Sonntag, 6. Juni 2021

Maurice Duclos: Der Monsterzüchter (1938)

 

Kein anderes SF- und Fantasymagazin ist so geheimnisumrankt wie Amazing Stories und dessen Ableger Fantastic Adventure. Grund sind die zahlreichen Pseudonyme. Die Auflösung vieler dieser Namen wird dadurch erschwert, dass hier nicht nur persönliche Pseudonyme verwendet wurden - also Namen, die sich klar einem Verfasser zuordnen lassen – sondern so genannte Housenames – Namen, die mehrere Autoren verwenden konnten. Manchmal teilten sich zwei bis drei Autoren einen Namen, mitunter nutzte solche Namen auch einfach jeder, der grade ein Pseudonym brauchte.

Und warum brauchte man sie? In selteneren Fällen wollten Schriftsteller der renommierten Blätter nicht, dass ihre Mitarbeit bei einem „Schundblatt“ bekannt wird – es verhält sich ganz ähnlich wie bei Hausnamen und Pseudonymen unserer deutschen Heftromane. Wichtiger war allerdings, Autoren-Dopplungen in Heften zu vermeiden. In den allermeisten Fällen werden Pseudonyme in Amazing/Fantastic benutzt, um die Tatsache zu vertuschen, dass zwei Texte eines Verfassers in derselben Ausgabe erschienen.

Das öffnet der Spekulation Tür und Tor: Wer war Maurice Duclos? Er hat nur drei Texte hinterlassen, nichts ist über ihn bekannt. Die Wahrscheinlichkeit, dass es sich um ein Pseudonym handelt, ist immens. Schauen wir im Fall dieser Story ins Februar-Heft 1938, fällt der Blick gleich auf zwei Namen, die im Fall der satirischen SF- und Horror-Story brillierten: Miles J. Breuer und Stanton A. Coblentz. Stilistisch würde ich eher für Breuer plädieren, weil die ausführliche Beschreibung schräger Experimente mehr für ihn typisch ist. Andererseits kann auch nicht ausgeschlossen werden, dass es sich um einen ganz anderen Autor handelt, der aus unerfindlichen Gründen anonym bleiben will. Eine weitere Theorie ist, dass es sich um einen Franzosen oder Frankokanadier handelt, dessen Text hier übersetzt wurde – allerdings hat die SF-Forschung nie einen originalen französischen Maurice-Duclos-Text gefunden.

Aber eigentlich ist das alles gar nicht entscheidend. Wichtig ist, dass es sich hier im eine herrlich fiese Parodie aufs damals beliebte Mad-Scientist-Genre handelt.





Maurice Duclos: Der Monsterzüchter (1938)


1.

Als Benny Parker in den Science Club torkelte, um hüstelnd vor sich hinzubrabbeln (wobei er niemanden im Besonderen anzusprechen schien), rissen die Mitglieder ungläubig die Augen auf. Denn „Bunny“, wie jedermann ihn hier nannte, war sogar noch scheuer als das Tier, auf das sein Spitzname anspielte. Und dass er tatsächlich angetrunken hier auftauchte – das war einfach jenseits des Vorstellbaren! Zwei grinsende Individuen langten kurz nach ihm an. Fünfzehn Minuten zuvor hatten sie Benny in einer Kneipe zu einem Bier überredet. Doch das „Bier“, das sie ihm servierten, war in Wirklichkeit ein ziemlich potentes Ale. Ihm war der Unterschied völlig unklar, bis die Welt vor seinen Augen zu schwanken und eine gigantische, nie dagewesene Courage ihn zu durchdringen begann.

Der Unterschied zwischen beiden Getränken war Benny augenblicklich ziemlich schnurz. Momentan war er damit beschäftigt – zum Amüsement der beiden Scherzbolde, die sich vor Lachen krümmten – mit großen Schritten durch den Raum zu eilen, schwungvoll Hände zu schütteln und lautstark verdatterte Klubmitlieder vollzuquatschen.

