Fast immer sind
es uralte Häuser, in denen sonderbare übernatürliche Dinge
vorgehen. Manchmal kann aber auch in einem ganz neuen Bau das Grauen
lauern. Besonders, wenn der Architekt nicht alle Tassen im Schrank
hat...Eine originelle Variante der Spukgeschichte von David Wright
O'Brien.
I
Damals, Anfang '43, stürmte ein
gewisser Stoddard in mein Büro. Dieser Typ war einer der
schwierigsten Kunden, mit denen ich je zu tun hatte. Auf den ersten
Blick würdest du sagen: typischer sanfter Vorort-Hausbesitzer, der
sich sechs Tage in der Woche abrackert und am siebenten seinen Rasen
wässert. Physisch jedenfalls war er die Inkarnation des
durchschnittlichen amerikanischen Spießers. Glatze, Mitvierziger,
Brille auf, kleiner Vorbau. Kurz, denk ihn dir wie die meisten
Bürohengste in seinem Alter, und du hast ein wunderbares Prachtstück
von Beamten, die Sorte, die du in jedem Comic mit Thema „Vorstadt“
sehen kannst.
Bloß, worauf ich hinaus will, ist:
dieses ganze Stoddard-Äußere war ziemlich täuschend. Er war die
Sorte Kunde, die wir in unserer Bauunternehmer-Branche als eine
Kombination aus Klugscheißer und Exzentriker bezeichnen.
Als er und seine Frau mit ihren Plänen
für ihr Haus kamen, das sie in Mayfairs zweitem Viertel gebaut haben
wollten, waren sie voller Ideen. Präziser Ideen. Genaugenommen
wußten sie exakt, was sie haben wollten.
Dieser Stoddard – sein voller Name
war George B. Stoddard – hatte penibel auf über zwanzig Blättern
Zeichenpapier seine Visionen aufgepinselt. Die durchgeknalltesten
Visionen, die du je gesehen hast.
„Diese Entwürfe sind jetzt nicht
grade auf den Millimeter genau, Mr. Kermit“, hatte dieser Stoddard
eingeräumt. „Ich behaupte ja auch nicht, ein
Top-Architekturzeichner zu sein. Aber meine Frau und ich haben schon
seit Jahren einige...Ideen, und diese Zeichnungen sind das stolze
Ergebnis jahrelanger Tüftelei.“
Ich schaute bißchen angefressen auf
diese „Pläne“. Das Haus, das sie da haben wollten, war die
Kombination aus so ziemlich allen architektonischen Alpträumen, die
der Menschheit bekannt sind. Es war die Sorte von Behausung, die sich
ein respektabler Bauunternehmer ausmalen würde – wenn er am
Malariafieber starb.
Ich konnte ihre Blicke spüren, als ich
ihre Traumhausentwürfe durchging. Sie beobachteten mich auf das
erste Zeichen von Mißfallen, Amüsement oder Abscheu hin. Sie lagen
auf der Lauer, um sich ihre „Pläne“ zu schnappen und aus meinem
Büro zu stolzieren, sollte ich derartige Symptome zeigen.
„Hmmmmm...Ummmmm...“ murmelte ich
unverbindlich.
„Was halten Sie davon, Kermit?“
wollte Stoddard wissen.
Ich hatte so eine Ahnung, dass sie
zuvor bei andren Bauunternehmern vorbeigeschaut hatten.
Bauunternehmern, die taktlos genug waren, sie unverschämterweise zu
bitten, ihr Glück woanders zu versuchen.
„Sie, äh, haben da
etwas...entschieden...Unübliches im Sinn, Mr. Stoddard“,
antwortete ich ausweichend.
„Genau.“ nickte er. „ Das ist
unser Traumschloß.“
Ich schauderte bei dieser Formulierung.
Wenn Du Eiscreme, saure Gurken, Hering und Bier verquirlst und dich
nach dem Genuß ein Stündchen aufs Ohr haust – könnte so ein
Traumschloß bei rauskommen.
„Das, ähm, würde...ein etwas andrer
Auftrag sein als sonst“, krächze ich. „Das ist nicht grade
üblich, was Sie sie hier...entworfen haben.“
„Weiß ich“ bekannte Stoddard
stolz. „Und ich bin durchaus bereit, die spezielle Zusatzarbeit gut
zu bezahlen, die zweifellos beim Bau erforderlich sein wird.“
Das war natürlich was anderes. Und
möbelte mich etwas auf.
„Ich müßte diese Pläne von meinen
eigenen Zeichnern überprüfen lassen, bevor ich endgültig eine
Einschätzung abgeben kann, ob das Projekt umsetzbar ist “, sagte
ich ihm.
George B. Stoddard wandte sich zu
seiner Frau um.
„Ich habs dir gesagt, Laura,“
dröhnte er, „früher oder später werden wir einen Unternehmer
finden – einen Mann mit Geist und Vorstellungskraft!“
II
Dann folgte zweimonatiges Feilschen
zwischen Stoddard und meinen Zeichnern, bevor wir damit anfangen
konnten, die Horrorvision in die Realität umzusetzen, den mein Kunde
sein „Traumschloß“ nannte. Zwei Monate Feilschen mit dem
Versuch, Stoddard dazu zu bringen, auf wenigstens ein paar von seinen
bizarren Ideen zu verzichten. Doch er gab keinen Zoll nach, und zu
der Zeit, als wir das Fundament für seinen Traumschuppen legten, war
auch jede einzelne Original-Schrulle aus seinen „Plänen“ fest in
unsren Arbeitsablauf einzementiert.
Ich wurde von verdächtig vielen
anderen Bauunternehmern der Gegend böse aufgezogen, nachdem sie
spitzbekamen, dass ich Stoddards Haus baute. Wie es schien, war er
vorher bei jedem einzelnen von ihnen gewesen.
Doch das Gespött machte mir nicht viel
aus – damals jedenfalls noch nicht. Denn auch wenn Stoddard uns
alle damit nervte, dass er den ganzen Tag wie ein paranoider Bussard
auf der Baustelle herumflatterte, um zu kontrollieren, dass auch alle
seine „Ideen“ eins zu eins in die Tat umgesetzt wurden, stellte
er doch hübsch brav einen großen Scheck nach dem andern aus.
Er hatte ja gesagt, dass er sich nicht
lumpen lassen würde, sollten im Kielwasser seiner bekloppten
Konstruktionsvisionen irgendwelche Probleme auftauchen, und ich muß
sagen, er mag ein Faß voller Fehler gewesen sein, doch geizig war
ein nicht. Der Zaster floß in Strömen.
