Dienstag, 19. Februar 2019

Mack Reynolds - Das Projekt (Fantasy) (1951)


Jeremias Perkins' Erscheinung und Verhalten wirkte auf seine Umgebung wie...nun, vielleicht reicht es zu sagen, dass wirklich niemand auf den Gedanken kam, ihn Jerry zu nennen. Nicht mal seine Frau Martha.
Eines morgens beim Frühstück kam ihm der der philosophische Gedanke, dass es keinen vernünftigen Grund dafür gab, anzunehmen, das Licht würde weiter existierten, wenn er die Augen schloß. Er trug diese kühne Idee zwischen der Lektüre der Meinungsseite und der Börsenberichte seiner Frau vor.
Was redest du da, Schatz?“ fragte sie dröge.
Martha erschien immer dröge zum Frühstück – das war einer der Gründe, warum Perkins seine Ehe zunehmend kritischer betrachtete. Der andere Grund war, dass er einen Abscheu für große Frauen hegte. Martha war doppelt so groß wie er. Man könnte hier die Frage aufwerfen, warum ihm das nicht schon vor der Hochzeit aufgefallen war. Aber wir berechnen hier Größe nicht in Zentimetern, sondern in Pfund. Und Martha wuchs weiter.
Er dozierte klar und verständlich – und legte gestisch Wert darauf, zu zeigen, wie klar und verständlich er dozierte: „Ich habe gesagt, dass ich keinen Grund habe zu glauben, dass das Licht anbleibt, wenn ich meine Augen schließe.“
Ahso.“ Martha wandte sich wieder einer ihrer Lieblingstätigkeiten zu und bestrich ihren Toast mit einer abstoßend dicken Schicht Honig. Perkins' Aufmerksamkeit kehrte zurück zur Börsenseite.
Aber, Jeremias“, wandte Martha nach einer Weile ein, „natürlich bleibt das Licht an, wenn du deine Augen schließt.“
Er hob die erwähnten Augen über die Zeitung, um seine Frau anzusehen und erklärte geduldig: „Ich hab ja auch nicht gesagt, dass es ausgeht. Ich habe nur gesagt, ich habe keinen Grund zu glauben, dass es anbleibt.“
Sein Blick kehrte zurück zu den Börsenberichten. „Was etwas völlig anderes ist“, fügte er hinzu.
Martha bekannte schüchtern: „Ich glaube nicht, das ich verstehe, was du da redest, Jeremias...“
Mit einer Geste mühsam zusammengeraffter Geduld legte er seine Zeitung beiseite und starrte durch die starken Brillengläser seines Kneifers. „Dann werde ich es mal ganz einfach erklären“, versprach er. „Du hast sicher von diesen Leuten gehört, die sich fragen, ob das Licht in ihrem Kühlschrank noch brennt, wenn die Tür geschlossen ist?“
Aber ja!“ bestätigte Martha mit Enthusiasmus nickte so heftig, dass ihre Kinne widerlich zu wabbeln begannen. „Mrs. Klatz hat uns erst letzte Woche einen Witz darüber im Brigde-Klub erzählt, und...“
Er starrte sie kalt an, und sie gab es auf, ihm erzählen zu wollen, welche Pointe Mrs. Klatz über Kühlschrank-Licht in petto hatte.
Ja, Schatz.“
Er fuhr fort: „Nun gibt es verschiedene Möglichkeiten, einer Person, die auch nur einigermaßen bei Verstand ist, zu demonstrieren, dass das Licht im Kühlschrank tatsächlich ausgeht, wenn die Tür geschlossen wird. Eine dieser Methoden könnte darin bestehen, ein kleines Kind in den Kühlschrank zu stecken und die Tür zu schließen. Allerdings ist dieses System fehleranfällig, denn es hängt von der Tendenz des Kindes ab, die Wahrheit zu sagen oder zu lügen. Ich persönlich neige nicht zur Leichtgläubigkeit und lehne diese Methode ab. Ein besserer Weg wäre, ein kleines Fenster in die Kühlschranktür einzulassen; dann kann eine zweifelnde Person selbst überprüfen, was passiert, wenn sie die Kühlschranktür schließt. Hab ich mich soweit verständlich ausgedrückt?“
Sie schluckte ihren Mund voll Honigtoast hastig hinunter und versicherte: „Ja, Schatz.“
Sehr schön. Mein Problem ist nun, daß ich, während ich zufriedenstellend beweisen kann, dass das Licht im Kühlschrank ausgeht, wenn ich die Tür schließe, keinen plausiblen Beweis erbringen kann, dass das Licht anbleibt, wenn ich die Augen zumache.“
Sie blinzelte ihn an und verschüttete fast den Inhalt der Kaffeetasse in ihrer rundlichen Hand. Er bemerke wie immer, dass sie die Tasse mehr mit fetter Sahne als mit Kaffee gefüllt hatte.
Er fuhr fort, zu dozieren.
Sagen wir, ich besuche die Nachmittags-Vorstellung eines Theaters. Welchen Grund habe ich anzunehmen, dass draußen weiter die Sonne scheint, während ich drin bin?“
Sie wandte zögerlich ein: „Du könntest in der Pause rausgehen und nachsehen.“
Perkins schnaubte verächtlich. „Aber verstehst du denn nicht? Wenn ich das machen würde, würden SIE das Licht wieder andrehen.“
Und damit kehrte er endgültig zu seiner Zeitung zurück, für ihn war das Thema damit abgeschlossen.
Vielleicht wäre diese Sache nie wieder zur Sprache gekommen, hätte Mrs. Perkins nicht bemerkt, dass ihr Mann zunehmend von der Idee besessen war, seine Vermutungen zu bestätigen. Zum Beispiel fiel ihr auf, dass Jeremias, unten im Keller mit seiner Giftpilzzucht beschäftigt, von Zeit zu Zeit wie wild die Kellerstufen hinaufrannte, um angewidert aus dem Küchenfenster zu starren.
Beim Mittagessen murmelte er, zu niemand speziellem: „Ich hatte es gestern fast geschafft, als ich zwei U-Bahn-Stationen vor meiner ausgestiegen und zur Straße hochgerannt bin.“
Selbst jetzt (Martha war eine besonders aufmerksame Ehefrau, wenn er diese Anfälle hatte, und glauben Sie nur nicht, dass dies der erste dieser Art war) hätte sie nichts weiter getan, wenn es eine Weile so weitergegangen wäre und er das Ganze dann allmählich vergessen hätte. Das Problem war – er vergaß es einfach nicht. Es wurde schlimmer. Er sann ständig über Möglichkeiten nach, tagsüber im Dunkeln zu sein – er hielt sich in Theatern, U-Bahnstationen, Kellern, Dachböden und fensterlosen Räumen auf - um plötzlich einen Spurt nach draußen zu machen, in der Hoffnung herauszufinden, ob die Sonne verschwand oder nicht, wenn er sich aus ihrer Reichweite entfernte.
Er schien sonderbar enttäuscht zu sein, wenn er sie am Himmel fand.
Eines Abends, als sie nach dem Abendessen im Wohnzimmer saßen, fragte sie ruhig: „Warum sollten SIE das wollen – das Licht ausmachen, wenn du die Augen schließt oder oder wenn du im Keller oder auf dem Dachboden bist?“
Er las grade den Kinsey-Report und sah ungeduldig auf. „Woher soll ich das wissen? Vielleicht, um Energie zu sparen.“
Normalerweise trieb sie die Dinge nicht weiter, wenn sein Ton noch gereizter klang als sonst, aber diesmal wappnete sie sich und fragte: „Wer sind SIE, Schatz?“
Wer ist wer?“ schnappte er. „Wenn du schon redest, versuch doch, dich einigermaßen klar auszudrücken, Martha.“
Wer sind diejenigen, die das Licht ausknipsen könnten, wenn du die Augen zumachst?“
Er seufzte tief und schloß das Buch, einen Finger in der Seite dort steckenlassend, wo er stehengeblieben war. Er nahm seinen Kneifer ab und sagte: „Ich hab nicht die leiseste Idee. Aber, wer immer sie auch sind, ich komme immer mehr zu der Erkenntnis, dass sie das ganze Projekt zunehmend schlampiger verfolgen. Extrem schlampig sogar.“
Nun, wo sie schon so weit gekommen war, hatte es wenig Zweck, den Rückzug anzutreten, also fragte sie so gelassen wie möglich: „Was für ein Projekt, Schatz?“
Er sah sie für einen langen Moment an, die Lippen fest zusammengekniffen vor Ungeduld.
Na schön!" Sagte er endlich. „Ich sehe, du bestehst darauf, diese Rolle bis zum bitteren Ende durchzuziehen. Zweifellos bist du so instruiert worden. Aber ich gestehe dir und deinen Vorgesetzten offen, dass ich euch durchschaut habe. Ich habe die Natur dieser... wie soll ich es nennen, Martha – dieser 'Welt'? durchschaut. Seit langem.“
Sie öffnete ihren Mund, um etwas zu sagen, doch er winkte aggressiv ab und fuhr fort. „Euer großer Fehler war, das Ganze so offensichtlich absurd zu gestalten. Wer auch immer an oberster Stelle dafür verantwortlich ist, wäre vielleicht erfolgreicher darin gewesen, mich zu täuschen, wenn er der Sache wenigstens einen Anschein von Plausiblität verliehen hätte.“
Aber Jeremias...“
Sei still, bis ich fertig bin, Martha. Ich habe vor geraumer Zeit festgestellt, dass der einzige Grund, warum diese sogenannte 'Welt' mit allem Drum und Dran überhaupt existiert, darin besteht, mich von der eigentlich Wahrheit fernzuhalten, meinen Geist zu trüben, und mich so zu verwirren, dass mir die eigentliche Wahrheit nicht ins Auge springt. Schön, ich behaupte, dass dieses Unternehmen ziemlich dilettantisch aufgezogen wurde. Ich räume ein, dass ich nicht ganz verstehe, warum diese Dinge passieren, aber was immer hier geschieht, ist sehr schlampig gemacht, versichere ich dir, sehr schlampig.“
Er setzte seinen Kneifer wieder auf den Nasenrücken und kehrte zu seinem Buch zurück, offenbar entschlossen, das Thema an dieser Stelle fallenzulassen.
Doch Martha war außergewöhnlich tapfer heute abend.
Was ist absurd, Jeremias? Ich glaube nicht, dass ich verstehe, was...“
Er seufzte erneut tief, platzierte das Buch auf dem Teetisch vor ihm und steckte seinen Kneifer wieder in seine Tasche. „Fast alles“, sagte er ruhig. Für einen Augenblick sah er so aus, als hätte er sie vergessen, als würde er mit sich selbst reden. Seine Augen wanderten zur Decke, und er fuhr sanft fort: „Fast alles ist absolut absurd. Nimm zum Beispiel unsere Regierung und unser Gesellschaftssystem. Ist darin irgendetwas oder irgendjemand normal?“
Du solltest nicht schlecht über unsere Regierung sagen, Schatz“, warf sie prüde ein und fühlte sich sehr selbstsicher in dieser Angelegenheit.
Das sozio-ökonomische System dieses Landes ist extrem absurd“, fuhr er fort, sie ignorierend. „Man sollte nicht glauben, dass so etwas Lächerliches überhaupt existiert, und daran zweifeln, dass man diese Lächerlichkeit noch übertreffen kann, aber du mußt nur nach England schauen, um es noch lächerlicher zu finden. Und wenn du dir Rußland ansiehst, dann wird es erst richtig grotesk.
Und als ob das nicht reichen würde! Das ist noch gar nichts – die wahre Absurdität des Projekts enthüllt sich bis zum Punkt äußerster Überspanntheit, wenn du dir die zwischenmenschlichen Beziehungen anschaust. Nimm die zwischen den Geschlechtern als als klassisches Beispiel. Er fällt wirklich schwer, sich etwas Farcenhafteres vorzustellen als zwei Personen, wie wir beide, zum Beispiel, die sich einst verliebt haben, was immer das auch heißen mag, und die nun im ewigen Nebeneinander verharren für den Rest ihres Lebens. Der von IHNEN angestrebte Zweck dieser Übung ist zweifellos der, weitere 'Menschen' auszubrüten, um den ganzen Wahnsinn fortzusetzen.“
Martha begann zu weinen.
Ach bitte!“ stöhnte er. „Gut, ich werde die Angelegenheit nicht weiter verfolgen. Ich wollte dir nur klarmachen, dass ich Bescheid weiß, dass ich realisiert habe, dass dies hier alles eine Farce ist, und dass du Teil der Komödie bist. Meinetwegen kannst du damit fortfahren, deine Rolle zu spielen.“
Er nahm seinen Kneifer aus der Tasche, setzte ihn erneut behutsam auf die Nase und kehrte zu den Forschungsergebnissen des Kinsey-Reports zurück. „Ich bin wirklich überrascht, das SIE zugelassen haben, dass dieses Buch gedruckt wird“, bemerkte er obenhin.
Nach einer längeren Periode des Schluchzens, gegen die er völlig immun zu sein schien, trocknete Martha ihre Augen und stammelte: „Vielleicht solltest zu zum Arzt gehen, Schatz.“
Ohne aufzusehen, informierte ihr Ehemann sie: „Ich habe diesen Vorschlag erwartet. Bitte erwähne ihn nie wieder.“
Ja, Schatz. Aber, Jeremias...“
Er legte sein Buch zum drittenmal beiseite und schloss für einen langen Moment die Augen. Endlich öffnete er sie und sah sie ernst an. „Martha“, sagte er, „ich halte mich für eine überdurchschnittlich tolerante Person. Dennoch bin ich diese ganze Konversation langsam leid. Ich werde meine Schlüsse hier nur noch einmal darlegen, danach wünsche ich von dem Thema nie wieder etwas zu hören.
Die Frage, ob das Licht an Ort und Stelle bleibt oder ob es verschwindet, ist vergleichsweise unwichtig, obwohl sie mich zugegebenermaßen fasziniert hat. Entscheidend ist, dass die entsprechenden Experimente mir endgültig klar gemacht haben, welcher Natur die sogenannte 'Welt' mit seinen 'Bewohnern' ist. Mann kann mich nicht mehr täuschen.“
Na gut“, seufzte Martha, „wenn man dich nicht mehr täuschen kann, gibt es auch keinen Grund mehr, sich zu verstellen.“
Genau.“ bestätigte er gereizt.
Und so verwandelte sich Martha in ihre wahre Gestalt und glitschte aus dem Wohnzimmer und durch die Eingangstür, um ihren Vorgesetzten Bericht zu erstatten.
Jeremias machte sich nicht die Mühe aufzublicken, als SIE verschwand.