Wie sein Name schon subtil andeutet, war der Scientific Club nicht mehr und nicht weniger als ein Haufen Leute, die zueinander gefunden hatten durch ihr gemeinsames Interesse an Themen wissenschaftlicher Natur. Ein Laboratorium und eine komplette Forschungsbibliothek waren im Clubhaus installiert worden; Einrichtungen, die für eine einzelne Person unerschwinglich gewesen wären. Die Türen standen den Mitgliedern Tag und Nacht offen, und viele nutzten die Möglichkeiten des Clubs, wann immer es die Zeit ihnen erlaubte. Außerdem wurden regelmäßige monatliche Versammlungen abgehalten, und nichts weniger als eine globale Katastrophe hätte diese Enthusiasten davon abhalten können, daran teilzunehmen.

Das heutige Treffen hob sich allerdings etwas von den gewohnten ab, denn ein Ehrengast weilte in ihrer Runde, der weltberühmte Sir Hamilton Hodge. Er hatte sich gnädigerweise dazu herabgelassen, hier einige Worte zum Thema Evolution zum Besten zu geben, das Fachgebiet, das ihm den Weltruhm eingebracht hatte.

Und wie es der Würde eines solchen Stars ansteht, war Sir Hodge natürlich zu spät. Er traf eine halbe Stunde nach der vereinbarten Zeit ein und machte der Gruppe so auf höchst effektive Weise seine Bedeutung klar. Daraufhin folgte eine Einführung durch den Club-Präsidenten, natürlich mit all der bombastischen Wichtigtuerei, wie es sie sonst nur noch beim Taufen von großen Ozeandampfern gibt. Alle Mitglieder erstarrten in Ehrfurcht – außer Benny Parker, der in seiner Verfassung eher dazu neigte, die Prozedur hin und wieder mit Gekreisch und heftigem Applaus zu unterbrechen.

Dann dozierte der legendäre Wissenschaftler eine halbe Stunde über Evolution, während seine verzückten Zuhörer jedes Wort von seinen Lippen tranken wie Wein. Er schloss ehrfurchtgebietend und etwas routiniert, so als hätte er das alles schon unzählige Male vorher gesagt:

Und so, meine Freunde, finden wir, dass Mutationen in allen Formen des Lebens durch mehrere Ursachen entstehen. Erstens: durch das Überleben der Angepasstesten. Zweitens. Durch das Ererben der zum Überleben tauglichen Eigenschaften. Drittens...“

In diesem Moment erhob sich Bennys Stimme hinten im Raum.

Hey, Prof! Vergessen Sie die Strahlung nicht! Sie löst die Evolution aus, wissen Sie?“

Der große Mann ließ sich dazu herab, seinen Blick auf das kleine Individuum zu werfen, das auf seinen Füßen schwankte wie ein Baum im Orkan. Eine leichte Falte der Verärgerung erschien auf seiner Stirn.

Stahlen lösen die Evolution aus?“

Klar!“ rief Benny. „Kosmische Strahlen, oder irgendwelche unsichtbaren Strahlen von der Sonne! Durch sie entwickelt sich alles!“

Sir Hodge überwand seinen Ärger. Er zwang seinen Bass, in ein herzhaftes dröhnenden Gelächter auszubrechen. Alle andern im Raum stimmten mit ein – obwohl sie sich fragten, was denn wohl der Witz an der Sache war.

Da sind Sie völlig falsch informiert, mein Lieber. Strahlen haben überhaupt nichts zu tun mit der Evolution. Und ich habe hinreichend erklärt, wie sich Organismen entwickeln.“

Doch Benny war hartnäckig. „Ich habe von Experimenten gehört, wo Fliegen dazu gebracht wurden, ihre Form in ein paar Generationen total zu verändern – durch Kathoden-Strahlen! Ist das keine Evolution?“

Sir Hodge war nun wirklich verärgert. Bisher waren seine Theorien von allen als Fakten akzeptiert worden. Und nun kam da Kleinstadt-Amateurwissenschaftler und mäkelte daran herum. „Sie scheinen nicht zu wissen, wer ich bin!“, dröhnte er hochmütig.

Oh doch, weiß ich!“, antwortete Benny. „Sie sind Sir Hamilton Hodge, die größte Autorität auf dem Gebiet der Evolution seit Darwin. Irgendwer hat sogar behauptet, Sie wären sogar größer als Darwin selbst. Warten Sie mal, jetzt fällt mir wieder ein, wer das war – ich glaube, Sie selbst!“

Für einen langen Moment füllte atemloses Schweigen den Raum. Dann erklang irgendwo in der Menge ein Kichern. Sir Hodges Wangen färbten sich langsam rot. „Niemals zuvor...“ stotterte er, „niemals zuvor bin ich so beleidigt worden!“

Sprachs, drehte sich auf dem Absatz um und marschierte aus dem Raum.