Also finanziell ging's mir jedenfalls
blendend, danke der Nachfrage. Aber mental...naja, es gab Zeiten, da
hätte ich die Grundrisse lieber mit Dracula diskutiert.
Um es offen auszusprechen – der Typ
hatte keinen blassen Schimmer von Architektur oder
Konstruktionsgesetzen. Natürlich nicht. Er wußte einfach nur, was
er haben wollte. Bei Gott, wußte er, was er haben wollte!
„Das Layout vom Keller-Heizkessel ist
nicht so wie auf meinen Plänen!“ knurrte er mich einmal wütend am
Telefon an.
„Aber es weicht nicht groß vom
Original ab“, flehte ich. „Ganz nebenbei, so wie er jetzt ist,
entspricht er auch den Bauvorschriften.“
„Es muß doch menschenmöglich sein,
eine Sache so zu machen, wie ich sie geplant habe!“
„Ähm...Ja. Aber aus Sicherhei...“
„Dann machen Sie es so wie geplant!“
schnaubte er und legte auf. Und natürlich haben wir es dann so
gemacht, wie es geplant war.
Die Bauarbeiter waren ein weiteres
Problem. Sie begannen bald die Schnauze voll davon zu haben, dass
Stoddard ihnen ständig zwischen den Beinen rumlief und Anweisungen
trompetete, die im Gegensatz zu jeder geistig gesunden
Urteilsfähigkeit und zum guten Geschmack standen.
Doch trotz allem machte die
Monstrosität Fortschritte.
Stell dir vor: Ein gigantisches Iglu,
vorn verziert mit römischen Säulen, wie man sie vor vielen alten
Südstaaten-Anwesen findet, gekrönt von Giebeln in der Mode des 18.
Jahrhunderts. Ergänze noch zwei Flügel in einer Kombination aus
früher mexikanischer Bauweise und arabischen Moscheen-Stil, und du
hast eine grobe Vorstellung, wie das Ding aussah. Die Leute kamen von
meilenweit her, um sich das Haus auszusehen, nachdem die Arbeiter
gegangen waren.
Aber die Stoddards waren begeistert.
Sie waren begeistert von dieser Scheußlichkeit wie ein paar Kinder,
die ein Tarzan-Baumhaus zusammengehämmert hatten. Und die
Bonus-Gelder für die „zusätzlichen Probleme“ taten mir auch
nicht weh.
Ich werde nie den Tag vergessen, als
wir den Glockenturm vollendeten, der den Moloch krönte. Ja, du hast
richtig gehört. Ein Glockenturm. Die Sorte, die du auf kleinen
ländlichen Kirchen und Schulgebäuden sehen kannst. Aber dieser hier
war natürlich auch ein bißchen – anders.
Die Stoddards waren rausgekommen, um
dem feierlichen Moment der Vollendung ihres Traumhauses beizuwohnen.
Ich war fast genauso glücklich wie
sie, denn dieser Augenblick war ein Symbol für das Ende fast aller
meiner Sorgen.
Als wir da so zusammen rumstanden und
zuschauten, kam mein Vorarbeiter zu uns rüber.
„Wolln' Sie eine Glocke in ihren
Glockenturm?“ fragte er.
George Stoddard sah ihn an, als wäre
er nicht ganz dicht.
„Wozu denn?“ fragte er zurück.
„Na, damit man den Gockenturm
benutzen kann!“
„Machen Sie sich nicht lächerlich!“
schnaubte Stoddard. „Es ist völlig ausreichend für uns, ihn
anzugucken!“
Als der Vorarbeiter kopfschüttelnd
abmarschiert war, wandte ich mich zu den Stoddards.
„Tja, jetzt ist es gleich soweit“
meinte ich. „Zufrieden?“
Stoddard strahlte. „Sie haben keine
Ahnung, Mr. Kermit“, sagte er feierlich, „was für ein
überwältigender Moment das ist – für meine Frau und mich.“
Ich schaute zur dröge lächelnden
Laura Stoddard. Nach dem Glanz in ihren Augen zu urteilen, schien
Stoddard zu meinen, was er sagte. Dann blickte ich nach dem
Glockenturm und schauderte.
Wie ich schon angedeutet habe, suchte
auch dieser Glockenturm seinesgleichen und war von einer Sorte, die
noch keines Menschen Auge bisher erschaut hatte. Er schraubte sich
auf sonderbare Weise in einem Labyrinth geometrischen Wahnsinns in
die Höhe, ein berechneter Fiebertraum, der zwar Methode hatte, aber
keine Vernunft.
Wenn ich mir das Ganze so ansah, so
machte die Spitze dieses Irren-Hauses den Eindruck eines grotesk
aufgeklatschten Kirsch-Toppings, sie wirkte wie die Schlagsahne auf
einem Fruchteis des Grauens, zusammengerührt von einer neurotischen
Eismaschine. Ein hübscher Gesamteindruck.
Stoddards Stimme durchbrach meine
ziemlich flauen Gedankengänge.
„Wann können wir einziehen?“
fragte er gespannt.
„In der zweiten Hälfte der nächsten
Woche“, versicherte ich ihm. „Wir sollten bis dahin mit allem
durch sein.“
„Gut!“ dröhnte Stoddard.
„Wundervoll!“ Er legte seinen Arm um seine Frau, und die beiden
begafften starren Auges ihr neues Heim. Irgendwie ließ mir dieser
Anblick einen Kloß in die Kehle steigen, wie sie da so standen,
glückselig und umschlungen. Der Kloß rutschte hastig die Kehle
wieder hinunter, als mir klar wurde, worauf sie
starrten.
„Ach,
übrigens“, sagte ich nonchalant im Glauben, nun wäre ein guter
Moment, um sie an eine bestimmte Idee zu gewöhnen, „die äh...
etwas ungewöhnliche Konstruktion des Hauses wird es nötig machen,
von Zeit zu Zeit ein paar Dinge zu kontrollieren und nachzubessern.
Sie erinnern sich hoffentlich, dass ich das schon am Anfang der
Planung gesagt habe?
Stoddard nickte und
tat die Bemerkung gelassen als Bagatelle ab.