Originaltitel:
He Knew All The Answers
Fantastic Adventures 1951/11
Übersetzung: Matthias Käther © 2019



Montag, 4. Februar 2019

David Wright O'Brien - Das Alp-Traumhaus (1943)


Fast immer sind es uralte Häuser, in denen sonderbare übernatürliche Dinge vorgehen. Manchmal kann aber auch in einem ganz neuen Bau das Grauen lauern. Besonders, wenn der Architekt nicht alle Tassen im Schrank hat...Eine originelle Variante der Spukgeschichte von David Wright O'Brien.
I

Damals, Anfang '43, stürmte ein gewisser Stoddard in mein Büro. Dieser Typ war einer der schwierigsten Kunden, mit denen ich je zu tun hatte. Auf den ersten Blick würdest du sagen: typischer sanfter Vorort-Hausbesitzer, der sich sechs Tage in der Woche abrackert und am siebenten seinen Rasen wässert. Physisch jedenfalls war er die Inkarnation des durchschnittlichen amerikanischen Spießers. Glatze, Mitvierziger, Brille auf, kleiner Vorbau. Kurz, denk ihn dir wie die meisten Bürohengste in seinem Alter, und du hast ein wunderbares Prachtstück von Beamten, die Sorte, die du in jedem Comic mit Thema „Vorstadt“ sehen kannst.
Bloß, worauf ich hinaus will, ist: dieses ganze Stoddard-Äußere war ziemlich täuschend. Er war die Sorte Kunde, die wir in unserer Bauunternehmer-Branche als eine Kombination aus Klugscheißer und Exzentriker bezeichnen.
Als er und seine Frau mit ihren Plänen für ihr Haus kamen, das sie in Mayfairs zweitem Viertel gebaut haben wollten, waren sie voller Ideen. Präziser Ideen. Genaugenommen wußten sie exakt, was sie haben wollten.
Dieser Stoddard – sein voller Name war George B. Stoddard – hatte penibel auf über zwanzig Blättern Zeichenpapier seine Visionen aufgepinselt. Die durchgeknalltesten Visionen, die du je gesehen hast.
„Diese Entwürfe sind jetzt nicht grade auf den Millimeter genau, Mr. Kermit“, hatte dieser Stoddard eingeräumt. „Ich behaupte ja auch nicht, ein Top-Architekturzeichner zu sein. Aber meine Frau und ich haben schon seit Jahren einige...Ideen, und diese Zeichnungen sind das stolze Ergebnis jahrelanger Tüftelei.“
Ich schaute bißchen angefressen auf diese „Pläne“. Das Haus, das sie da haben wollten, war die Kombination aus so ziemlich allen architektonischen Alpträumen, die der Menschheit bekannt sind. Es war die Sorte von Behausung, die sich ein respektabler Bauunternehmer ausmalen würde – wenn er am Malariafieber starb.
Ich konnte ihre Blicke spüren, als ich ihre Traumhausentwürfe durchging. Sie beobachteten mich auf das erste Zeichen von Mißfallen, Amüsement oder Abscheu hin. Sie lagen auf der Lauer, um sich ihre „Pläne“ zu schnappen und aus meinem Büro zu stolzieren, sollte ich derartige Symptome zeigen.
„Hmmmmm...Ummmmm...“ murmelte ich unverbindlich.
„Was halten Sie davon, Kermit?“ wollte Stoddard wissen.
Ich hatte so eine Ahnung, dass sie zuvor bei andren Bauunternehmern vorbeigeschaut hatten. Bauunternehmern, die taktlos genug waren, sie unverschämterweise zu bitten, ihr Glück woanders zu versuchen.
„Sie, äh, haben da etwas...entschieden...Unübliches im Sinn, Mr. Stoddard“, antwortete ich ausweichend.
„Genau.“ nickte er. „ Das ist unser Traumschloß.“
Ich schauderte bei dieser Formulierung. Wenn Du Eiscreme, saure Gurken, Hering und Bier verquirlst und dich nach dem Genuß ein Stündchen aufs Ohr haust – könnte so ein Traumschloß bei rauskommen.
„Das, ähm, würde...ein etwas andrer Auftrag sein als sonst“, krächze ich. „Das ist nicht grade üblich, was Sie sie hier...entworfen haben.“
„Weiß ich“ bekannte Stoddard stolz. „Und ich bin durchaus bereit, die spezielle Zusatzarbeit gut zu bezahlen, die zweifellos beim Bau erforderlich sein wird.“
Das war natürlich was anderes. Und möbelte mich etwas auf.
„Ich müßte diese Pläne von meinen eigenen Zeichnern überprüfen lassen, bevor ich endgültig eine Einschätzung abgeben kann, ob das Projekt umsetzbar ist “, sagte ich ihm.
George B. Stoddard wandte sich zu seiner Frau um.
„Ich habs dir gesagt, Laura,“ dröhnte er, „früher oder später werden wir einen Unternehmer finden – einen Mann mit Geist und Vorstellungskraft!“