Nach diesem fatalen Abend wagte es Benny Parker kaum noch, den Science Club zu betreten. Ob früh am morgen oder spät in der Nacht – er war sich sicher, dass irgendwer dort im Labor oder der Bibliothek herumlungern und ihn mit Strahlen oder Evolution aufziehen würde. Einmal in seinem Leben hatte er seinen ganzen Mut zusammengenommen, um zu sagen, dass zumindest Kathoden-Strahlen Evolutionen auslösten. Doch zur Antwort schallte ihm nur Gelächter entgegen.

Schließlich beschloss er, dass etwas in dieser Sache unternommen werden müsse. Er würde seine These beweisen! Wenn Wissenschaftler in der Lage waren, Lebewesen dazu zu bringen, sich zu verändern, dann konnte er das auch! Dann würde all dieses Gelächter und Gespotte ein Ende finden. Umgehend sandte er eine Bestellung zu einem der großen Lieferanten von wissenschaftlichem Equipment in Los Angeles.



2.


Als er eines Abends von der Arbeit nach Hause kam, fand er ein großes Paket vor seiner Türschwelle. Es enthielt die Vakuumröhre und den Transformer, den er geordert hatte. Sie waren nicht so groß wie die, die man für gewöhnlich in professionellen Laboren sah, hatten aber dennoch sein Konto leergeräumt. Die Vakuumröhre, eine mit Aluminium beschichtete Glas-Appartur, war nach seinen ganz speziellen Anweisungen gefertigt worden, und er sagte sich, dass der exorbitante Preis dafür gerechtfertigt war. Eine spezielle Eigenschaft war ihr „Fenster“, durch das die Strahlen an einer Stelle des Glases austreten konnten. Dieses „Fenster“ war so konstruiert, dass es der Kraft des Vakuums stand hielt – die Aluminiumschicht an dieser Stelle war durchsetzt mit winzigen 0.001 Millimeter großen Löchern, durch das die Strahlen ungehindert austreten konnten.

Mit kindlichen Eifer schleppte Benny eiligst die Bestandteile in sein Wohnzimmer und baute sie dort zusammen. Dann begann er darüber nachzugrübeln, welche Art von Kreatur sich für seine Experimente am besten eignete.

Von allen interessanten Themen der Biologie faszinierte Benny kaum etwas so wie die Gruppe der Flagellata, eine Spezies von Einzellern, die eine Art grünen Schleim in unseren Tümpeln bilden und auch unter dem Namen „Geißeltierchen“ bekannt sind. Das Merkwürdige an diesen Wesen ist, dass man sie weder als Pflanzen noch als Tiere klassifizieren kann, denn es hat Eigenschaften beider Welten. Wie eine Pflanze produziert und enthält die Flagellata Chlorophyll – damit ist sie in der Lage, ihre Nährstoffe durch Photosynthese selbst zu produzieren. Was sie unheimlich tierähnlich erscheinen lässt, sind ihre Tentakeln oder Geißeln, peitschenähnliche Auswüchse, die es ihr erlauben, sich auf der Wasseroberfläche blitzschnell fortzubewegen. Außerdem kann sie auch organische Nahrung durch ihre Zellwand aufnehmen.

Solch ein grüner Schleim ist nicht schwer zu besorgen, und schon bald beobachtete Benny eine Probe davon durch sein Mikroskop und beschloss endgültig, diese Spezies zu seinem ersten Studienobjekt zu machen. Er platzierte eine kleine Menge unter das „Strahlenfenster“ seiner Röhre.

Zu nächst sah alles nach einem Fehlschlag aus. Nach einer Stunde schienen alle Flagellaten verstorben zu sein. Er sah unter dem Mikroskop, dass die nun bewegungslosen Einzeller enorm angeschwollen waren – und seltsam trocken wirkten, trotz der Tatsache, dass sie in Wasser schwammen. Außerdem wirkte ihr kräftiges Grün nun sonderbar ausgebleicht und durchscheinend.

Er war in Hochstimmung. Die Zellen waren umgekommen, zweifellos, aber was spielte das für eine Rolle, wenn sie gleichzeitig gewachsen waren? Das Ganze war anscheinend einfach eine Frage der Strahlendosierung.