„Klar
erinnere ich mich, dass Sie irgendwas in dieser Richtung
erwähnt haben. Ich werde Sie nicht für ein paar kleine Reparaturen
verantwortlich machen, die dieses einzigartiges Bauwerk vielleicht
später benötigt.
„Danke“, gab ich trocken zurück.
„Ich wollte nur sichergehen.“
III
Die Stoddards zogen in dem Moment ein,
als der letzte Handschlag an ihrem Traummonster getan war. Ich
bezahlte meine Leute, schaufelte einen hübschen Profit auf mein
Konto und ging zurück an die Arbeit, um wirkliche Häuser
zu bauen. Ich dachte, meine Probleme mit den Stoddards wären
Vergangenheit.
Aber – natürlich!
- lag ich falsch.
Er war ein voller
Monat, nachdem die Stoddards in ihr Irrenhaus eingezogen waren, als
ich den ersten empörten Telefonanruf von George B. Stoddard erhielt.
„Mr.
Kermit“, schnauzte die wütende Stimme am anderen Ende, hier ist
George B. Stoddard!“
Ich zuckte beim
Namen und der nur allzu vertrauten Stimme zusammen, doch ich zwang
mich zu einem freundlichen Jubelruf.
„Wie
schön, Mr. Stoddard“ drötete ich, „Wie geht’s ihnen und der
Gemahlin denn so in Ihrem Traumschloß?“
„Genau
deshalb“, knirschte George B. Stoddard, „rufe ich an. Wir haben
ziemlich große Schwierigkeiten mit einigen Aspekten der Bauweise,
für die Sie verantwortlich sind!“
„He,
Moment mal!“ setzte ich an, „Ich dachte, wir hätten uns drauf
geeinigt, dass...“
„Wir
hatten uns darauf geeinigt, dass man von Zeit zu Zeit mit kleineren
Reparaturen rechnen muss, die den Bauplänen geschuldet sind“,
unterbrach mich Stoddard harsch. „Weiß ich.“
„Wo
liegt dann das Problem?“
„Das
Haus ist rattenverseucht!“ heulte Stoddard dramatisch in den Hörer.
„Ratten?“
echote ich.
„Genau
die.“
„Aber
das ist unmöglich“, protestierte ich. „Das ist ein nagelneues
Haus, und Ratten pflegen nicht in...“
Stoddard unterbrach
mich erneut. „Mir egal, was Ratten pflegen. Wir haben welche da,
und das ist ganz allein Ihre Schuld!“
„Wieso
soll das meine Schuld sein?“ Ich wurde jetzt auch ein klitzekleines
bißchen säuerlich.
„Weil
es nicht meine Schuld ist. Die von meiner Frau auch nicht. Und das
Haus ist, wie Sie selbst grade so schön bemerkten, nagelneu.“
„Also
jetzt hören...“ fing ich an.
„Ich
verlange, dass Sie sofort hier rauskommen und sich das ansehen!“
tobte Stoddard.
„Ansehen?
Haben Sie eine gefangen?“
„Ähm,
nein.“ gab Stoddard zu. Aber...
Diesmal war ich
dran mit Dazwischengrätschen.
„Woher
wissen Sie dann, dass es Ratten sind?“ fragte ich triumphierend.
„Weil“,
- Stoddard schrie jetzt fast -, „weil ich sie hören kann! Und
meine Frau hört sie auch!“
Daran hatte ich
nicht gedacht.
„Oh!“
sagte ich. „Okay.“ Ich legte auf und suchte meinen Hut. Diese
Visite würde kein Zuckerschlecken werden, das wußte ich. Aber zum
Teufel, ich mußte zugeben: Wenn Stoddard und seine Frau Geräusche
hörten, die wie Ratten klangen, war das ein berechtigter Grund zur
Klage. Denn ich hatte die Bauleitung gehabt, und kein noch so
durchgeknalltes Design des Gebäudes konnte das Vorhandensein von
Ungeziefer erklären.
Beide Stoddards
empfingen mich an der Tür, als ich zum Mayfair-Bezirk rausfuhr, in
der ihr Monstrum stand. Als sie mich in ihr Wohnzimmer führten,
bekam ich eine hübsche Vorstellung davon, wie ihre
Inneneinrichtungs-Visionen beschaffen waren. Sie wichen nicht groß
von den andern ab. Natürlich nicht. Das Ganze war eine wilde
Mischung von Gerümpel aus allen Teilen der Welt, das sie überall im
Haus möglichst unvorteilhaft verteilt hatten.
Sie führten mich
vorbei an einem frühen amerikanischen Bibliothekstisch hin zu einem
niedrigen marokkanischen Sofa. Beide zogen sich Stühle mit
französischem und holländischem Design heran.
Mich so umzingelt
fühlend von einem kleinen Kreis empörter Kunden, begann ich meinen
Hut in den Händen zu drehen, und starrte unbehaglich auf meine
Umgebung.
„Hübsch
haben Sie's hier“, bemerkte ich.
„Wissen
wir“, erklärte Stoddard und übersprang die Banalitäten. „Kommen
wir doch sofort zur Sache.“
„Zu
den Ratten?“
„Zu
den Ratten.“ wiederholte Stoddard. Seine Frau nickte empathisch.
Stille. Einige
Minuten verstrichen wohl so. Ich räusperte mich.
„Ähem.
Ich dachte, Sie...“
„Schschsch!“
zischte Stoddard. „Ich will, dass Sie da sitzen und die Geräusche
hören, so wie wir sie gehört haben. Dann können Sie Ihre eigenen
Schlüsse ziehen. Ruhe, bitte.“
Also sagte ich kein
Wort mehr. Und meine Gastgeber auch nicht. Wir saßen da wie
Delegierte eines Stummen-Kongresses, die zu müde waren, ihre Hände
zu benutzen. Diesmal wirkte die Stille sogar noch unheilvoller.
Mehrere Minuten
mußten verstrichen sein, bevor ich sie hören konnte – die
Geräusche. Ich nahm sie erst spät bewußt wahr, weil ich das
typische Kratzen von Rattenfüßen erwartet hatte und nicht
vorbereitet war auf das, was ich dann wirklich zu hören bekam.
Mr. und Mrs.
Stoddard hatten ihren Kopf seitwärts geneigt, und sie starrten mich
intensiv an, auf ein Zeichen wartend, dass ich die Geräusche
identifizierte.