II

Dann folgte zweimonatiges Feilschen zwischen Stoddard und meinen Zeichnern, bevor wir damit anfangen konnten, die Horrorvision in die Realität umzusetzen, den mein Kunde sein „Traumschloß“ nannte. Zwei Monate Feilschen mit dem Versuch, Stoddard dazu zu bringen, auf wenigstens ein paar von seinen bizarren Ideen zu verzichten. Doch er gab keinen Zoll nach, und zu der Zeit, als wir das Fundament für seinen Traumschuppen legten, war auch jede einzelne Original-Schrulle aus seinen „Plänen“ fest in unsren Arbeitsablauf einzementiert.
Ich wurde von verdächtig vielen anderen Bauunternehmern der Gegend böse aufgezogen, nachdem sie spitzbekamen, dass ich Stoddards Haus baute. Wie es schien, war er vorher bei jedem einzelnen von ihnen gewesen.
Doch das Gespött machte mir nicht viel aus – damals jedenfalls noch nicht. Denn auch wenn Stoddard uns alle damit nervte, dass er den ganzen Tag wie ein paranoider Bussard auf der Baustelle herumflatterte, um zu kontrollieren, dass auch alle seine „Ideen“ eins zu eins in die Tat umgesetzt wurden, stellte er doch hübsch brav einen großen Scheck nach dem andern aus.
Er hatte ja gesagt, dass er sich nicht lumpen lassen würde, sollten im Kielwasser seiner bekloppten Konstruktionsvisionen irgendwelche Probleme auftauchen, und ich muß sagen, er mag ein Faß voller Fehler gewesen sein, doch geizig war ein nicht. Der Zaster floß in Strömen.
Also finanziell ging's mir jedenfalls blendend, danke der Nachfrage. Aber mental...naja, es gab Zeiten, da hätte ich die Grundrisse lieber mit Dracula diskutiert.
Um es offen auszusprechen – der Typ hatte keinen blassen Schimmer von Architektur oder Konstruktionsgesetzen. Natürlich nicht. Er wußte einfach nur, was er haben wollte. Bei Gott, wußte er, was er haben wollte!
„Das Layout vom Keller-Heizkessel ist nicht so wie auf meinen Plänen!“ knurrte er mich einmal wütend am Telefon an.
„Aber es weicht nicht groß vom Original ab“, flehte ich. „Ganz nebenbei, so wie er jetzt ist, entspricht er auch den Bauvorschriften.“
„Es muß doch menschenmöglich sein, eine Sache so zu machen, wie ich sie geplant habe!“
„Ähm...Ja. Aber aus Sicherhei...“
„Dann machen Sie es so wie geplant!“ schnaubte er und legte auf. Und natürlich haben wir es dann so gemacht, wie es geplant war.
Die Bauarbeiter waren ein weiteres Problem. Sie begannen bald die Schnauze voll davon zu haben, dass Stoddard ihnen ständig zwischen den Beinen rumlief und Anweisungen trompetete, die im Gegensatz zu jeder geistig gesunden Urteilsfähigkeit und zum guten Geschmack standen.
Doch trotz allem machte die Monstrosität Fortschritte.
Stell dir vor: Ein gigantisches Iglu, vorn verziert mit römischen Säulen, wie man sie vor vielen alten Südstaaten-Anwesen findet, gekrönt von Giebeln in der Mode des 18. Jahrhunderts. Ergänze noch zwei Flügel in einer Kombination aus früher mexikanischer Bauweise und arabischen Moscheen-Stil, und du hast eine grobe Vorstellung, wie das Ding aussah. Die Leute kamen von meilenweit her, um sich das Haus auszusehen, nachdem die Arbeiter gegangen waren.
Aber die Stoddards waren begeistert. Sie waren begeistert von dieser Scheußlichkeit wie ein paar Kinder, die ein Tarzan-Baumhaus zusammengehämmert hatten. Und die Bonus-Gelder für die „zusätzlichen Probleme“ taten mir auch nicht weh.
Ich werde nie den Tag vergessen, als wir den Glockenturm vollendeten, der den Moloch krönte. Ja, du hast richtig gehört. Ein Glockenturm. Die Sorte, die du auf kleinen ländlichen Kirchen und Schulgebäuden sehen kannst. Aber dieser hier war natürlich auch ein bißchen – anders.
Die Stoddards waren rausgekommen, um dem feierlichen Moment der Vollendung ihres Traumhauses beizuwohnen.
Ich war fast genauso glücklich wie sie, denn dieser Augenblick war ein Symbol für das Ende fast aller meiner Sorgen.
Als wir da so zusammen rumstanden und zuschauten, kam mein Vorarbeiter zu uns rüber.
„Wolln' Sie eine Glocke in ihren Glockenturm?“ fragte er.
George Stoddard sah ihn an, als wäre er nicht ganz dicht.
„Wozu denn?“ fragte er zurück.
„Na, damit man den Gockenturm benutzen kann!“
„Machen Sie sich nicht lächerlich!“ schnaubte Stoddard. „Es ist völlig ausreichend für uns, ihn anzugucken!“
Als der Vorarbeiter kopfschüttelnd abmarschiert war, wandte ich mich zu den Stoddards.
„Tja, jetzt ist es gleich soweit“ meinte ich. „Zufrieden?“
Stoddard strahlte. „Sie haben keine Ahnung, Mr. Kermit“, sagte er feierlich, „was für ein überwältigender Moment das ist – für meine Frau und mich.“
Ich schaute zur dröge lächelnden Laura Stoddard. Nach dem Glanz in ihren Augen zu urteilen, schien Stoddard zu meinen, was er sagte. Dann blickte ich nach dem Glockenturm und schauderte.
Wie ich schon angedeutet habe, suchte auch dieser Glockenturm seinesgleichen und war von einer Sorte, die noch keines Menschen Auge bisher erschaut hatte. Er schraubte sich auf sonderbare Weise in einem Labyrinth geometrischen Wahnsinns in die Höhe, ein berechneter Fiebertraum, der zwar Methode hatte, aber keine Vernunft.
Wenn ich mir das Ganze so ansah, so machte die Spitze dieses Irren-Hauses den Eindruck eines grotesk aufgeklatschten Kirsch-Toppings, sie wirkte wie die Schlagsahne auf einem Fruchteis des Grauens, zusammengerührt von einer neurotischen Eismaschine. Ein hübscher Gesamteindruck.
Stoddards Stimme durchbrach meine ziemlich flauen Gedankengänge.
„Wann können wir einziehen?“ fragte er gespannt.
„In der zweiten Hälfte der nächsten Woche“, versicherte ich ihm. „Wir sollten bis dahin mit allem durch sein.“
„Gut!“ dröhnte Stoddard. „Wundervoll!“ Er legte seinen Arm um seine Frau, und die beiden begafften starren Auges ihr neues Heim. Irgendwie ließ mir dieser Anblick einen Kloß in die Kehle steigen, wie sie da so standen, glückselig und umschlungen. Der Kloß rutschte hastig die Kehle wieder hinunter, als mir klar wurde, worauf sie starrten.
Ach, übrigens“, sagte ich nonchalant im Glauben, nun wäre ein guter Moment, um sie an eine bestimmte Idee zu gewöhnen, „die äh... etwas ungewöhnliche Konstruktion des Hauses wird es nötig machen, von Zeit zu Zeit ein paar Dinge zu kontrollieren und nachzubessern. Sie erinnern sich hoffentlich, dass ich das schon am Anfang der Planung gesagt habe?
Stoddard nickte und tat die Bemerkung gelassen als Bagatelle ab.
Klar erinnere ich mich, dass Sie irgendwas in dieser Richtung erwähnt haben. Ich werde Sie nicht für ein paar kleine Reparaturen verantwortlich machen, die dieses einzigartiges Bauwerk vielleicht später benötigt.
„Danke“, gab ich trocken zurück. „Ich wollte nur sichergehen.“