Die nächste Probe ließ er nur für wenige Minuten unter der Röhre. Nach eine Stunde Pause wiederholte er die Prozedur. Durch die Linse des Mikroskops war klar zu sehen, dass sie viel größer geworden waren als normale Geißeltierchen. Benny war unbeschreiblich hingerissen. Er hatte keinen blassen Schimmer, worauf dieses Experiment hinauslaufen sollte – doch er konnte sich schon jetzt die Überraschung und Anerkennung ausmalen, mit der sein Club ihn bedenken würde, wenn er Erfolg hatte. Womit auch immer.

Damit der Prozess ohne Unregelmäßigkeiten fortgesetzt werden konnte, ersann er eine Art automatische Zeitvorrichtung, die es ihm erlaubte, die Behandlung die Nacht über fortzusetzen – und natürlich auch am Tag, wenn er auf Arbeit war. Und die kleinen Organismen fuhren fort, zu wachsen!

Nach einer Weile hatten einzelne Flagellaten die Größe von 5 Millimetern erreicht. Es ließ sich nicht vermeiden, eine Auswahl zu reffen. Nur noch etwa zwanzig von ihnen wurden in einem großen Glaskrug weiter gezüchtet. Benny bemerkte, dass sie mehr und mehr Futter benötigten. Er entdeckte außerdem, dass die nötige Dosierung der Strahlen proportional zu ihrer Größe war und die nötige Dauer der Bestrahlung ständig wuchs – und mit ihr die Kreaturen.

Selbst mit bloßem Auge waren nun die feinen fadenähnlichen Tentakeln zu erkennen, die aus ihren grünen Körpern herauswuchsen. Doch durch das Mikroskop bot sich ein weit aufregenderer Anblick: Jeder Einzeller hatte sich in eine Ansammlung von zahllosen durchscheinenden Zellen verwandelt! Ihre winzigen Tentakeln erschienen wie starke Seile, die geschmeidig durchs Wasser peitschten. Wunder über Wunder! Sie waren nicht nur ins Gigantische emporgeschossen, sie hatten sich auch weiterentwickelt! Und das war Evolution – denn es war die Zellteilung, die sie so anschwellen ließ. Von sehr simplen Lebewesen entwickelten sie sich zu komplexen, spezialisierten Kreaturen weiter!

Als sie zweieinhalb Zentimeter groß waren, beschloss Benny, sie dem Scientific Club vorzustellen. Er lächelte, als er an das Erstaunen dachte, das sie auslösen würden. Dann würde er ihnen ins Gesicht lachen – dem ganzen Club – und ihnen zeigen, wer am Ende recht hatte! Er schaufelte die Dinger in ein großes Einweckglas und wandte sich zum Gehen. Doch dann zauderte er skeptisch. Was, wenn die Clubmitglieder ihm nicht glaubten? Sie könnten annehmen, er hätte irgendwo sonderbare Quallen oder andere rare See-Organismen aufgegabelt. Nein, das würde nichts bringen. Er musste seine Experimente fortsetzen, bis er etwas gezüchtet hatte, das alles übertraf, was bisher existierte. Er schütte die Viecher in ihren Behälter zurück und verfluchte sich innerlich für seine Feigheit.

Bisher hatten sich seine Flagellaten nicht vermehrt. Er trennte eine vom Rest, um sie ihr normales Leben ungehindert fortleben zu lassen. Sie wuchs weiter. Er wartete ungeduldig darauf, dass etwas passierte. Dann, eines Morgens, fand er, dass das Ding sich in zwei lebende, sich bewegende Wesen geteilt hatte. Er war ziemlich enttäuscht, denn unzählige winzige Organismen vermehren sich so. Er zerstörte die Exemplare.

Als der Platz im Gefäß eng wurde, weil die Flagellaten ununterbrochen weiter wuchsen, entnahm er sie nach und nach, um für den Rest Platz zu schaffen. Schließlich blieb nur eine Überlebende übrig. Als sie den Durchmesser von 40 Zentimetern erreicht hatte, erwies sich das Ding als gelbgrüne Kreatur mit seltsamen blattähnlichen Auswüchsen an einem Ende. Nur einige wenige Tentakel waren verblieben, die kranzähnlich auf horizontaler Ebene um den Körper arrangiert waren. Noch merkwürdiger aber war, dass das Lebewesen die Tendenz zeigte, das Wasser zu verlassen!