Zunächst schien
das Rumoren ganz fern zu sein...verschwommen sozusagen, wie ein fast
unhörbares Knattern von Radio-Statik. Dann, als ich meine Ohren
darauf konzentrierte, begann ich leise Quieker wahrzunehmen und
kurze, scharfe Sprotzer, etwa wie das entfernte Ploppen von kleinem
Tischfeuerwerk.
Ich schaute zu den
Stoddards.
„Okay“,
gab ich zu. „Ich höre die Geräusche. Scheinen von irgendwo hinter
den Wänden zu kommen“.
„Hab
ichs Ihnen nicht gesagt?“ Stoddard sah selbstzufrieden und
triumphierend drein.
„Aber
das sind keine Ratten,“ setzte ich nach. „Ich kenne die
Geräusche, die Ratten machen. Und das hier sind keine
Ratten-Geräusche.“
Stoddard setzte
sich kerzengrade auf. „Was?“ fauchte er aufgebracht, „Sie
sitzen da herum und wollen mir ernsthaft einreden...“
„Will
ich“, schnitt ich ihm das Wort ab. „Haben Sie jemals
Ratten-Geräusche gehört?“
Stoddard blickte
seine Frau an. Beide warfen ihre Stirnen in Falten. Und blickten zu
mir zurück.
„Naja...nein...“
gab er zögernd zu. „Jedenfalls nicht, bevor wir diese Ratten hier
bekommen haben. Davor hatten wir noch nie welche.“
„Und
so haben Sie sich eben mal schnell überlegt, tja, das klingt wie
Ratten,“ bohrte ich nach, „ohne auch nur im entferntesten zu
wissen, wie sich eine Ratte anhört?“
Stoddard stand
aprupt auf. „Aber verdammt noch mal“, explodierte er, „wenn es
keine Ratten sind – was ist es dann?“
Ich zuckte mit den
Achseln. „Keine Ahnung“, gab ich zu. „Es klingt, als würde es
durch irgendwelche Röhren verstärkt. Vielleicht sollten wir das
Haus absuchen, vom Keller zum Dachboden, wie man so schön sagt,
was?“
Stoddard überlegte
eine Minute. Dann nickte er. „Klingt vernünftig“, räumte er
ein.
Ich folgte dem
Amateur-Desinger und Besitzer eines stolzen Irrenhauses in den
Keller. Dort begannen wir die ausführliche Suche nach der Quelle der
Geräusche. Er schnippte den Lichtschalter an, und ich blickte mich
um. Der Kessel und alles andere waren noch ganz richtig da, wo ich es
in Erinnerung hatte – an der falschen Stelle.
Da stand eine
Anzahl von versiegelten 20-Liter-Kanistern herum, schön aufgereiht
unter dem Kessel. Ich tippte auf einen von ihren und fragte, was das
für Zeug sei.
„Benzin“,
erklärte er.
„Verdammt
ungünstiger Ort dafür.“
Ein mir vertrautes
Glimmen erschien in Stoddards Augen.
„Die
Dinger stehen genau da, wo ich sie haben will“, knurrte er.
„Schönschön." beschwichtigte ich. „Lassen Sie es bloß nicht einen von diesen
Versicherungsfritzen sehen.“
Wir stocherten noch
eine Weile im Keller herum, doch schließlich, als wir nichts fanden,
was auf die Quelle der Geräusche hindeutete, kehrten wir zurück ins
Erdgeschoss.
Unsere Untersuchung
der Rohrleitungen und anderer potentieller Sound-Leiter verlief dort
ebenso im Sande, obwohl dort die Geräusche ein bißchen stärker zu
vernehmen waren als im Keller.
Ich blickte etwas
hilflos zu Stoddard hinüber. „Wir versuchens besser im ersten
Stock“, sagte ich.
Ich folgte ihm die
Treppen rauf zur nächsten Etage. Abgesehen vom bizarren Glockenturm
direkt über dem Dachboden war es das oberste Stockwerk dieses bizarr
konstruierten Domizils.
Die Geräusche
waren hier deutlich besser zu hören, besonders im zentral gelegenen
Schlafzimmer.
Wir kontrollierten
die zweite Etage zweimal gründlich und gelangten dann wieder in
dieses Schlafzimmer, bis ich bemerkte, dass wir hier direkt unter dem
Dachboden standen.
Ich sagte es
Stoddard.
„Dann
könnten wir eigentlich auch gleich nachschauen“, meinte er.
Diesmal machte ich
die Vorhut, als als wir durch die Luke kletterten.
„Haben
Sie jemals hier oben nach ihren... sogenannten 'Ratten' gesucht?“
fragte ich über meine Schulter hinweg.
Stoddard gesellte
sich zu mir, knipste eine Taschenlampe an und ließ den Strahl über
die Dachsparren schweifen. „Nee.“ schnaufte er. „Natürlich
nicht.“
Ich hatte gerade
den Mund geöffnet um zu antworten, als mir plötzlich bewußt wurde,
dass die Geräusche hier definitiv lauter waren. Immer noch in einer
gewissen Distanz, doch nicht mehr verschwommen klingend. Geräusche,
die eigentlich gar keine Geräusche waren, sondern – Stimmen! Ich
umklammerte Stoddards Arm.
„Hören
Sie!“
Wir standen da,
ganz still, für vielleicht eine Minute. Ja, da gab es gar keinen
Zweifel. Diese Geräusche waren menschliche Stimmen.
„Großer
Gott!“ krächzte Stoddard.
„Ratten,
he?“ fragte ich sarkastisch.
„Aber...Aber...“
begann er. Er war offensichtlich völlig durcheinander
„Es
gibt da drüben in den Wänden eine Art Zetralröhre und einen Haufen
Kabel. Nicht dass sie da langlaufen sollten, aber wir waren
gezwungen, sie so zu verlegen – dank Ihrer Pläne. Diese Stimmen
werden durch die Röhre und die Kabelkanäle verstärkt, so dass wir
sie überall im Haus hören können. Sagen Sie mir einfach, wo Ihr
Radio steht, und wir konnen das Problem beheben.“
Stoddard sah mich
eine lange Zeit stumm an.
„Wir
haben kein Radio,“ verkündete er mit Grabesstimme.
Ich muß zugeben,
ich war ziemlich platt.
„Sind
Sie ganz sicher?“
„Woll'n
Sie mich veräppeln?“ schnaubte er.
Ich stand da,
kratzte mir meinen Kopf und fühlte mich blöd. Dann kam mir eine
andre Idee.