III

Die Stoddards zogen in dem Moment ein, als der letzte Handschlag an ihrem Traummonster getan war. Ich bezahlte meine Leute, schaufelte einen hübschen Profit auf mein Konto und ging zurück an die Arbeit, um wirkliche Häuser zu bauen. Ich dachte, meine Probleme mit den Stoddards wären Vergangenheit.
Aber – natürlich! - lag ich falsch.
Er war ein voller Monat, nachdem die Stoddards in ihr Irrenhaus eingezogen waren, als ich den ersten empörten Telefonanruf von George B. Stoddard erhielt.
Mr. Kermit“, schnauzte die wütende Stimme am anderen Ende, hier ist George B. Stoddard!“
Ich zuckte beim Namen und der nur allzu vertrauten Stimme zusammen, doch ich zwang mich zu einem freundlichen Jubelruf.
Wie schön, Mr. Stoddard“ drötete ich, „Wie geht’s ihnen und der Gemahlin denn so in Ihrem Traumschloß?“
Genau deshalb“, knirschte George B. Stoddard, „rufe ich an. Wir haben ziemlich große Schwierigkeiten mit einigen Aspekten der Bauweise, für die Sie verantwortlich sind!“
He, Moment mal!“ setzte ich an, „Ich dachte, wir hätten uns drauf geeinigt, dass...“
Wir hatten uns darauf geeinigt, dass man von Zeit zu Zeit mit kleineren Reparaturen rechnen muss, die den Bauplänen geschuldet sind“, unterbrach mich Stoddard harsch. „Weiß ich.“
Wo liegt dann das Problem?“
Das Haus ist rattenverseucht!“ heulte Stoddard dramatisch in den Hörer.
Ratten?“ echote ich.
Genau die.“
Aber das ist unmöglich“, protestierte ich. „Das ist ein nagelneues Haus, und Ratten pflegen nicht in...“
Stoddard unterbrach mich erneut. „Mir egal, was Ratten pflegen. Wir haben welche da, und das ist ganz allein Ihre Schuld!“
Wieso soll das meine Schuld sein?“ Ich wurde jetzt auch ein klitzekleines bißchen säuerlich.
Weil es nicht meine Schuld ist. Die von meiner Frau auch nicht. Und das Haus ist, wie Sie selbst grade so schön bemerkten, nagelneu.“
Also jetzt hören...“ fing ich an.
Ich verlange, dass Sie sofort hier rauskommen und sich das ansehen!“ tobte Stoddard.
Ansehen? Haben Sie eine gefangen?“
Ähm, nein.“ gab Stoddard zu. Aber...
Diesmal war ich dran mit Dazwischengrätschen.
Woher wissen Sie dann, dass es Ratten sind?“ fragte ich triumphierend.
Weil“, - Stoddard schrie jetzt fast -, „weil ich sie hören kann! Und meine Frau hört sie auch!“
Daran hatte ich nicht gedacht.
Oh!“ sagte ich. „Okay.“ Ich legte auf und suchte meinen Hut. Diese Visite würde kein Zuckerschlecken werden, das wußte ich. Aber zum Teufel, ich mußte zugeben: Wenn Stoddard und seine Frau Geräusche hörten, die wie Ratten klangen, war das ein berechtigter Grund zur Klage. Denn ich hatte die Bauleitung gehabt, und kein noch so durchgeknalltes Design des Gebäudes konnte das Vorhandensein von Ungeziefer erklären.
Beide Stoddards empfingen mich an der Tür, als ich zum Mayfair-Bezirk rausfuhr, in der ihr Monstrum stand. Als sie mich in ihr Wohnzimmer führten, bekam ich eine hübsche Vorstellung davon, wie ihre Inneneinrichtungs-Visionen beschaffen waren. Sie wichen nicht groß von den andern ab. Natürlich nicht. Das Ganze war eine wilde Mischung von Gerümpel aus allen Teilen der Welt, das sie überall im Haus möglichst unvorteilhaft verteilt hatten.
Sie führten mich vorbei an einem frühen amerikanischen Bibliothekstisch hin zu einem niedrigen marokkanischen Sofa. Beide zogen sich Stühle mit französischem und holländischem Design heran.
Mich so umzingelt fühlend von einem kleinen Kreis empörter Kunden, begann ich meinen Hut in den Händen zu drehen, und starrte unbehaglich auf meine Umgebung.
Hübsch haben Sie's hier“, bemerkte ich.
Wissen wir“, erklärte Stoddard und übersprang die Banalitäten. „Kommen wir doch sofort zur Sache.“
Zu den Ratten?“
Zu den Ratten.“ wiederholte Stoddard. Seine Frau nickte empathisch.
Stille. Einige Minuten verstrichen wohl so. Ich räusperte mich.
Ähem. Ich dachte, Sie...“
Schschsch!“ zischte Stoddard. „Ich will, dass Sie da sitzen und die Geräusche hören, so wie wir sie gehört haben. Dann können Sie Ihre eigenen Schlüsse ziehen. Ruhe, bitte.“
Also sagte ich kein Wort mehr. Und meine Gastgeber auch nicht. Wir saßen da wie Delegierte eines Stummen-Kongresses, die zu müde waren, ihre Hände zu benutzen. Diesmal wirkte die Stille sogar noch unheilvoller.
Mehrere Minuten mußten verstrichen sein, bevor ich sie hören konnte – die Geräusche. Ich nahm sie erst spät bewußt wahr, weil ich das typische Kratzen von Rattenfüßen erwartet hatte und nicht vorbereitet war auf das, was ich dann wirklich zu hören bekam.
Mr. und Mrs. Stoddard hatten ihren Kopf seitwärts geneigt, und sie starrten mich intensiv an, auf ein Zeichen wartend, dass ich die Geräusche identifizierte.
Zunächst schien das Rumoren ganz fern zu sein...verschwommen sozusagen, wie ein fast unhörbares Knattern von Radio-Statik. Dann, als ich meine Ohren darauf konzentrierte, begann ich leise Quieker wahrzunehmen und kurze, scharfe Sprotzer, etwa wie das entfernte Ploppen von kleinem Tischfeuerwerk.
Ich schaute zu den Stoddards.
Okay“, gab ich zu. „Ich höre die Geräusche. Scheinen von irgendwo hinter den Wänden zu kommen“.
Hab ichs Ihnen nicht gesagt?“ Stoddard sah selbstzufrieden und triumphierend drein.
Aber das sind keine Ratten,“ setzte ich nach. „Ich kenne die Geräusche, die Ratten machen. Und das hier sind keine Ratten-Geräusche.“
Stoddard setzte sich kerzengrade auf. „Was?“ fauchte er aufgebracht, „Sie sitzen da herum und wollen mir ernsthaft einreden...“
Will ich“, schnitt ich ihm das Wort ab. „Haben Sie jemals Ratten-Geräusche gehört?“
Stoddard blickte seine Frau an. Beide warfen ihre Stirnen in Falten. Und blickten zu mir zurück.
Naja...nein...“ gab er zögernd zu. „Jedenfalls nicht, bevor wir diese Ratten hier bekommen haben. Davor hatten wir noch nie welche.“
Und so haben Sie sich eben mal schnell überlegt, tja, das klingt wie Ratten,“ bohrte ich nach, „ohne auch nur im entferntesten zu wissen, wie sich eine Ratte anhört?“
Stoddard stand aprupt auf. „Aber verdammt noch mal“, explodierte er, „wenn es keine Ratten sind – was ist es dann?“
Ich zuckte mit den Achseln. „Keine Ahnung“, gab ich zu. „Es klingt, als würde es durch irgendwelche Röhren verstärkt. Vielleicht sollten wir das Haus absuchen, vom Keller zum Dachboden, wie man so schön sagt, was?“
Stoddard überlegte eine Minute. Dann nickte er. „Klingt vernünftig“, räumte er ein.
Ich folgte dem Amateur-Desinger und Besitzer eines stolzen Irrenhauses in den Keller. Dort begannen wir die ausführliche Suche nach der Quelle der Geräusche. Er schnippte den Lichtschalter an, und ich blickte mich um. Der Kessel und alles andere waren noch ganz richtig da, wo ich es in Erinnerung hatte – an der falschen Stelle.
Da stand eine Anzahl von versiegelten 20-Liter-Kanistern herum, schön aufgereiht unter dem Kessel. Ich tippte auf einen von ihren und fragte, was das für Zeug sei.
Benzin“, erklärte er.
Verdammt ungünstiger Ort dafür.“
Ein mir vertrautes Glimmen erschien in Stoddards Augen.
Die Dinger stehen genau da, wo ich sie haben will“, knurrte er.
Schönschön." beschwichtigte ich. „Lassen Sie es bloß nicht einen von diesen Versicherungsfritzen sehen.“
Wir stocherten noch eine Weile im Keller herum, doch schließlich, als wir nichts fanden, was auf die Quelle der Geräusche hindeutete, kehrten wir zurück ins Erdgeschoss.
Unsere Untersuchung der Rohrleitungen und anderer potentieller Sound-Leiter verlief dort ebenso im Sande, obwohl dort die Geräusche ein bißchen stärker zu vernehmen waren als im Keller.
Ich blickte etwas hilflos zu Stoddard hinüber. „Wir versuchens besser im ersten Stock“, sagte ich.
Ich folgte ihm die Treppen rauf zur nächsten Etage. Abgesehen vom bizarren Glockenturm direkt über dem Dachboden war es das oberste Stockwerk dieses bizarr konstruierten Domizils.
Die Geräusche waren hier deutlich besser zu hören, besonders im zentral gelegenen Schlafzimmer.
Wir kontrollierten die zweite Etage zweimal gründlich und gelangten dann wieder in dieses Schlafzimmer, bis ich bemerkte, dass wir hier direkt unter dem Dachboden standen.
Ich sagte es Stoddard.
Dann könnten wir eigentlich auch gleich nachschauen“, meinte er.
Diesmal machte ich die Vorhut, als als wir durch die Luke kletterten.
Haben Sie jemals hier oben nach ihren... sogenannten 'Ratten' gesucht?“ fragte ich über meine Schulter hinweg.
Stoddard gesellte sich zu mir, knipste eine Taschenlampe an und ließ den Strahl über die Dachsparren schweifen. „Nee.“ schnaufte er. „Natürlich nicht.“
Ich hatte gerade den Mund geöffnet um zu antworten, als mir plötzlich bewußt wurde, dass die Geräusche hier definitiv lauter waren. Immer noch in einer gewissen Distanz, doch nicht mehr verschwommen klingend. Geräusche, die eigentlich gar keine Geräusche waren, sondern – Stimmen! Ich umklammerte Stoddards Arm.
Hören Sie!“
Wir standen da, ganz still, für vielleicht eine Minute. Ja, da gab es gar keinen Zweifel. Diese Geräusche waren menschliche Stimmen.
Großer Gott!“ krächzte Stoddard.
Ratten, he?“ fragte ich sarkastisch.
Aber...Aber...“ begann er. Er war offensichtlich völlig durcheinander
Es gibt da drüben in den Wänden eine Art Zetralröhre und einen Haufen Kabel. Nicht dass sie da langlaufen sollten, aber wir waren gezwungen, sie so zu verlegen – dank Ihrer Pläne. Diese Stimmen werden durch die Röhre und die Kabelkanäle verstärkt, so dass wir sie überall im Haus hören können. Sagen Sie mir einfach, wo Ihr Radio steht, und wir konnen das Problem beheben.“
Stoddard sah mich eine lange Zeit stumm an.
Wir haben kein Radio,“ verkündete er mit Grabesstimme.
Ich muß zugeben, ich war ziemlich platt.
Sind Sie ganz sicher?“
Woll'n Sie mich veräppeln?“ schnaubte er.
Ich stand da, kratzte mir meinen Kopf und fühlte mich blöd. Dann kam mir eine andre Idee.
Waren Sie je in diesem, äh, ornamentalen Glockenturm, seit Sie eingezogen sind?“
Natürlich nicht. Er ist zum Angucken da, nicht zum Rausgucken.“
Ich habe so eine Ahnung, dass die Geräusche da oben besonders deutlich sind“, deutete ich behutsam an.
Wieso das denn?“
Nur so eine Ahnung.“ Ich kratze wieder meinen Kopf.
Also das ist eine ziemlich bescheuerte Ahnung“, meinte Stoddard. Dann drehte er sich brüsk um und schickte sich an, den Dachboden zu verlassen. Ich folgte ihm.
Sie müssen zugeben – es sind keine Ratten“ rief ich.
Stoddard murmelte irgendwas, das ich nicht verstehen konnte. Als wir die erste Etage erreichten, erwartete Mrs. Stoddard uns schon berstend vor Neugier.
Haben Sie rausgefunden, wo die Ratten stecken“?
Stoddard warf mir einen Blick zu. „Sind keine Ratten“, meinte er nach spürbarem Zögern. „Diese Geräusche – die klingen wie ferne Stimmen... wie Menschen, die herumlaufen. Hast du irgendwas gesagt, als wir oben waren, Laura?
Mrs. Stoddard schaute ihren Mann überrascht an. „Mit wem hätte ich denn reden sollen?“ fragte sie sehr logisch.
Ich hatte jetzt genug. Ich war verdammt müde, diese seltsam entworfenen Flure von Stoddards Alptraumhaus entlangzulatschen und überdurchschnittlich begabte Ratten zu jagen, die mit menschlichen Stimmen sprachen.
Wenn hier ein unerklärliches Echo auftaucht“, dozierte ich streng,“ dann ist das der Konstruktion geschuldet. Vergessen Sie nicht, Sie wollten den Kasten genauso haben wie er ist. Nun, da wir zu Ihrer Zufriedenheit nachgewiesen haben, dass es sich nicht um Ratten handelt, kann ich ja gehen. Schönen Tag noch.“
Ich griff nach meinem Hut, und weder Stoddard noch seine Frau brachten ein Wort heraus. Ihr anmaßendes Verhalten war verschwunden; sie schienen sogar ein wenig eingeschüchtert zu sein.
Es war zwei Uhr, als sich sie verließ. Ich hatte mehr als eine Stunde Lebenszeit damit verschwendet, für sie menschliche Ratten zu suchen, eine weitere halbe Stunde ging für die Fahrerei drauf. Folgerichtig war ich ziemlich geladen, als ich ins Büro zurückkam.
Du kannst dir deshalb meinen emotionalen Zustand sicher lebhaft vorstellen, als, fünfundzwanzig Minuten nach meiner Ankunft im Büro, Stoddard erneut anklingelte.
Mr. Kermit“, brabbelte er aufgeregt, hier ist nochmal George B. Stoddard...Mr. Kermit!“
Was ist jetzt schon wieder?“ schrie ich. „Und sagen Sie nicht, sie haben Termiten!“
Mr. Kermit“, krächzte Stoddard, Sie müssen sofort wieder herkommen, Mr. Kermit!“
Den Teufel werd ich“ sagte ich ihm ungeniert und hängte auf.
Das Telefon klingelte erneut nach einer halben Minute. Es war Stoddard. Natürlich war ers.
Mr. Kermit, biiiittttteee, hören Sie mir zu! Ich flehe Sie an, kommen Sie sofort her! Es ist wahnsinnig wichtig!“
Diesmal sagte ich nichts. Ich hängte einfach auf.
Nach einer halben Minute bimmelte es erneut. Ich war auf hundertachtzig, als ich diesmal ranging.
Hören Sie“, brüllte ich, „Es ist mir wurscht, was für Geräusche Sie diesmal hören...“
Stoddard schnitt mit das verzweifelt Wort ab, mich aus Leibeskräften überbrüllend.
Ich höre nicht nur die Geräusche! Ich sehe die... Leute, die sie machen!
Das haute mich aus den Pantoffeln.
Hä?“ machte ich.
Der Glockenturm“, schrie er, „ich bin hoch in den Glockenturm, und da...da kann man sie sehen...die...Leute, deren Stimmen wir gehört haben!“ Es gab eine Pause, in der er versuchte, zu Atem zu kommen, dann schrie er erneut. „Sie müssen rüberkommen! Sie sind der einzige Mensch, dem ich das zeigen kann!“
Stoddard war ein Exzentriker, klar doch, allerdings nur, was seinen Architektur-Geschmack betraf. Das mußte ich mir ehrlichkeitshalber eingestehen, als ich so dasaß und benommen den Telefonhörer in meiner Hand anstarrte.
Okay“, sagte ich, aus keinem Grund, der irgendeiner logischen Analyse standgehalten hätte, „okay, legen Sie auf. Ich bin in zwanzig Minuten da.“