3.


Einmal, als er von der Arbeit zurückkehrte, war es der Kreatur tatsächlich gelungen, aus dem Behälter zu entkommen; sie lag auf dem Esstisch, wo er die Röhre und sein Equipment aufgebaut hatte. Eine plötzliche Furcht, sie möge verstorben sein, überrollte ihn. Doch als er nach ihr griff, machte sie eine abrupte Bewegung, als wolle sie ihm ausweichen. Als er sie zurück ins Wasser fallen lassen wollte, klammerte sie sich hartnäckig mit starken Tentakeln an ihn.

Schau mal an! Wir müssen uns was überlegen, damit du da drin bleibst!“, informierte Benny die Monstrosität. „Sonst fällst du noch vom Tisch und verletzt dich!“

Danach hielt er sie in einem Käfig, der mit Fensterscheiben verglast war und in den er das Wassergefäß platzierte. Das Ding hatte inzwischen eine wundersame Metamorphose durchgemacht. Es hatte aus den grünen Anhängseln einen fächerartigen Schwanz entwickelt, der ordinären Blättern verdammt ähnlich sah. Der Körper hatte etwa die Form und Farbe eines Kiefernzapfens, allerdings eines Kiefernzapfens, der knapp einen Meter groß war. An einem Ende befand sich ein Organ, das aus drei blütenblatt-ähnlichen Membranen bestand, die geöffnet und geschlossen werden konnten. Benny wusste, dass das eine Art Maul war, denn in letzter Zeit hatte die Kreatur mehr und mehr Nahrung durch diese Öffnungen aufgenommen, als es durch den Körper selbst absorbiert hatte, wie es für diese Lebensform im mikroskopischen Zustand üblich war.

Zur Probe warf eine eine Fliege in das Wasser, in der das Ding zur Hälfte eingetaucht war. Sofort öffnete sich das blütenähnliche Fresswerkzeug, und das Insekt verschwand darin.

Soso! Du entwickelst also eine weitere animalische Charakteristik!“ rief Benny entzückt. Dann kam ihm eine fantastische Idee. Diese Monstrosität war sowohl Pflanze wie auch Tier – was wohl passierte, wenn er Erde in der Nähe platzierte?

Er wagte nicht, die Erde ins Wasser zu schütten aus Angst, das Wesen zu verletzten. Deswegen streute er sie in eine Ecke des Käfigs, nicht weit vom Wasserbehälter. Sofort kletterte das Biest heraus und nutzte dazu geschickt seine sechs Tentakel – auf den ersten Blick wirkte es wie eine gigantische Spinne.

Atemlos beobachtete Benny es. Er hatte noch nicht abschließend geklärt, ob es über einen Gesichtssinn verfügte oder nicht, doch es gab einige runde, rot pigmentierte Flächen über dem Maul, die, schlussfolgerte er, höchstwahrscheinlich lichtempfindlich waren. Es lief ziemlich sicher zum Erdhaufen. Dann wurden Bennys Bemühungen durch einen erstaunlichen Anblick belohnt – das Ding fraß gewöhnliche Erde – mit einer Gier, als wenn es halb verhungert wäre!

Mann, das ist ja unglaublich!“ ächzte Benny, vor Erregung zitternd. Aber wenn man drüber nachdachte – was war schon so besonders daran? Das Ding war eine Pflanze, und genau wie eine Pflanze musste es bestimmte Elemente der Erde zu sich nehmen, um seinen Körper aufzubauen.

Danach kehrte es nie wieder ins Wasser zurück. Es schien alle nötigen Nährstoffe und genügend Feuchtigkeit aus der Erde ziehen zu können, mit der Benny es jeden Tag fütterte. Außerdem fügte er er Nahrung eine große Anzahl von Fliegen, Grashüpfern, ja sogar Stücke rohen Fleisches bei, die es mit größtem Vergnügen zu verspeisen schien. Eine seltsame Eigenschaft registrierte Benny mit höchstem Interesse. Das Wesen hatte die Eigenheit, die Reste des Verdauten wieder auszuwürgen. Dies schien seine natürliche Art der Eliminierung zu sein. Organisches wie Anorganisches wurde hochgeröchelt, nachdem ihnen so viel Nährstoffe wie möglich entzogen worden waren.