„Waren
Sie je in diesem, äh, ornamentalen Glockenturm, seit Sie eingezogen
sind?“
„Natürlich
nicht. Er ist zum Angucken
da, nicht zum Rausgucken.“
„Ich
habe so eine Ahnung, dass die Geräusche da oben besonders deutlich
sind“, deutete ich behutsam an.
„Wieso
das denn?“
„Nur
so eine Ahnung.“ Ich kratze wieder meinen Kopf.
„Also
das ist eine ziemlich bescheuerte Ahnung“, meinte Stoddard. Dann
drehte er sich brüsk um und schickte sich an, den Dachboden zu
verlassen. Ich folgte ihm.
„Sie
müssen zugeben – es sind keine Ratten“ rief ich.
Stoddard murmelte
irgendwas, das ich nicht verstehen konnte. Als wir die erste Etage
erreichten, erwartete Mrs. Stoddard uns schon berstend vor Neugier.
„Haben
Sie rausgefunden, wo die Ratten stecken“?
Stoddard warf mir
einen Blick zu. „Sind keine Ratten“, meinte er nach spürbarem
Zögern. „Diese Geräusche – die klingen wie ferne Stimmen... wie
Menschen, die herumlaufen. Hast du irgendwas gesagt, als wir oben
waren, Laura?
Mrs. Stoddard
schaute ihren Mann überrascht an. „Mit wem hätte ich denn reden
sollen?“ fragte sie sehr logisch.
Ich hatte jetzt
genug. Ich war verdammt müde, diese seltsam entworfenen Flure von
Stoddards Alptraumhaus entlangzulatschen und überdurchschnittlich
begabte Ratten zu jagen, die mit menschlichen Stimmen sprachen.
„Wenn
hier ein unerklärliches Echo auftaucht“, dozierte ich streng,“
dann ist das der Konstruktion geschuldet. Vergessen Sie nicht, Sie
wollten den Kasten genauso haben wie er ist. Nun, da wir zu Ihrer
Zufriedenheit nachgewiesen haben, dass es sich nicht um Ratten
handelt, kann ich ja gehen. Schönen Tag noch.“
Ich griff nach
meinem Hut, und weder Stoddard noch seine Frau brachten ein Wort
heraus. Ihr anmaßendes Verhalten war verschwunden; sie schienen
sogar ein wenig eingeschüchtert zu sein.
Es war zwei Uhr,
als sich sie verließ. Ich hatte mehr als eine Stunde Lebenszeit
damit verschwendet, für sie menschliche Ratten zu suchen, eine
weitere halbe Stunde ging für die Fahrerei drauf. Folgerichtig war
ich ziemlich geladen, als ich ins Büro zurückkam.
Du kannst dir
deshalb meinen emotionalen Zustand sicher lebhaft vorstellen, als,
fünfundzwanzig Minuten nach meiner Ankunft im Büro, Stoddard erneut
anklingelte.
„Mr.
Kermit“, brabbelte er aufgeregt, hier ist nochmal George B.
Stoddard...Mr. Kermit!“
„Was
ist jetzt schon wieder?“ schrie ich. „Und sagen Sie nicht, sie
haben Termiten!“
„Mr.
Kermit“, krächzte Stoddard, Sie müssen sofort wieder herkommen,
Mr. Kermit!“
„Den
Teufel werd ich“ sagte ich ihm ungeniert und hängte auf.
Das Telefon
klingelte erneut nach einer halben Minute. Es war Stoddard. Natürlich
war ers.
„Mr.
Kermit, biiiittttteee, hören Sie mir zu! Ich flehe Sie an, kommen
Sie sofort her! Es ist wahnsinnig wichtig!“
Diesmal sagte ich
nichts. Ich hängte einfach auf.
Nach einer halben
Minute bimmelte es erneut. Ich war auf hundertachtzig, als ich
diesmal ranging.
„Hören
Sie“, brüllte ich, „Es ist mir wurscht, was für Geräusche Sie
diesmal hören...“
Stoddard schnitt
mit das verzweifelt Wort ab, mich aus Leibeskräften überbrüllend.
„Ich
höre nicht nur die Geräusche! Ich sehe die... Leute, die sie
machen!
Das haute mich aus
den Pantoffeln.
„Hä?“
machte ich.
„Der
Glockenturm“, schrie er, „ich bin hoch in den Glockenturm, und
da...da kann man sie sehen...die...Leute, deren Stimmen wir gehört
haben!“ Es gab eine Pause, in der er versuchte, zu Atem zu kommen,
dann schrie er erneut. „Sie müssen rüberkommen! Sie sind der
einzige Mensch, dem ich das zeigen kann!“
Stoddard war ein
Exzentriker, klar doch, allerdings nur, was seinen
Architektur-Geschmack betraf. Das mußte ich mir ehrlichkeitshalber
eingestehen, als ich so dasaß und benommen den Telefonhörer in
meiner Hand anstarrte.
„Okay“,
sagte ich, aus keinem Grund, der irgendeiner logischen Analyse
standgehalten hätte, „okay, legen Sie auf. Ich bin in zwanzig
Minuten da.“
IV
Diesmal öffnete
Mrs. Stoddard mir die Tür. Sie sah besorgt aus, fast geschockt, und
sehr konfus.
„George
ist oben, Mr. Kermit. Er will nicht, das ich da raufgehe. Er hat
gesagt, ich soll sie sofort raufschicken, wenn Sie kommen. Er ist auf
dem Dachboden.“
„Was
zum Teufel...“ begann ich.
„Keine
Ahnung“, hauchte sie. „Ich war unten im Keller, ein paar Sachen
trocknen, als ich George oben furchtbar schreien hörte. Dann war er
unten, um Sie anzurufen. Ich weiß nicht, was das alles zu bedeuten
hat...“
Ich stürmte wie
der Blitz auf den Dachboden, mir fast die Vorderzähne an der oberen
Treppenkante ausschlagend. Dann stolperte ich durch die Dunkelheit
des Bodens und sah eine Taschenlampe in einer Ecke herumzappeln.
„Kermit?“
Stoddards Stimme.
„Ja“,
gab ich zurück. „Was in aller Welt soll das Ganze? Sie erklären
mir besser schnell...“
„Genau!
Schnell!“ drängte er. „Kommen Sie her, loslos!“
Ich verfing mich in
Bretterspalten und wankte taumelnd zu ihm hinüber – endlich stand
ich neben ihm. Ich starte dorthin, wo der Strahl seiner Lampe hinfiel
– auf ein gezacktes offenes Loch. Er hatte diverse Schichten an
Isoliermaterial herausgerissen, um dort durchzustoßen.