IV

Diesmal öffnete Mrs. Stoddard mir die Tür. Sie sah besorgt aus, fast geschockt, und sehr konfus.
George ist oben, Mr. Kermit. Er will nicht, das ich da raufgehe. Er hat gesagt, ich soll sie sofort raufschicken, wenn Sie kommen. Er ist auf dem Dachboden.“
Was zum Teufel...“ begann ich.
Keine Ahnung“, hauchte sie. „Ich war unten im Keller, ein paar Sachen trocknen, als ich George oben furchtbar schreien hörte. Dann war er unten, um Sie anzurufen. Ich weiß nicht, was das alles zu bedeuten hat...“
Ich stürmte wie der Blitz auf den Dachboden, mir fast die Vorderzähne an der oberen Treppenkante ausschlagend. Dann stolperte ich durch die Dunkelheit des Bodens und sah eine Taschenlampe in einer Ecke herumzappeln.
Kermit?“
Stoddards Stimme.
Ja“, gab ich zurück. „Was in aller Welt soll das Ganze? Sie erklären mir besser schnell...“
Genau! Schnell!“ drängte er. „Kommen Sie her, loslos!“
Ich verfing mich in Bretterspalten und wankte taumelnd zu ihm hinüber – endlich stand ich neben ihm. Ich starte dorthin, wo der Strahl seiner Lampe hinfiel – auf ein gezacktes offenes Loch. Er hatte diverse Schichten an Isoliermaterial herausgerissen, um dort durchzustoßen.
Für eine ganze Weile konnte ich im blendenden Licht nichts Definitives erkennen. Stoddard hatte meinen Arm umklammert, immer und immer wieder ein Wort stammelnd.
Da! Da! Da!“
Als sich meine Augen an die Helligkeit gewöhnt hatten, merkte ich, dass ich ins Innere des seltsamen Glockenturms starrte, der das monströse Haus krönte. Es war, als würde man auf eine Art grauer nebelhafter Kinoleinwand starren. Und dann hörte ich die Stimmen. Laut und klar verständlich. Allerdings sprachen sie in einer Sprache, die ich nicht sofort zuordnen konnte.
Wa...“
Schsch!“ zischte Stoddard. „Sagen Sie kein Wort! Nur – zuhören!“
Ich hielt meinen Atem an, obwohl das nicht nötig gewesen wäre. Wie ich schon sagte, die Laute kamen deutlich genug aus dem Glockenturm, so als wären die Personen nur fünf Schritte entfernt. Doch nichtsdestotrotz hielt ich den Atem an – und fokussierte meine Augen angestrengt auf den nebelhaften grauen Fleck, auf den das Licht gerichtet war.
Und dann begriff ich es. Die Stimmen sprachen in deutsch. Es waren zwei. Beide harsch und maskulin.
Was in aller Welt...“ begann ich. „Ist das ein Kurzwellengerät, oder...“
Stoddard unterbrach mich.“Sehen Sie es nicht?“ flüsterte er.
Die Stimmen fuhren fort zu reden, während ich meine Augen noch mehr anstrengte, um die graue Masse zu durchdringen, die das Loch in der Decke einhüllte. Dann sah ich es endlich. Sah es wie durch ein dünnes Gazenetz.
Ich schaute in eine Art Raum. Einen großen Raum. Einen unglaublich großen Raum. Ein Raum, so groß, daß ein Dutzend Glockentürme reingepasst hätten. Und dann wurde alles klarer. Da war ein Schreibtisch am Ende des Raumes. Ein gewaltiger überladener Schreibtisch. Und hinter dem Schreibtisch saß ein kleiner, grau uniformierter Mann mit winzigem Schnurrbart.
Dann war da ein zweiter Mann mit gewaltigem Bauchumfang, der neben dem Schreibtisch stand und auf eine Landkarte an der Wand zeigte. Er babbelte aufgeregt auf den kleinen Mann am Schreibtisch ein, und auch er trug eine Uniform, deren grelle Extravaganz fast lächerlich wirkte.
Die beiden schnatterten weiter auf deutsch, offensichtlich redeten sie über die Karte, auf die der buntuniformierte Dicke zeigte.
Ich wandte mich ungläubig um zu Stoddard.
Wa-wa-was zur Hölle...“
Stoddard schien plötzlich immens erleichtert. „Sie sehen es auch...und hören es auch!“ raunte er. „Gott sei Dank!, Ich bin nicht durchgeknallt!“
Ich griff haltsuchend nach seinem Arm.
Aber... Sie...“, fing ich an.
Vergessen Sie's!“ zischte er. „Wir beide können nicht verrückt sein. Das sind die Stimmen, die wir vorhin beide gehört haben! Und da sind die Sprecher. Diese verdammten [fünf Wörter von der Redaktion zensiert] Mistkerle! Hitler und Göring!“
Tja, so war es. Er hatte es ausgesprochen. Ich hätte es nicht gewagt. Es klang zu verrückt, zu wild und zu abgedreht, um so etwas zu sagen. Ich blickte wieder durch dieses graue Käsepapier von Nebel in den Raum.
Nein, die beiden konnten niemand anders sein als Hitler und Göring. Und mit wurde plötzlich klar, dass die Karte, auf die Göring so häufig zeigte, die von Österreich war.
Bloß was...“ fing ich wieder an.
Stoddard sah mir in die Augen. „Ich verstehe ein bißchen Deutsch“, sagte er. Sie reden über eine Invasion in Österreich. Und wenn Sie genau hinsehen, da, in der Ecke der Karte steht ein Datum – 1938!“
Ich strengte meine Augen an, und tatsächlich, jetzt sah auch ich die Ziffern. Ich wandte mich zu Stoddard.
Wir sind eindeutig verrückt“, beschloß ich panisch, „wir sind beide sabbernde, völlig abgedrehte Vollidioten... Lassen Sie uns hier verschwinden!“
Wir schauen fast fünf Jahre zurück in die Vergangenheit!“, flüsterte Stoddard unbeeindruckt von meinem Ausbruch. „Wir schauen zurück, fünf Jahre, nach Deutschland, in den Raum, in dem Hitler und Göring über den bevorstehende Einmarsch in Österreich sprechen. Ich dachte auch, ich wäre verrückt, als mir das zuerst klar wurde, aber – jetzt glaube ich das nicht mehr.“
Tja, vielleicht lag er falsch. Vielleicht waren wir ja beide verrückt.. Aber - egal, was du jetzt denkst – irgendwie glaubte ich ihm. Ich wußte, dass irgendwie durch irgendeinen wilden, fast unmöglichen Zufall der Glockenturm in Stoddards beklopptem Haus eine Tür durch Raum und Zeit war, zurück ins Jahr '38 und in den Raum, wo Adolf Hitler und Hermann Göring die Eroberung Österreichs planten.
Stoddard holte etwas aus seiner Tasche. „Jetzt, wo Sie hier sind, kann ichs ja mal ausprobieren“ flüsterte er.
Ich schaute auf das, was er da in der Hand hielt. Es war ein Stein, der an einer langen Schnur festgebunden war.
Ausprobieren? Was verdammt noch mal wollen Sie denn...?“
Na gucken, ob man dieses graue Nebeldings durchdringen kann!“
Stoddard schwang den Stein in weitem Bogen an der Schnur herum. Und plötzlich ließ er ihn los, so dass er direkt durch den grauen Schleier in der Decke und in den Glockenturm schoß. Oder genauer gesagt, in den großen Raum im kleinen Turm.
Ich sah und hörte den Stein an der Schnur auf dem Marmorboden des Raums aufschlagen. Dann begann Stoddard ihn mit großer Hast wieder in den Dachboden zurückzuziehen.
Denn die Auswirkung auf die Bewohner des Raumes über uns war sofort spürbar. Göring wirbelte herum, die große Wandkarte nun im Rücken, seine Augen irrten scharf musternd durch das Zimmer. Eine Pistole blitzte in seiner Hand.
Auch Hitler, halb erhoben hinter seinem überladenen Schreibtisch, musterte den riesigen, ansonsten leeren Raum mit wilden Blicken.
Natürlich sah keiner von beiden etwas. Stoddard, der jetzt an meiner Seite aufgeregt schnaufte, hatte den Stein inzwischen wieder ganz in unsere Zeit und Dimension zurückgeholt. Seine Augen glühten.
Es könnte – funktionieren!“ flüsterte er leidenschaftlich. „Man kann – hindurch!“
Aber was in al-“ begann ich. Er würgte meine Frage mit einer Handbewegung ab und zeigte auf den grauen Schirm, der den Eingang zum Turm ausfüllte.
Göring steckte die Pistole zurück in sein Holster und grinste den Führer dämlich an, der langsam in einer Mischung aus Konfusion, Wut und Beschämung wieder hinter dem Schreibtisch Platz nahm.
Die Stimmen begannen erneut zu schnattern.
Sie sagen: 'Wie bescheuert, sich so von einem Geräusch erschrecken zu lassen'“, zischte Stoddard in mein Ohr. Er ergriff meinen Arm. „Aber kommen Sie, wir können nicht länger warten. Wir müssen handeln. Sofort.“
Er zerrte mich weg von der Öffnung in der Decke, weg von der Tür, die uns einen Blick gewährt hatte durch Raum und Zeit – in einem Raum und eine Zeit, die fünf Jahre zurücklag.
Als wir aus dem Dachboden kletterten und blinzelnd die Stufen herunterstolperten,warf mich Stoddard in seiner Hast fast die Treppe hinunter. „Beeilung! Wir müssen sofort hin!“ rief er immer wieder.
Wohin denn?“ keuchte ich verwirrt. „Sollten wir nicht besser etwas unternehmen, um dieses...“
Genau!“ schnaufte Stoddard, „Genau das werden wir. Wir werden etwas unternehmen. Wir werden diesen Glockenturm-Spuk beenden. Wir gehen in den erstbesten Laden, in dem man Gewehre kaufen kann. Zwei Gewehre...Schnell!“
Gewehre?“ Ich raffte es immer noch nicht.
Für dieses Schnurrbartschwein da oben!“ rief Stoddard, und fuchtelte mit dem Arm zurück in Richtung Dachboden. „Wenn ein Stein die graue Barriere überwinden kann – dann können es auch Gewehrkugeln. Wir nehmen den Hitler von 1938 ins Visier – und verhindern diese ganze Scheiße, die er seitdem auf uns losgelassen hat. Wenn wir beide feuern, kann eigentlich nichts schiefgehen!“
Und dann – klar – hatte ich es auch gerafft. Das war unglaublich – unmöglich. Aber andererseits – der graue Durchgang auf dem Dachboden war anscheinend nicht unmöglich. Ich hatte ihn gesehen. Statt dem Raum im Glocklenturm lag dahinter Hitlers allerheiligstes Arbeitszimmer. Mit meinen eigenen Augen hatte ichs gesehen...Warum sollte es eigentlich nicht möglich sein, die Hauptursache für die größten Probleme der Menscheitsgeschichte abzuballern – direkt zwischen die Augen durch Raum und Zeit?
Es war möglich – das wußte ich plötzlich.
Unser wahnsinniges Gepolter auf der Treppe die Dachbodenstufen und dann ins Erdgeschoss runter scheuchte Mrs. Stoddard aus dem Keller auf. Sie schaute furchtsam von mir zu zu ihrem Ehemann und von ihren Ehemann zu mir.
Was ist denn?“ fragte sie mit bebender Stimme.
Nichts!“ grummelte Stoddard und schob sie schnell aber bestimmt zur Seite, als wir zur Tür sprinteten.
Aber George!“ schrillte Mrs. Stoddard hinter uns her. Wir hörten ihre Füße zum Ausgang stapfen, eben als wir aus dem Haus waren.
Mein Wagen!“ schrie ich. „Er steht gleich da vorn. Ich weiß, wo der nächste Waffenladen ist!“