Besonders die tägliche Portion Erde schien dem Geißeltier gut zu bekommen, denn es wuchs rasend und sprunghaft. Benny bildete sich ein, fast sehen zu können, wie es anschwoll. Anderthalb Meter groß, bewegte es sich auf sieben Zentimeter dicken Tentakeln. Sein riesiger pfauenartiger Schwanz aus Blättern berührte inzwischen schon die Käfigdecke.

Er hatte inzwischen längst aufgehört, es mit Strahlen zu behandeln. Denn zum einen konnten sie nicht mehr alle Teile des Körpers gleichermaßen erreichen. Und dann war er zu der Erkenntnis gekommen, dass die Flagellate nun nicht unbedingt noch größer werden musste. Schließlich fraß sie immer mehr Fleisch, und das war nur ein kleiner Teil ihrer Nahrung.


4.


Als er eines Morgens aufstand, bemerkte er, das die Kreatur sich gemausert und seine schuppige Haut abgestreift hatte. Nun wirke sie etwas dünner, und Benny konnte den Gedanken an ein gerupftes Huhn nicht unterdrücken. Er verstand allerdings nicht, warum das Wesen sich so verhalten hatte. Die bräunlichen Schuppen waren überall im Käfig über die feuchte Erde verstreut. Er examinierte eine. Sie war etwa zweieinhalb Zentimeter im Durchmesser, einigermaßen kreisrund geformt und recht flach. Es gab symmetrische Einschnitte auf ihnen wie feine Schnitzereien. Er konnte sechs Tentakeln ausmachen, die gegen den Körper gefaltet waren, und einen winzigen, perfekt geformten Blattfächer auf der anderen Seite... Und plötzlich verstand er. Das, was er da in der Hand hielt, war eine Art Samen, ein Miniatur-Abbild des großen Wesens... Alles, was nötig war, um sie zum Leben zu erwecken, war Wasser!

Schon oft hatte er eine Saatbohne oder eine ordinäre Erdnuss auseinandergenommen, um die Plumula zu inspizieren – das kleine fischförmige Gewächs zwischen den beiden Hälften. Klar gezeichnete Blätter und Stengel waren in komprimierter Form in der Plumula vorgezeichnet. Obwohl inaktiv, hart und scheinbar tot – er wusste, dass solch ein Keim nur auf günstige Bedingungen wartete, um aufzugehen und zu wachsen. Und offensichtlich hatte die Kreatur sich genau in dieser Weise reproduziert. Er schätzte, dass er vor zirka eintausend solcher Saat-Kreaturen stand, die buchstäblich die gesamte feuchte Erde bedeckten.

Am nächsten Tag begannen die kleinen Saatwesen erste Anzeichen von erwachendem Leben zu zeigen. Ihre Blattschwänze, die über ihren Körpern zusammengefaltet waren, fingen an, sich grün zu färben und sich dem Licht entgegen zu recken wie die Blätter wachsender Bohnenpflanzen. Benny besprenkelte sie mit Wasser, um den Prozess zu beschleunigen. Zwei Tage später krabbelten die kleinen Biester über den Boden wie ein Schwarm von Spinnen auf Futtersuche. Aus der Erde gesogene Feuchtigkeit hatte ihre Körper wohlgerundet, ihre Beine entfaltet und sie in ein Stadium wahrnehmbarer Vitalität versetzt. Sie waren exakte Replikationen ihrer Mutter, nur viel kleiner.

Ihre ersten Bewegungen waren noch schwächlich und langsam, ähnlich wie bei einem Insekt, das seiner Puppenhülle entronnen ist. Doch nachdem sie etwas Erde gefressen hatten, entwickelten sie Kräfte, die Benny den Atem verschlugen. Allerdings wirkte ihr grüner Schwanz noch kränklich grün – wie bei Pflanzen, die zu wenig Sonnenlicht abbekommen hatten. Er wusste, dass er sie nach draußen tragen musste. Sonnenlicht ist unverzichtbar für die Produktion von Stärke in Pflanzenleben.