Für eine ganze
Weile konnte ich im blendenden Licht nichts Definitives erkennen.
Stoddard hatte meinen Arm umklammert, immer und immer wieder ein Wort
stammelnd.
„Da!
Da! Da!“
Als sich meine
Augen an die Helligkeit gewöhnt hatten, merkte ich, dass ich ins
Innere des seltsamen Glockenturms starrte, der das monströse Haus
krönte. Es war, als würde man auf eine Art grauer nebelhafter
Kinoleinwand starren. Und dann hörte ich die Stimmen. Laut und klar
verständlich. Allerdings sprachen sie in einer Sprache, die ich
nicht sofort zuordnen konnte.
„Wa...“
„Schsch!“
zischte Stoddard. „Sagen Sie kein Wort! Nur – zuhören!“
Ich hielt meinen
Atem an, obwohl das nicht nötig gewesen wäre. Wie ich schon sagte,
die Laute kamen deutlich genug aus dem Glockenturm, so als wären die
Personen nur fünf Schritte entfernt. Doch nichtsdestotrotz hielt ich
den Atem an – und fokussierte meine Augen angestrengt auf den
nebelhaften grauen Fleck, auf den das Licht gerichtet war.
Und dann begriff
ich es. Die Stimmen sprachen in deutsch. Es waren zwei. Beide harsch
und maskulin.
„Was
in aller Welt...“ begann ich. „Ist das ein Kurzwellengerät,
oder...“
Stoddard unterbrach
mich.“Sehen Sie es nicht?“ flüsterte er.
Die Stimmen fuhren
fort zu reden, während ich meine Augen noch mehr anstrengte, um die
graue Masse zu durchdringen, die das Loch in der Decke einhüllte.
Dann sah ich es endlich. Sah es wie durch ein dünnes Gazenetz.
Ich schaute in eine
Art Raum. Einen großen Raum. Einen unglaublich großen Raum. Ein
Raum, so groß, daß ein Dutzend Glockentürme reingepasst hätten.
Und dann wurde alles klarer. Da war ein Schreibtisch am Ende des
Raumes. Ein gewaltiger überladener Schreibtisch. Und hinter dem
Schreibtisch saß ein kleiner, grau uniformierter Mann mit winzigem
Schnurrbart.
Dann war da ein
zweiter Mann mit gewaltigem Bauchumfang, der neben dem Schreibtisch
stand und auf eine Landkarte an der Wand zeigte. Er babbelte
aufgeregt auf den kleinen Mann am Schreibtisch ein, und auch er trug
eine Uniform, deren grelle Extravaganz fast lächerlich wirkte.
Die beiden
schnatterten weiter auf deutsch, offensichtlich redeten sie über die
Karte, auf die der buntuniformierte Dicke zeigte.
Ich wandte mich
ungläubig um zu Stoddard.
„Wa-wa-was
zur Hölle...“
Stoddard schien
plötzlich immens erleichtert. „Sie sehen es auch...und hören es
auch!“ raunte er. „Gott sei Dank!, Ich bin nicht durchgeknallt!“
Ich griff
haltsuchend nach seinem Arm.
„Aber...
Sie...“, fing ich an.
„Vergessen
Sie's!“ zischte er. „Wir beide können nicht verrückt sein. Das
sind die Stimmen, die wir vorhin beide gehört haben! Und da sind die
Sprecher. Diese verdammten [fünf Wörter von der Redaktion
zensiert] Mistkerle! Hitler und
Göring!“
Tja, so war es. Er
hatte es ausgesprochen. Ich hätte es nicht gewagt. Es klang zu
verrückt, zu wild und zu abgedreht, um so etwas zu sagen. Ich
blickte wieder durch dieses graue Käsepapier von Nebel in den Raum.
Nein, die beiden
konnten niemand anders sein als Hitler und Göring. Und mit wurde
plötzlich klar, dass die Karte, auf die Göring so häufig zeigte,
die von Österreich war.
„Bloß
was...“ fing ich wieder an.
Stoddard sah mir in
die Augen. „Ich verstehe ein bißchen Deutsch“, sagte er. Sie
reden über eine Invasion in Österreich. Und wenn Sie genau
hinsehen, da, in der Ecke der Karte steht ein Datum – 1938!“
Ich strengte meine
Augen an, und tatsächlich, jetzt sah auch ich die Ziffern. Ich
wandte mich zu Stoddard.
„Wir
sind eindeutig verrückt“, beschloß ich panisch, „wir sind beide
sabbernde, völlig abgedrehte Vollidioten... Lassen Sie uns hier
verschwinden!“
„Wir
schauen fast fünf Jahre zurück in die Vergangenheit!“, flüsterte
Stoddard unbeeindruckt von meinem Ausbruch. „Wir schauen zurück,
fünf Jahre, nach Deutschland, in den Raum, in dem Hitler und Göring
über den bevorstehende Einmarsch in Österreich sprechen. Ich dachte
auch, ich wäre verrückt, als mir das zuerst klar wurde, aber –
jetzt glaube ich das nicht mehr.“
Tja, vielleicht lag
er falsch. Vielleicht waren wir ja beide verrückt.. Aber - egal, was
du jetzt denkst – irgendwie glaubte ich ihm. Ich wußte, dass
irgendwie durch irgendeinen wilden, fast unmöglichen Zufall der
Glockenturm in Stoddards beklopptem Haus eine Tür durch Raum und
Zeit war, zurück ins Jahr '38 und in den Raum, wo Adolf Hitler und
Hermann Göring die Eroberung Österreichs planten.
Stoddard holte
etwas aus seiner Tasche. „Jetzt, wo Sie hier sind, kann ichs ja
mal ausprobieren“ flüsterte er.
Ich schaute auf
das, was er da in der Hand hielt. Es war ein Stein, der an einer
langen Schnur festgebunden war.
„Ausprobieren?
Was verdammt noch mal wollen Sie denn...?“
„Na
gucken, ob man dieses graue Nebeldings durchdringen kann!“
Stoddard schwang
den Stein in weitem Bogen an der Schnur herum. Und plötzlich ließ
er ihn los, so dass er direkt durch den grauen Schleier in der Decke
und in den Glockenturm schoß. Oder genauer gesagt, in den großen
Raum im kleinen Turm.