V

Stoddard und ich stürzten uns ins Auto wie ein paar High-School-Kids, wenn die Schulglocke die Ferien einläutet. Dann ließ ich den Motor an, während ich aus den Augenwinkeln sah, wie Stoddards Eheweib die Frontstufen hinabgelaufen kam und schrill rufend auf uns zuhastete.
Wir schossen vom Bordstein weg wie ein Stein vom Katapult, kamen auf 80 im zweiten Gang in Nullkomma nichts. Dann röhrten wir die ruhigen Straßen von Mayfairs zweitem Bezirk entlang mit dem Radau eines drötenden Horns und eines raubtierhaft fauchenden Motors.
Zehn Minuten später kreischten die Bremsen vor dem Eingang eines Sport- und Waffengeschäfts. Der Verkäufer war etwas verwirrt von der hastigen Eile, in der wir hineinrasten, die Kanonen griffen, das Geld auf den Thresen klöttern ließen und wieder herausbrausten.
Wir mußten ausgesehen haben wie aus einem Gangsterfilm, als wir zu Stoddards „Traumschloß“ zurückrasten.
Ich saß am Steuer, Stoddard war neben mir eingestiegen, beide Flinten und diverse Patronenschachteln umarmend. Er wiegte sich ungeduldig auf und ab, als ob das Schaukeln unsere Geschwindigkeit erhöhen könnte. Der Ausdruck auf seinem Gesicht war entschieden blutdürstig.
Und dann hörten wir die Sirenen hinter uns. Schrill, schnell näherkommend wie ein Komet auf unserer Bahn, und das, obwohl wir selbst in einem Affenzahn fuhren.
Oh nein!“, stöhnte Stoddard. „ Die Bullen!“
Ich schielte hoch zu meinem Rückspiegel. Wir waren noch zwei Blocks vom Stoddard-Haus entfernt, und der Gedanke, in diesem Augenblick von der Polizei überholt zu werden, war übelkeiterregend und fast zu unertäglich, um ihn auch nur zu denken.
Und dann sah ich den Grund für die Sirenen. Im Rückspiegel. Zwei Feuerwehrautos, ein Leiterwagen und ein Schlauch-Truck.
Alles O.K.“ brüllte ich. „Nur die Feuerwehr.“
Gottseidank!“ atmete Stoddard auf.
Uns trennte nun nur noch ein Block vom Ziel, nur noch eine Ecke blieb zu umfahren, bevor wir die architektonische Monstrosität sehen konnten, die Stoddard sein „Heim“ nannte – und bevor wir den aberwitzigen Glockenturm mit seinen grotesk verzerrten Perspektiven erblicken konnten, der die Lösung eines Weltproblems beherbergte.
Und dann waren die Sirenen sehr laut und die Feuerwehrwagen plötzlich sehr nahe - weniger als einen Block hinter uns. In diesem Augenblick umrundeten wir die Ecke und hatten volle Sicht auf die Stoddard-Villa.
Sie war ein flammendes Inferno, vollständig eingehüllt von blendenden Feuerwogen!
Eine Tragödie! Das Haus in Flammen, die Ratten auf der Flucht...
Ich fuhr uns vor Entsetzen fast gegen einen Baum. Als ich mich wieder im Griff hatte, waren wir vom brennenden Anwesen nur noch wenige Meter entfernt.
Ich hielt am Bordstein und kletterte mit wabbligen Knien aus dem Wagen, die mich kaum tragen wollten. Mein Magen überschlug sich anscheinend immer wieder in einer endlosen Serie übelkeitserregender Zirkussaltos.
Stoddard, bleich wie der Tod, stand neben mir, die Gewehre und Patronen gedankenverloren an sich gepreßt.
Dann sahen wir jemanden auf uns zulaufen, schluchzend und heulend zwischen atemlosen Schnaufern. Stoddards bessere Hälfte. Die Feuerwehrwagen stoppten in diesem Moment quietschend vor dem brennenden Haus, und ihre ersten Worte wurden von dem Lärm überdröhnt, den sie machten.
...grad ein paar Sachen getrocknet, George“, schluchzte sie,“bloß getrocknet und auf den Heizkessel gehängt, damit es schneller geht. Dann bist du weg wie der Blitz, und ich hatte Angst und bin rüber zu den Nachbarn. Fünf Minuten später gabs die Explosion...“
Mit flauem Magen dachte ich an die Benzinkanister, die Stoddard neben seinem Heizkessel aufgestapelt hatte. Ich sagte nichts zu ihm, denn ich war mir sicher, dass auch er an sie dachte.
Er ließ die Gewehre und die Patronen fallen und in mit angespannter, herber Stimme, seine Arme tröstend um seine Frau legend, krächzte er: „Schon in Ordnung, Laura. War nicht deine Schuld. Wir werden ein neues Haus bauen. So eins wie das. So wahr mir Gott helfe – genau so eins!

VI

Es ist jetzt sechs Monate her, dass Stoddards architektonisches Prachtstück bis auf den Grund niedergebrannt ist. Er begann sofort danach mit dem Wiederaufbau. Ich händigte ihm alle Bau-Zeichnungen aus, die meine Firma nach seinen „Plänen“ anfertigte, und er übergab sie dem Chef des Bau-Unternehmens, das er gründete. Er investierte jeden Cent, den er besaß, zuzüglich zum Erlös aus der Brandversicherungssumme, in seine eigene Bau-Firma. Mit tödlichem Fanatismus betreibt er nun selbst das Baugewerbe.
Er erklärte es mir so: „Ich kann ja nicht jedes mal das Haus von Fremdfirmen neu aufbauen und dann wieder abreißen lassen, Kermit. Das würde mich mit der Zeit ruinieren. Mit meinem eigenen Unternehmen, das seine einzige Aufgabe darin sieht, dasselbe Haus immer wieder zu bauen, spar ich viel Zeit und Geld.“
Sie – bauen jetzt das Haus ganz genau so wieder auf wie das letzte Mal?“ fragte ich ungläubig.
Sein Kinn schob sich vor, und seine Augen glühten hinter seiner Brille fanatisch auf. Für einen kurzen Moment sah er nicht mehr aus wie Mister Vorstadt.
Da können Sie Gift drauf nehmen!“ knirschte er. „Solange, bis es wirklich EXAKT dasselbe Haus ist, werde ich es abreißen und aufbauen, abreißen und aufbauen...Immer wieder. Mir egal, ob ich tausend von ihnen bauen muß...!“
Und natürlich wußte ich, was er meinte mit „EXAKT“. Und ich fragte mich, ob er ahnte, worauf er sich da einließ. Nur durch einen irren Zufall in der Kombination verschiedener grotesker Winkel war das Raumzeit-Tor geöffnet worden. Doch das konnte sich schon bei einer minimalen Verschiebung, der Abweichung vom Original um wenige Atome, wieder schließen.
Stoddard hatte bald sein zweites Haus fertiggestellt, und obwohl aus genauso aussah wie die erste Monstrosität, die ich für ihn gebaut hatte, konnte es nicht exakt das Gleiche gewesen sein. Denn die graue Nebel-Öffnung tauchte nicht auf, als er ein Loch vom Dachboden in den Glockenturm trieb, genau wie beim erstenmal. Alles, was er sah, als er seinen Kopf in den verrückten Glockenturm steckte, war ein verrückter Glockenturm.
Morgen fängt er an, das Ganze wieder abzureißen, um ein neues Haus zu bauen. Spätestens dann werden die Leute anfangen zu glauben, dass er völlig plemplem ist.
Und du – ganz ehrlich? Vielleicht werde ich auch bald in die Zwangsjacke gesteckt. Denn natürlich kann ich gar nicht anders, als hin und wieder vorbeizuschauen und ihm zur Hand zu gehen.

Originaltitel: Rats in the Belfry
Amazing Stories, Januar 1943
Matthias Käther © 2018/19

Freitag, 1. Februar 2019

Anne Alice Chapin - Drachental (Non-Genre) (1918)


