, wie sie gehofft hatte.
Nachdem sie sie hinausgebracht hatten, und als sie unter den
funkelnden Lichtergirlanden des Vergnügungsparks lag, erschreckte
sie der hastig herbeigerufene Notarzt sogar mit der Versicherung, sie
hätte eine winzige Chance.
Wanda wuselte um sie herum, zu Tode
verängstigt. Sie war sich nicht sicher, selbst jetzt nicht, was
Louise mit den Diamantspangen vorhatte. Ella Minton – das sei zu
ihrer Ehre gesagt – hatte das Thema fallengelassen und half
mitfühlend, wo sie nur konnte. Doch Louise wußte, das die Habgier
der plumpen Witwe schon bald wieder erwachen würde – sobald die
Aufregung vorbei war. Sie lag da mit geschlossenen Augen, die Spangen
in ihrer Hand verborgen.
Endlich konnte Wanda die Spannung nicht
länger ertragen, und über sie gebeugt, wisperte sie verzweifelt:
„Louise, wirst du es sagen?“
Louise öffnete ihre Augen und sah sie
an, dann schüttelte sie den Kopf. Dann, mit einer Stimme, die nur
von Wanda gehört werden konnte, begann sie zu sprechen.
„Ich schätze“, sagte sie langsam,
„daß es schwerer ist, jemanden aufzugeben, nachdem man ihn schon
hatte, als wenn man ihn nie gehabt hat. Ja, ich weiß, es ist so. Das
sollte Grund genug für mich sein, dich zu retten, und dich....Dick
behalten zu lassen. Bloß...das ist nicht der Grund. Nicht wirklich.
Ich bin ein echter Schmalspurgeist, weißt du? Dick will dich, und er
soll dich haben. Denn nichts und niemand ist für mich von
irgendeiner Wichtigkeit – außer Dick. Und... für den Fall, ich
überstehe die nächste Bewegung nicht so gut wie die letzte...Ich
hoffe, du wirst glücklich.“
Sie meinte das wirklich ernst – vor
allem, weil es bedeutete, dass Dick mit Wanda glücklich sein würde.
Wie seltsam plötzlich alles auszusehen
begann! Die Menschen und die Häuser und die Sterne da oben, alles
war verwirbelt, und alles aus den Proportionen gerutscht. Da war ein
Ausrufer von einer der anderen Shows gekommen, ein fetter Typ in
gelber Livree. Er schien zu wachsen, wurde immer fetter und fetter –
bis er der Mond war.
Dann schaute sie zu Dick, ließ ihre
müden Augen schweifen über seine vitale Gestalt, seinen
rennpferdgleichen Körper, das elegant modellierte Kinn, die klaren
Augen, die nun ernst und besorgt dreinblickten. Sie schaute – mit
einem langen Blick. Dann riß sie sich zusammen, raffte jedes
Zipfelchen Energie zusammen, das noch in ihr war und redete in einer
festen, stetigen Sprache, die den Notarzt aufschrecken ließ. Er
musterte sie besorgt, denn sterbende Unfallopfer sprachen manchmal so
vor dem Ende.
„Mrs. Minton“, sagte sie, „ich
bin ziemlich zermatscht, und vielleicht übersteh' ichs nicht. Ich
will vorher eine Sache klären. Ihre Spangen..."
„Ja?“ Selbst die unmittelbare
Aussicht auf Louises Tod konnte Mrs. Minton nicht davon ablenken,
besorgt um ihre Juwelen zu sein.
„Ich hab sie gestohlen.“ sagte
Louise, ohne jede Emotion. „Mir gings nicht so gut in letzter Zeit,
und es war so leicht, sie zu nehmen, als Sie sie auf den Tisch gelegt
hatten und alle auf die Kamelprozession sahen. Ich hab sie gestohlen.
Das ist alles.“
Dick Maynard starrte sie an, sein
Gesicht war fahl und schockiert.
„Louise!“ rief er. „Du bist im
Delirium, das kannst du nicht ernst meinen! Es...das ist unmöglich,
dass du...“
Zur Antwort öffnete Louise langsam die
steifen Finger ihrer rechten Hand. Im fröhlichbunten Glühen der
elektrischen Lichter, die immer noch brannten, glitzerten die
Diamanten kalt und boshaft.
Mrs Minton stürzte mit einem
unterdrückten Aufschrei nach vorn, zögerte dann, halb beschämt
über ihren Eifer in solch einem Moment.
„Nehmen Sie sie!“ sagte Louise.
Und die Witwe nahm sie.
Dick Maynard drehte sich ohne ein Wort
um, legte seinen Arm um Wanda und zog sie weg. Wanda sah zurück,
lautlos weinend. Doch Louise vermied ihre Augen.
„Komm, Liebes“, ermunterte sie Dick
zärtlich, Ich werd' dich nach Hause bringen. Du mußt dich
ausruhen.“
Im nächsten Moment waren sie gegangen.
Ella Minton begann plötzlich zu
schniefen, ihre klobigen weißen Hände aufs Gesicht gepresst, und
ihre Schultern bebend in Verzweiflung.
„Oh Louise“, schluchzte sie, nach
einem Taschentuch grabbelnd, während die Tränen über ihre Wangen
liefen. „Warum hast das gemacht? Warum hast du sowas Furchtbares
gemacht? Und zu denken, dass es passiert ist, kurz bevor du... bevor
du...“
Sie fand ihr Taschentuch und schluchze
erneut. „Ich hab dich immer so gerne gemocht, Louise, und – zu
stehlen – also... sowas hätte ich dir niemals zugetraut!“
Louise lächelte grimmig.
„Danke!“ sagte sie, und schloß die
Augen.
Originaltitel: Trough the Dragon's
Valley
Detective Story Magazine, 10. 12. 1918
Übersetzung: Matthias Käther © 2018
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