Ich sah und hörte
den Stein an der Schnur auf dem Marmorboden des Raums aufschlagen.
Dann begann Stoddard ihn mit großer Hast wieder in den Dachboden
zurückzuziehen.
Denn die Auswirkung
auf die Bewohner des Raumes über uns war sofort spürbar. Göring
wirbelte herum, die große Wandkarte nun im Rücken, seine Augen
irrten scharf musternd durch das Zimmer. Eine Pistole blitzte in
seiner Hand.
Auch Hitler, halb
erhoben hinter seinem überladenen Schreibtisch, musterte den
riesigen, ansonsten leeren Raum mit wilden Blicken.
Natürlich sah
keiner von beiden etwas. Stoddard, der jetzt an meiner Seite
aufgeregt schnaufte, hatte den Stein inzwischen wieder ganz in unsere
Zeit und Dimension zurückgeholt. Seine Augen glühten.
„Es
könnte – funktionieren!“ flüsterte er leidenschaftlich. „Man
kann – hindurch!“
„Aber
was in al-“ begann ich. Er würgte meine Frage mit einer
Handbewegung ab und zeigte auf den grauen Schirm, der den Eingang zum
Turm ausfüllte.
Göring steckte die
Pistole zurück in sein Holster und grinste den Führer dämlich an,
der langsam in einer Mischung aus Konfusion, Wut und Beschämung
wieder hinter dem Schreibtisch Platz nahm.
Die Stimmen
begannen erneut zu schnattern.
„Sie
sagen: 'Wie bescheuert, sich so von einem Geräusch erschrecken zu
lassen'“, zischte Stoddard in mein Ohr. Er ergriff meinen Arm.
„Aber kommen Sie, wir können nicht länger warten. Wir müssen
handeln. Sofort.“
Er zerrte mich weg
von der Öffnung in der Decke, weg von der Tür, die uns einen Blick
gewährt hatte durch Raum und Zeit – in einem Raum und eine Zeit,
die fünf Jahre zurücklag.
Als wir aus dem
Dachboden kletterten und blinzelnd die Stufen herunterstolperten,warf
mich Stoddard in seiner Hast fast die Treppe hinunter. „Beeilung!
Wir müssen sofort hin!“ rief er immer wieder.
„Wohin
denn?“ keuchte ich verwirrt. „Sollten wir nicht besser etwas
unternehmen, um dieses...“
„Genau!“
schnaufte Stoddard, „Genau das werden wir. Wir werden etwas
unternehmen. Wir werden diesen Glockenturm-Spuk beenden. Wir gehen in
den erstbesten Laden, in dem man Gewehre kaufen kann. Zwei
Gewehre...Schnell!“
„Gewehre?“
Ich raffte es immer noch nicht.
„Für
dieses Schnurrbartschwein da oben!“ rief Stoddard, und fuchtelte
mit dem Arm zurück in Richtung Dachboden. „Wenn ein Stein die
graue Barriere überwinden kann – dann können es auch
Gewehrkugeln. Wir nehmen den Hitler von 1938 ins Visier – und
verhindern diese ganze Scheiße, die er seitdem auf uns losgelassen
hat. Wenn wir beide feuern, kann eigentlich nichts schiefgehen!“
Und dann – klar –
hatte ich es auch gerafft. Das war unglaublich – unmöglich. Aber
andererseits – der graue Durchgang auf dem Dachboden war
anscheinend nicht unmöglich. Ich hatte ihn gesehen. Statt dem Raum
im Glocklenturm lag dahinter Hitlers allerheiligstes Arbeitszimmer.
Mit meinen eigenen Augen hatte ichs gesehen...Warum sollte es
eigentlich nicht möglich sein, die Hauptursache für die größten
Probleme der Menscheitsgeschichte abzuballern – direkt zwischen die
Augen durch Raum und Zeit?
Es war möglich –
das wußte ich plötzlich.
Unser wahnsinniges
Gepolter auf der Treppe die Dachbodenstufen und dann ins Erdgeschoss
runter scheuchte Mrs. Stoddard aus dem Keller auf. Sie schaute
furchtsam von mir zu zu ihrem Ehemann und von ihren Ehemann zu mir.
„Was
ist denn?“ fragte sie mit bebender Stimme.
„Nichts!“
grummelte Stoddard und schob sie schnell aber bestimmt zur Seite, als
wir zur Tür sprinteten.
„Aber
George!“ schrillte Mrs. Stoddard hinter uns her. Wir hörten ihre
Füße zum Ausgang stapfen, eben als wir aus dem Haus waren.
„Mein
Wagen!“ schrie ich. „Er steht gleich da vorn. Ich weiß, wo der
nächste Waffenladen ist!“
V
Stoddard und ich
stürzten uns ins Auto wie ein paar High-School-Kids, wenn die
Schulglocke die Ferien einläutet. Dann ließ ich den Motor an,
während ich aus den Augenwinkeln sah, wie Stoddards Eheweib die
Frontstufen hinabgelaufen kam und schrill rufend auf uns zuhastete.
Wir schossen vom
Bordstein weg wie ein Stein vom Katapult, kamen auf 80 im zweiten
Gang in Nullkomma nichts. Dann röhrten wir die ruhigen Straßen von
Mayfairs zweitem Bezirk entlang mit dem Radau eines drötenden Horns
und eines raubtierhaft fauchenden Motors.
Zehn Minuten später
kreischten die Bremsen vor dem Eingang eines Sport- und
Waffengeschäfts. Der Verkäufer war etwas verwirrt von der hastigen
Eile, in der wir hineinrasten, die Kanonen griffen, das Geld auf den
Thresen klöttern ließen und wieder herausbrausten.
Wir mußten
ausgesehen haben wie aus einem Gangsterfilm, als wir zu Stoddards
„Traumschloß“ zurückrasten.
Ich saß am Steuer,
Stoddard war neben mir eingestiegen, beide Flinten und diverse
Patronenschachteln umarmend. Er wiegte sich ungeduldig auf und ab,
als ob das Schaukeln unsere Geschwindigkeit erhöhen könnte. Der
Ausdruck auf seinem Gesicht war entschieden blutdürstig.
Und dann hörten
wir die Sirenen hinter uns. Schrill, schnell näherkommend wie ein
Komet auf unserer Bahn, und das, obwohl wir selbst in einem Affenzahn
fuhren.