Eines frühen Aprilmorgens beschloss er, die kleinen Kreaturen im warmen Sonnenschein zu baden. Da er ihre Quartiere noch nicht geändert hatte, nahm er den Käfig und platzierte ihn auf der Terrasse zu seinem Hinterhof, wo die Strahlen des Sonnenlichts genau auf sie fallen konnten. Für einen Moment zögerte er, um den wunderbaren Morgen zu genießen. Frühling lag in der Luft, und die Vegetation war auf dem Höhepunkt ihres luxuriösen Wachstumsrausches. Insekten dröhnen und summten im Gebüsch, oder krabbelten über die warme Oberfläche der Einfahrt. Die Flagellaten schienen ähnlich begeistert, denn ihre Bewegungen beschleunigten sich, und ihre Schwänze begannen sich zu öffnen, um ein Optimum an Sonnenlicht in sich aufzunehmen. Zögernd betrat Benny wieder das Haus. Er würde sich diesen Morgen sehr schnell rasieren müssen, oder er würde abermals zu spät zur Arbeit kommen. Als er sein Gesicht einseifte, geschah das mit fast automatischen Bewegung. Sein Geist formte emsig Bilder von einer Welt, die hingerissen war vom Wunder seiner Kreation. Natürlich war die Idee, verschiedene Spezies mit Strahlen zu entwickeln, nicht wirklich neu. Eine östliche Universität hatte eine Pflanze kreiert mit Hilfe der Anwendung von Röntgenstrahlen und sie zu einem völlig normalen Gartengewächs entwickelt. Aber das Experiment schien nicht sehr weit gediehen zu sein, jedenfalls unterschied es sich völlig in seiner Methode. Auch hatten sie keinesfalls solche Resultate wie er erzielt. Ein Organismus, der beides war, tierisch und pflanzlich! Die wissenschaftliche Welt würde überwältigt sein vor Erstaunen! Dann würde er Angebote erhalten, um an großen Universitäten und Laboratorien für ein fabelhaftes Gehalt zu arbeiten! Reichtum! Ruhm!


5.


Benny wurde inmitten seiner angenehmen Vision durch den Hund des Nachbarn unterbrochen, der unter seinem Fenster bellte.

"Verflixt!", murmelte er. "Warum können die ihren kläffenden Köter nicht im Haus lassen?" Doch viel zu schüchtern, um bei seinen Mitmenschen Ruhe einzufordern, beließ er es bei dem grimmigen Gedanken.

Plötzlich gab es einen lauten Knall im Hinterhof. Das Bellen steigerte sich zu einem wütenden Geheule. Benny stand wie betäubt da, den Rasierapparat in der Luft erstarrt. Da war ein Geräusch, das klang, als ob etwas eine Treppe hinunterstürzte! Alle Farbe schwand aus seinem Gesicht. Der Käfig mit den Flagellaten! Er hatte ihn vergessen! Kein Wunder, dass der Hund durchdrehte!

Aber als er die hintere Terrasse erreichte, war es schon zu spät. Der Käfig lag am Fuß der Treppe, die Tür war offen. Der Verursacher des ganzen Ärgers, ein großer Mischlingshund, kläffte und schnappte spielerisch nach den kleinen Geißeltieren, als sie herauswuselten. Wie ein Schwarm von Vogelspinnen schwirrten sie über den hinteren Rasen, flohen in die umliegenden Büsche und das Unterholz. Bis auf das ursprüngliche Exemplar blieb kein einziges übrig. Das Muttertier war viel zu groß geworden, um durch die kleine Tür zu entkommen.

Benny war in Panik. Wenn er es nicht schaffte, jedes einzelne von ihnen wieder einzufangen, war nicht abzusehen, was passieren würde! Wenn sie ausgewachsen waren, konnten die kräftigen Exemplare mit ihren sechs Beinen schneller laufen als ein Rennpferd. Und als Fleischfresser könnten sie kleine Kinder angreifen - oder sogar Erwachsene!

Benny fuhr sich mit den Fingern durchs Haar, von einem weiteren schrecklichen Gedanken geplagt. In zwei Monaten würden die Dinger geschlechtsreif sein und tausend Nachkommen pro Stück produzieren.

"Im zweiten Monat werden es insgesamt eine Million sein - in vier Monaten tausend Millionen..." Weiter wagte er nicht zu rechnen. Zum ersten Mal wurde ihm der Ernst der Lage klar. In kurzer Zeit würden die Viecher die Erde überschwemmen. Das war einfach eine Frage der mathematischen Progression mit schwindelerregenden Zahlen - Tausende, Millionen, Milliarden - und die Bewohner der Erde waren ihnen als Nahrung wehrlos ausgeliefert! Natürlich würden viele der Geißeltierchen den Tod finden, aber dem stand die Tatsache gegenüber, dass sich jedes von ihnen in seiner Lebensspanne um ein Vielfaches vermehren konnte. Bennys fruchtbare Phantasie malte sich eine Welt aus, die von diesen Monstern belagert war. Tod und Zerstörung überall!