So sehr sie sich auch bemühte – Louise konnte sich nicht bewegen. Sie versuchte sich umzusehen, doch es war stockfinster. Und dann, bewegungslos, blind, machte sie eine übermenschliche Anstrengung nachzudenken – sich zu erinnern.
Zunächst versagte sie auch hierbei. Sie wußte nicht, wo sie sich befand, oder was passiert war. Das Äußerste, das ihr Hirn ihr zu bieten hatte, war ein verwirrter Eindruck von etwas zutiefst Bedrückendem, Schlimmem, Quälendem. Doch nichts war konkret, nichts klar.
Dann, augenscheinlich ohne ihren Willen, begann ihr rechtes Bein konvulsivisch zu zucken. Und mit der Bewegung kam eine stechende Schmerzwelle von solcher Schärfe, dass sie einen Schrei herausröchelte, der erschreckend harsch und krächzend in ihren Ohren klang.
Der Schmerz weckte sie endgültig. Wie ein Dolchhieb erreichte er ihr betäubtes und träges Hirn und peitschte es ins Bewußtsein zurück.
Die Empfindung war so grauenvoll wie ein plötzlicher Lichtstrahl in den Augen einer Person, die für Jahre im Dunklen saß. Sie war erhellend, doch sie bedeutete Qual.
Sie erinnerte sich nun genau: Das kleine Dinner für sechs Personen im beliebtesten Restaurant der Stadt, dann der Ausflug zum Joybell Vergnügungspark in Harry Crawford's riesigem Wagen, die lächerlichen Dinge, die sie getan hatten, der feierliche Schwur von allen, hier wirklich alles auszuprobieren. Sie erinnerte sich daran mit wachsender Klarheit, und die physische Pein wuchs mit ihren zurückkehrenden geistigen Fähigkeiten, bis sie nur noch ein einziger großer Schmerz vom Kopf bis zu den Füßen zu sein schien.
Sie erinnerte sich an Wanda Herron, Wanda in ihrem blassblauen Kleid... wie ein Engel von Botticelli. Wie schön und liebenswürdig sie aussah! Kein Wunder, dass ihr Verlobter, Dick Maynard, sie anbetete; sie war mit jeder Faser der Typ, den er anbeten würde. Er und alle anderen Männer. Zweifellos. Wanda war sehr klein und sehr blond, mit einem Mund wie eine Blume und Kinderaugen, und die Aura um sie herum suggerierte etwas wundervoll Fragiles und Kostbares, das um jeden Preis beschützt werden mußte vor den rauhen und wilden Stößen und Erschütterungen einer brutalen Welt. Louise, die mit dem Leben zu kämpfen hatte seit den frühen Tagen ihrer Kindheit, und die mit 28 völlig auf eigenen Füßen stand und nach außen hin wohl ein bißchen prosaisch wirkte, gönnte sich den Luxus halb trauriger, halb zynischer Gedanken, die Unterschiede zwischen Wanda und ihr betreffend.
Louise war durchaus keine neidische Frau. Sie beneidete Wanda überhaupt nicht um ihre behütete Existenz, oder das komfortable Einkommen, das es ihr ermöglichte, sich exquisit zu kleiden, und das sie vor allem elenden Gerangel um einen guten Platz in der Gesellschaft bewahrte. Sie würde sie auch nicht beneidet haben, wenn Wanda zu ihrem anderen Flitterkram auch noch eine Krone und einen Thron addiert hätte. Sie beneidete sie nicht um ihr gutes Aussehen. Naja, vielleicht doch - insofern, dass sie ein Typ war, der Dick Maynard besser gefiel als ihre eigene dunkle, lebhafte Schönheit.
Tja, genau da lag der Hund begraben. Louise beneidete Wanda, weil sie die Zuneigung von Dick besaß. Sie selbst hatte ihn nun schon so lange begehrt, dass ihr Begehren ein Teil von ihr geworden war; sie arbeitete und aß und lief herum mit dieser Besessenheit, ging abends mit ihr zu Bett und stand morgens mit ihr auf. Manchmal lächelte sie ein bißchen in sich hinein, wenn sie daran dachte, wie verblüfft die Leute sein würden, wenn sie wüssten, dass in Louise Crammers wohlausbalanciertem Hirn die Überzeugung herrschte, dass es auf der ganzen weiten Erde nichts Bedeutenderes gab als Dick Maynard...
Ihre Gedanken und die steigende Qual, die ihren Körper mit zunehmender Blutzirkulation immer heftiger marterte, schlugen zusammen in einer riesigen Welle des Schmerzes, und eine gnädige Schwärze hüllte sie erneut ein.
Auch das ging vorüber, nach einer Zeitspanne, die ein- bis zweihundert Jahre zu dauern schien. Der Schmerz war nun scharf und anhaltend, doch sie war etwas zu Kräften gekommen. Ihr Verstand war jetzt völlig klar und arbeitete normal, abgesehen davon, dass sie sich nur in krampfhaften Schüben erinnern konnte. Diese Abwesenheit von Kontinuität beunruhigte sie, denn sie war für gewöhnlich ein streng logisches Wesen. Vom Thema Dick natürlich abgesehen.
Sie erinnerte sich mit plötzlicher Schärfe an Ella Minton, die reiche Witwe mit den rundlichen Proportionen und den protzigen Juwelen, die bei ihrem Ausflug den Anstandswauwau mimte. Sie hatte ein volles rosa Gesicht und einen Kicher-Tick, und sie trug Diamanten. Diamanten in einem Vergnügungspark! Und dann, zusammen mit dem Bild von Mrs. Minton, stieg heiß ein anderes auf, plötzlich, erschreckend, ein angespannter, häßlicher Moment, der um diese Dinger kreiste... wie hieß das glitzernde Zeug? Diamanten! Das wars – Diamanten! Sie saßen alle um den kleinen Tisch herum, geeiste Drinks vor sich, und Ella Minton plapperte:
„Ich sag euch, ich hab diese beiden Diamant-Haarspangen hier auf den Tisch gelegt, während ich mein Haar geflochten hab! Irgendwer hat sie. Mir egal wer – aber irgendwer hat sie!“
Die Erinnerung drohte zu verblassen, und sie mußte sehr kämpfen, um sie festzuhalten, festzunageln, bevor sie vielleicht für immer verschwand.
„Sie sind sehr wertvoll...Mein Mann hat sie mir geschenkt...“
Dann Harry Crawfords beruhigende Stimme: „Wir werden zur nächsten Polizeistation gehen und es da melden, Mrs. Minton. Jerry, bleibst du bei den Mädchen, ja? Wir treffen uns dann bei Andersons Biergarten, in einer halben Stunde.“ Und Jerry Barlow hatte gesagt: „Klar. Kommt, Mädels, wir probieren die Themenbahn aus. Sie heißt 'Durchs Drachental.' Man sagt, das ist der Knaller hier.“
Jetzt war ihr alles klar. Sie und Wanda und Jerry waren zum „Drachental“ gegangen, einer Mischung aus Achter-und Geisterbahn. In der dicken schwarzen Dunkelheit, die sie nun umgab, konnte sie deutlich den hohen grellbunten Torbogen sehen mit dem Namen darauf, geschrieben mit blutroten Lettern, die sofort in die Augen stachen. Sie konnte die wartenden Massen sehen, das Schielen nach der plumpen, billigen Szenerie, die die Kurven und Täler der Bahn drapierte, den ankommenden Wagon mit seiner Ladung von schreienden, kreischenden, lachenden Leuten, demonstrierend, wie nahe die Extreme der Empfindung, Freude, und das Gegenteil, Grauen, sich annähern konnten. Und dann das Besteigen ihres Wagons, mit Wanda.
Es war nur Raum für zwei auf dem Vordersitz, und sie beide wollten auf den Vordersitz. Jerry Barlow hatte sich auf den engen Rücksitz im hinteren Teil quetschen müssen.
Dann folgte der gleitende Sturz in den ersten Tunnel, der übelkeiterregende, faszinierende Sprung abwärts, dann das Aufwärtssausen zum Gipfel eines hölzernes Gestells, die Sterne über ihnen und Millionen Lichter um und unter ihnen, und ein silbernes Glitzern der See, ganz in der Nähe. Sie erinnerte sich, wie sich Wanda an sie klammerte und schrie: „Jetzt kommt der schlimmste Teil! Ich hab Angst, Louise!“, und dass sie in diesem Moment dachte: Das ist der Kitzel des Sterbens! Deswegen lieben wir es...
Dann – war etwas mit dem Universum passiert. Der Himmel war auseinandergebrochen, die Sterne waren in Fragmente zerborsten, und es gab keine Welt mehr. Nur noch eine monströse, lärmende Konfusion aller Dinge, eine donnernde und kataklysmische Rückkehr ins kosmische Chaos.
Dann nichts mehr außer Schmerzen.
Es schien, als ob sie in ihrer Qual nicht allein war. Eine schwaches, unaufhörliches Stöhnen drängte sich allmählich immer deutlicher in ihre bis dahin tauben Ohren. Wenn sie jetzt darüber nachdachte, hatte sie dieses Stöhnen unbewußt schon die ganze Zeit gehört. Sie befeuchtete ihre Lippen und versuchte zu rufen, doch es brauchte eine ganze Reihe von vergeblichen Versuchen, bis sie ein krächzendes „Wer ist da?“ zustande brachte.
Ein leiser, schluchzender Aufschrei – halb qualvoll, halb erleichtert – antwortete ihr. Dann drang Wandas Stimme zu ihr, schwach und zitternd, doch ganz aus der Nähe: „Oh Louise, Gottseidank! Ich dachte, alle wären tot außer mir – und daß ich allein hier draußen sterben muß – im Dunkeln!“
Louise lächelte schwach und ein wenig sardonisch. Das war typisch Wanda – sie sah die Katastrophe nur aus ihrem eigenen überspannten Blickwinkel. Dennoch rief sie mit all der peinvollen, heiseren Kraft, die ihre Lungen hergaben: „Ich kann nicht zu dir, Wanda! Was Großes und Schweres liegt auf mir, ein Teil des Wagons, glaub ich. Bist du schlimm verletzt?“
„Mir tut alles weh!“ wimmerte Wanda. „Und mein Arm...“
„Ja, ich weiß“, unterbrach das ältere Mädchen mit all der Ungeduld, für die sie noch Kraft aufbieten konnte. „Es ist ein Wunder, das wir nicht sofort gestorben sind. Ich fürchte, die meisten andern sind tot. Arme Seelen. Ich meinte – bist du...zerquetscht, oder irgendwas in der Art? Kannst du dich bewegen?“
„J-ja, aber es tut weh...“
„Egal! Krabbel rüber zu mir, und wir können zusammen versuchen, dieses Ding von mir zu wälzen.“
Wanda kroch zu ihr, stoppte dabei oft, um zu stöhnen und zu erklären, sie könne nicht mehr. Was immer an Kraftreserven und Selbstbeherrschung in ihr gewesen sein mochte – es war verbraucht, als sie Louise erreichte. Sie brach an ihrer Schulter zusammen – was bei Louise ein schmerzhafteres Zucken der zusammengepressten Lippen auslöste – und gab sich hysterischer Panik hin.
Heftig schluchzend klammerte sie sich an Louise und keuchte immer und immer wieder: „Oh Louise, ich werde sterben! Hier an diesem gräßlichen Ort! Ich werde sterben! Oh, ich kann hier nicht sterben – ich sollte hier nicht sterben – Louise, was sollen wir machen, wenn sie uns hier nicht rausholen?“
„Du hast es jetzt schon eine ziemlich lange Zeit gesagt“, meinte Louise lakonisch. „'Wir werden sterben'- Aber sie holen uns hier raus. Auf jeden Fall holen sie dich raus. Ich habe so eine Ahnung, dass meine persönliche Uhr abgelaufen ist.“
Wanda nahm die letzten Worte kaum wahr. Sie lauschte angestrengt, und ihre Hand krampfte sich um Louises Arm. Durch die Ruinen der Themenbahn konnte sie aufgeregte Männerstimmen hören, und da war auch noch der Klang schwerer Schläge, als ob sie begannen, sich einen Weg durch die Trümmer zu bahnen.
„Sie kommen uns retten!“ schrie Wanda. „Oh, Louise! Denkst du, wir werden überleben?“
Louise fühlte sich schwächer. Sie hatte mehrere Versuche unternommen, sich von dem Gewicht auf ihr zu befreien, doch nun wußte sie, dass ihre Kraft nicht ausreichte, und wahrscheinlich auch Wandas nicht, selbst wenn sie ein Interesse daran gezeigt hätte, ihr zu helfen.
„Louise“ wisperte Wanda, dicht an ihrem Ohr. „Ich - ich bin schrecklich fies gewesen! Es...wäre ziemlich grausig zu sterben, ohne jemandem zu beichten, wie fies ich war. Louise, vielleicht sind wir beide tot... in kurzer Zeit. Jedenfalls...“ Sie zögerte.
„Ich auf jeden Fall“, sagte Louise in einem seltsamen abwesenden Ton. „Also werd ichs nicht weitersagen. Erzähls mir.“