„Oh
nein!“, stöhnte Stoddard. „ Die Bullen!“
Ich schielte hoch
zu meinem Rückspiegel. Wir waren noch zwei Blocks vom Stoddard-Haus
entfernt, und der Gedanke, in diesem Augenblick von der Polizei
überholt zu werden, war übelkeiterregend und fast zu unertäglich,
um ihn auch nur zu denken.
Und dann sah ich
den Grund für die Sirenen. Im Rückspiegel. Zwei Feuerwehrautos, ein
Leiterwagen und ein Schlauch-Truck.
„Alles
O.K.“ brüllte ich. „Nur die Feuerwehr.“
„Gottseidank!“
atmete Stoddard auf.
Uns trennte nun nur
noch ein Block vom Ziel, nur noch eine Ecke blieb zu umfahren, bevor
wir die architektonische Monstrosität sehen konnten, die Stoddard
sein „Heim“ nannte – und bevor wir den aberwitzigen Glockenturm
mit seinen grotesk verzerrten Perspektiven erblicken konnten, der die
Lösung eines Weltproblems beherbergte.
Und dann waren die
Sirenen sehr laut und die Feuerwehrwagen plötzlich sehr nahe -
weniger als einen Block hinter uns. In diesem Augenblick umrundeten
wir die Ecke und hatten volle Sicht auf die Stoddard-Villa.
Sie war ein
flammendes Inferno, vollständig eingehüllt von blendenden
Feuerwogen!
Eine Tragödie! Das
Haus in Flammen, die Ratten auf der Flucht...
Ich fuhr uns vor
Entsetzen fast gegen einen Baum. Als ich mich wieder im Griff hatte,
waren wir vom brennenden Anwesen nur noch wenige Meter entfernt.
Ich hielt am
Bordstein und kletterte mit wabbligen Knien aus dem Wagen, die mich
kaum tragen wollten. Mein Magen überschlug sich anscheinend immer
wieder in einer endlosen Serie übelkeitserregender Zirkussaltos.
Stoddard, bleich
wie der Tod, stand neben mir, die Gewehre und Patronen
gedankenverloren an sich gepreßt.
Dann sahen wir
jemanden auf uns zulaufen, schluchzend und heulend zwischen atemlosen
Schnaufern. Stoddards bessere Hälfte. Die Feuerwehrwagen stoppten in
diesem Moment quietschend vor dem brennenden Haus, und ihre ersten
Worte wurden von dem Lärm überdröhnt, den sie machten.
„...grad
ein paar Sachen getrocknet, George“, schluchzte sie,“bloß
getrocknet und auf den Heizkessel gehängt, damit es schneller geht.
Dann bist du weg wie der Blitz, und ich hatte Angst und bin rüber zu
den Nachbarn. Fünf Minuten später gabs die Explosion...“
Mit flauem Magen
dachte ich an die Benzinkanister, die Stoddard neben seinem
Heizkessel aufgestapelt hatte. Ich sagte nichts zu ihm, denn ich war
mir sicher, dass auch er an sie dachte.
Er ließ die
Gewehre und die Patronen fallen und in mit angespannter, herber
Stimme, seine Arme tröstend um seine Frau legend, krächzte er:
„Schon in Ordnung, Laura. War nicht deine Schuld. Wir werden ein
neues Haus bauen. So eins wie das. So wahr mir Gott helfe – genau
so eins!
VI
Es ist jetzt sechs
Monate her, dass Stoddards architektonisches Prachtstück bis auf den
Grund niedergebrannt ist. Er begann sofort danach mit dem
Wiederaufbau. Ich händigte ihm alle Bau-Zeichnungen aus, die meine
Firma nach seinen „Plänen“ anfertigte, und er übergab sie dem
Chef des Bau-Unternehmens, das er gründete. Er investierte jeden
Cent, den er besaß, zuzüglich zum Erlös aus der
Brandversicherungssumme, in seine eigene Bau-Firma. Mit tödlichem
Fanatismus betreibt er nun selbst das Baugewerbe.
Er erklärte es mir
so: „Ich kann ja nicht jedes mal das Haus von Fremdfirmen neu
aufbauen und dann wieder abreißen lassen, Kermit. Das würde mich
mit der Zeit ruinieren. Mit meinem eigenen Unternehmen, das seine
einzige Aufgabe darin sieht, dasselbe Haus immer wieder zu bauen,
spar ich viel Zeit und Geld.“
„Sie
– bauen jetzt das Haus ganz genau so wieder auf wie das letzte
Mal?“ fragte ich ungläubig.
Sein Kinn schob
sich vor, und seine Augen glühten hinter seiner Brille fanatisch
auf. Für einen kurzen Moment sah er nicht mehr aus wie Mister
Vorstadt.
„Da
können Sie Gift drauf nehmen!“ knirschte er. „Solange, bis es
wirklich EXAKT dasselbe Haus ist, werde ich es abreißen und
aufbauen, abreißen und aufbauen...Immer wieder. Mir egal, ob ich
tausend von ihnen bauen muß...!“
Und natürlich
wußte ich, was er meinte mit „EXAKT“. Und ich fragte mich, ob er
ahnte, worauf er sich da einließ. Nur durch einen irren Zufall in
der Kombination verschiedener grotesker Winkel war das Raumzeit-Tor
geöffnet worden. Doch das konnte sich schon bei einer minimalen
Verschiebung, der Abweichung vom Original um wenige Atome, wieder
schließen.
Stoddard
hatte bald sein zweites Haus fertiggestellt, und obwohl aus genauso
aussah wie die erste
Monstrosität, die ich für ihn gebaut hatte, konnte es nicht exakt
das Gleiche gewesen sein.
Denn die graue Nebel-Öffnung tauchte nicht auf, als er ein Loch vom
Dachboden in den Glockenturm trieb, genau wie beim erstenmal. Alles,
was er sah, als er seinen Kopf in den verrückten Glockenturm
steckte, war ein verrückter Glockenturm.
Morgen fängt er
an, das Ganze wieder abzureißen, um ein neues Haus zu bauen.
Spätestens dann werden die Leute anfangen zu glauben, dass er völlig
plemplem ist.
Und du – ganz
ehrlich? Vielleicht werde ich auch bald in die Zwangsjacke gesteckt.
Denn natürlich kann ich gar nicht anders, als hin und wieder
vorbeizuschauen und ihm zur Hand zu gehen.
Originaltitel: Rats in the Belfry
Amazing Stories, Januar 1943
Matthias Käther © 2018/19