„Louise, du weißt, jedermann denkt, wir wären so furchtbar reich...Aber wir sinds nicht...nicht wirklich. Nicht mehr. Wir halten den Schein aufrecht...aber seit Ewigkeiten ist es nur noch das...mit wenig Solidem in Reserve. Mutter hilft heimlich sozialen Aufsteigern bei ihren Prüfungen – und ich – ich spiele Brigde, und...ich gewinne fast immer...“
Ihre traurige Stimme verlosch, so das die letzten Worte kaum verständlich waren.
„Du meinst, du schummelst?“
„Ich...ja.“ eine Pause, lang genug, um Atem zu holen. Dann: „Aber...Louise...das ist nicht das Schlimmste. Ich...naja...du weißt, Leute in unserer Clique haben Dinge verloren...kürzlich.“
„Du hast sie geklaut? Aber -“
Plötzlich hatte Louise das müde Gefühl, dass einer Situation wie dieser – wartend in der Dunkelheit, so nahe dem Tod, dass man seinen Umhang berühren könnte – solche Kleinigkeiten wie Diebstahl und Kartentricks unwichtig und langweilig waren. Sicher urteilte da draußen, irgendwo in der Unendlichkeit, ein Gericht mit sublimeren Regeln und Standards, als sie in dieser Welt üblich waren. Louise wußte, dass Stehlen und Betrügen nicht nett waren, doch in dieser unheimlichen und seltsam feierlichen Stunde klangen Wandas Bekenntnisse seltsam lächerlich.
„Das ist, als wenn du Angst hättest, einen unpassenden Sarg zu bekommen“ murmelte sie laut. Dann: „Mach dir nichts aus meinem Gebrabbel, Wanda, ich glaube, ich bin etwas wirr im Kopf. Keine Sorge, du kannst Ella Minton ihre Diamant-Haarspangen zurückgeben – darum geht’s doch? Ich bin sicher, sie wird dich nicht anzeigen, oder irgendwas ähnliches Biestiges...“
„Nein, aber sie wird quatschen – nur im Vertrauen, klar, aber zu jedem, den sie kennt, und ich weiß, dass Dick es mitkriegen wird, und du weißt, wie Dick über Ehrlichkeit denkt – und all das!“
Sie brach zusammen und weinte hemmungsloser denn je.
Louise fühlte ihr ganzes Ich mit einem raschen mentalen Schwenk diesem neuen Gedanken zuströmen. Wandas kleine Sünden waren plötzlich wichtig geworden, weil sie Dick betrafen – oder betreffen würden. Sie waren nicht länger belanglos oder langweilig. Nicht einmal der Tod selbst konnte Louise Cramers ungeteilte Aufmerksamkeit beanspruchen, wenn es um Dick Maynard ging.
Sie kannte Dick nur zu gut. Sie waren jahrelang vertraute Freunde gewesen, und seine Zuneigung war niemals getrübt worden durch den Verdacht, dass sie ihn liebte. Sie kannte ihn, und wie wusste, dass Wanda richtig lag. Er war freundlich und generös in den meisten Angelegenheiten des Lebens – doch Unehrlichkeit würde keine Gnade vor ihm finden. Er würde niemals ein Mädchen heiraten, von dem er wusste, dass sie eine Diebin war, selbst wenn er sie liebte. Und es war mehr als wahrscheinlich, dass das Wissen um diesen Diebstahl seine Liebe sofort ersticken würde. Louise wusste, dass solche Dinge die Liebe eines Mannes ersticken konnten. Nie die einer Frau – eigentlich, dachte sie mit Bitterkeit, gab es wenige Dinge, die imstande waren, die Liebe einer Frau zu töten. Außer, manchmal, Mangel an Nahrung. „Und für gewöhnlich nicht mal das. Wir Frauen sind arme Idiotinnen!“ dachte sie, sich an ihre eigenen mageren aber loyalen letzten Jahre erinnernd.
Und so kam sie zu Louise – der zerschmetterten, verrenkten, schmerzdurchfluteten Louise, hilflos in einer Dunkelheit, die in jedem Moment übergehen mochte in eine größere und mysteriösere, in die Finsternis des Todes – so kam sie zu ihr – die große Versuchung ihres Lebens.
Es war eine wirkliche Versuchung, wenn auch eine unwürdige. Sie könnte, immer vorausgesetzt, dass sie überlebte, bis die Retter eintrafen, die Wahrheit sagen, Wanda als Diebin brandmarken – die Diamanten waren mit Sicherheit irgendwo an ihrem Körper – und so die ungeheure Freude genießen, daß, egal ob sie nun starb oder nicht, Wanda für immer aus Dicks Leben spazieren würde.
Es erwachte eine tiefe, wilde Rachsucht in Louise Cramer, eine Rachsucht, die vielleicht immer schon in ihr geschlummert hatte. Es sind meist grade die Naturen mit harten und grausamen Charakterzügen, die die größten Schwächen in Liebesdingen zeigen. Louise hatte ein Herz voller Zärtlichkeit – aber das war nur für eine einzige Person bestimmt. Zum Rest der Welt war sie bloß nett.
Doch Wanda!
Plötzlich schoß ihr der Name dieser schrecklichen Themenbahn durch den Kopf. „Durchs Drachental!“
Ihr Hirn, nun schon halb delirierend von der langen Anspannung und der unerwarteten Krise, malte die Finsternis mit verzerrten Horrorgestalten aus, visualisierte den Drachen als ihre monströse Versuchung, das Ding, das sie bekämpfen und besiegen mußte, wenn sie ruhig sterben wollte.
Der Schweiß lief ihr übers Gesicht, nicht nur der Schwäche wegen, nicht nur der Schmerzen wegen, nicht einmal wegen der Todesangst. Es war pure Seelenpein, der Schweiß eines großes Kampfes gegen einen Feind ohne Gnade.
Die phantastische Vision des Drachens füllte die stickige Dunkelheit – nun wurde es erschreckend eng um sie...
Die Geräusche der rettenden Sucher kamen näher.
„Was soll ich tun, Loiuse?“ stöhnte Wanda, und Louise fühlte ihr Zittern, als sie sich näher an sie presste. Ihr eigener Körper zitterte nicht, er fühlte sich seltsam ruhig an, fast steif eigentlich. Ihr war kalt, und sie fand es zunehmend schwerer zu atmen.
Der Drachen drohte riesig, schrecklich, unfaßbar grausam. Und dann fand sie heraus, dass sie ihre Hand bewegen konnte, wenn auch mit Mühe. Sie berührte das jüngere Mädchen.
„Gib mir die Diamanten – schnell!“ sagte sie, und im selben Moment sah sie einen Lichtschimmer aufblitzen, als die Trümmer beiseitegezerrt wurden. Sie fühlte zwei kalte, wellige Objekte, die Wandas zitternde Finger in ihre Handfläche schoben. Dann war keine Zeit mehr, weder für weitere Aktionen, noch für irgendwelche Worte. Im nächsten Moment hatten die Männer sich zu ihnen hindurchgegraben, -gewunden und -geschoben.
Der erste war Dick. Im Licht der Taschenlampe, die sein Nebenmann hielt, wirkte er gespenstisch bleich. Als er Wanda in seine Arme schloß, konnte er für eine Minute lang nicht sprechen.
„Gott sei Dank!“ stieß er abgehackt hervor. „Ich dachte, du wärst tot – meine Süße... Einer der tiefen Tunnel ist eingebrochen, die ganze Konstruktion hat nachgegeben, und zwei Wagons... Gott, es ist gräßlich...Armer Jerry...Grauenvoll...aber – wo ist Louise? Ist sie o.k.?“
„Mir geht’s prima, danke, Dicky“ sagte Louise ruhig. „Oder zumindest wird’s mir prima gehen, wenn ich hier ausgegraben wurde. Wenn du vielleicht eben...“
Als sie sie bewegten, verlor sie das Bewußtsein, doch sie starb nicht so rasch, wie sie gehofft hatte. Nachdem sie sie hinausgebracht hatten, und als sie unter den funkelnden Lichtergirlanden des Vergnügungsparks lag, erschreckte sie der hastig herbeigerufene Notarzt sogar mit der Versicherung, sie hätte eine winzige Chance.
Wanda wuselte um sie herum, zu Tode verängstigt. Sie war sich nicht sicher, selbst jetzt nicht, was Louise mit den Diamantspangen vorhatte. Ella Minton – das sei zu ihrer Ehre gesagt – hatte das Thema fallengelassen und half mitfühlend, wo sie nur konnte. Doch Louise wußte, das die Habgier der plumpen Witwe schon bald wieder erwachen würde – sobald die Aufregung vorbei war. Sie lag da mit geschlossenen Augen, die Spangen in ihrer Hand verborgen.
Endlich konnte Wanda die Spannung nicht länger ertragen, und über sie gebeugt, wisperte sie verzweifelt: „Louise, wirst du es sagen?“
Louise öffnete ihre Augen und sah sie an, dann schüttelte sie den Kopf. Dann, mit einer Stimme, die nur von Wanda gehört werden konnte, begann sie zu sprechen.
„Ich schätze“, sagte sie langsam, „daß es schwerer ist, jemanden aufzugeben, nachdem man ihn schon hatte, als wenn man ihn nie gehabt hat. Ja, ich weiß, es ist so. Das sollte Grund genug für mich sein, dich zu retten, und dich....Dick behalten zu lassen. Bloß...das ist nicht der Grund. Nicht wirklich. Ich bin ein echter Schmalspurgeist, weißt du? Dick will dich, und er soll dich haben. Denn nichts und niemand ist für mich von irgendeiner Wichtigkeit – außer Dick. Und... für den Fall, ich überstehe die nächste Bewegung nicht so gut wie die letzte...Ich hoffe, du wirst glücklich.“
Sie meinte das wirklich ernst – vor allem, weil es bedeutete, dass Dick mit Wanda glücklich sein würde.
Wie seltsam plötzlich alles auszusehen begann! Die Menschen und die Häuser und die Sterne da oben, alles war verwirbelt, und alles aus den Proportionen gerutscht. Da war ein Ausrufer von einer der anderen Shows gekommen, ein fetter Typ in gelber Livree. Er schien zu wachsen, wurde immer fetter und fetter – bis er der Mond war.
Dann schaute sie zu Dick, ließ ihre müden Augen schweifen über seine vitale Gestalt, seinen rennpferdgleichen Körper, das elegant modellierte Kinn, die klaren Augen, die nun ernst und besorgt dreinblickten. Sie schaute – mit einem langen Blick. Dann riß sie sich zusammen, raffte jedes Zipfelchen Energie zusammen, das noch in ihr war und redete in einer festen, stetigen Sprache, die den Notarzt aufschrecken ließ. Er musterte sie besorgt, denn sterbende Unfallopfer sprachen manchmal so vor dem Ende.
„Mrs. Minton“, sagte sie, „ich bin ziemlich zermatscht, und vielleicht übersteh' ichs nicht. Ich will vorher eine Sache klären. Ihre Spangen..."
„Ja?“ Selbst die unmittelbare Aussicht auf Louises Tod konnte Mrs. Minton nicht davon ablenken, besorgt um ihre Juwelen zu sein.
„Ich hab sie gestohlen.“ sagte Louise, ohne jede Emotion. „Mir gings nicht so gut in letzter Zeit, und es war so leicht, sie zu nehmen, als Sie sie auf den Tisch gelegt hatten und alle auf die Kamelprozession sahen. Ich hab sie gestohlen. Das ist alles.“
Dick Maynard starrte sie an, sein Gesicht war fahl und schockiert.
„Louise!“ rief er. „Du bist im Delirium, das kannst du nicht ernst meinen! Es...das ist unmöglich, dass du...“
Zur Antwort öffnete Louise langsam die steifen Finger ihrer rechten Hand. Im fröhlichbunten Glühen der elektrischen Lichter, die immer noch brannten, glitzerten die Diamanten kalt und boshaft.
Mrs Minton stürzte mit einem unterdrückten Aufschrei nach vorn, zögerte dann, halb beschämt über ihren Eifer in solch einem Moment.
„Nehmen Sie sie!“ sagte Louise.
Und die Witwe nahm sie.
Dick Maynard drehte sich ohne ein Wort um, legte seinen Arm um Wanda und zog sie weg. Wanda sah zurück, lautlos weinend. Doch Louise vermied ihre Augen.
„Komm, Liebes“, ermunterte sie Dick zärtlich, Ich werd' dich nach Hause bringen. Du mußt dich ausruhen.“
Im nächsten Moment waren sie gegangen.
Ella Minton begann plötzlich zu schniefen, ihre klobigen weißen Hände aufs Gesicht gepresst, und ihre Schultern bebend in Verzweiflung.
„Oh Louise“, schluchzte sie, nach einem Taschentuch grabbelnd, während die Tränen über ihre Wangen liefen. „Warum hast das gemacht? Warum hast du sowas Furchtbares gemacht? Und zu denken, dass es passiert ist, kurz bevor du... bevor du...“
Sie fand ihr Taschentuch und schluchze erneut. „Ich hab dich immer so gerne gemocht, Louise, und – zu stehlen – also... sowas hätte ich dir niemals zugetraut!“
Louise lächelte grimmig.
„Danke!“ sagte sie, und schloß die Augen.


Originaltitel: Trough the Dragon's Valley
Detective Story Magazine, 10. 12. 1918
Übersetzung: Matthias Käther © 2018

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