Er vergaß die Zeit, die Arbeit, alles. Nur ein Gedanke beherrschte ihn nun: dass er die Kreaturen fangen musste. Er begann wie ein Verrückter, Blumen und Sträucher auszureißen. Mit seiner Rasiercreme im Gesicht wirkte er wie ein rasender Irrer, der Schaum vor dem Mund hatte. Glücklicherweise war niemand außer seiner Nachbarin Zeuge des Anfalls. Als sie beobachtete, wie ihr im wahrsten Sinne des Wortes schäumender Nachbar auf Händen und Knien im Unkraut herumfuchtelte und wild mit einem Brett auf irgendetwas einschlug, nahm sie das Ganze recht gelassen auf. Benny war ihrer Meinung nach einfach ziemlich exzentrisch – und das schon eine ganze Weile.

Gegen Mittag gab Benny verzweifelt auf. Er hatte nur siebenundfünfzig von ihnen aufgespürt und diese Exemplare durch Schläge mit einem Knüppel erlegt, als sie aus dem Unkraut hervorsprangen. Soweit er wusste, konnte der Rest ganze Häuserblocks weit entfernt sein. Sie konnten, wie erwähnt, mit erstaunlicher Schnelligkeit über den Boden rasen.

Für den Rest des Tages war er zu krank vor Verzweiflung, um zur Arbeit zu gehen. Er konnte nur sein Unglück verfluchen und daran denken, wie viele zukünftige Tragödien er mit seiner Dämlichkeit auslösen würde. In einem plötzlichen Wutanfall schleuderte er die teure Vakuumröhre auf den Boden; dann bereute er seine Tat sofort.


6.


Qualvoll zogen anderthalb Monate ins Land. Benny war dünn geworden vor Sorge und aus Schlafmangel. Die Flagellaten würden jetzt fast ausgewachsen sein. Seine Anspannung stieg von Tag zu Tag, während er die Zeitungen nach Neuigkeiten über die Dinger durchforstete. Wahrscheinlich würde man sie in Zusammenhang mit irgendeinen grausamen Mord entdecken.

Er hatte immer noch die ersten Flagellate - und zwar in einem so massiven Käfig, dass er ihn kaum bewegen konnte. Er wusste nicht, was er mit der Kreatur machen sollte; sie war nun ziemlich nutzlos. Doch er wagte nicht, sie jemandem zu zeigen oder überhaupt irgendwem von seinem Experiment zu erzählen. Zu allem Übel wuchsen schon wieder braune Schuppensamen auf dem Körper des Muttertiers. Es würde sich bald erneut vermehren...

Benny beschloss, das Ding zu beseitigen, es zu vernichten, bevor sich die Katastrophe wiederholen konnte. Außerdem war der Unterhalt des Viehs recht kostspielig geworden - der Appetit des Monsters auf große Mengen Fleisch ging ins Geld. Also holte er noch am selben Abend seine großkalibrige Pistole und schoss, nachdem er sich genügend Mut angetrunken hatte, auf das Geißeltier. Aber zu seinem Entsetzen starb das Ding nicht - es schien nicht einmal zu merken, dass es nun ein sauberes Loch sein eigen nannte, das quer durch den Körper verlief. Etwas grüne Flüssigkeit sickerte aus der Wunde, aber das war auch schon alles.

Benny versuchte einen weiteren Schuss - mit dem gleichen Ergebnis. Dann noch einen und noch einen. Ein Bein war komplett weggesprengt, aber immer noch machte das Vieh keine Anstalten zu sterben. In seiner Verzweiflung ergriff der Hobbyforscher ein großes Schlachtermesser und hackte die seltsame Kreatur buchstäblich in Stücke. Er hätte mit derselben Leichtigkeit auch Butter zerteilen können, denn Körper des Lebewesens bestand nur aus pflanzenähnlichen Zellen; es waren keinerlei Knochen vorhanden. Jetzt, und wirklich erst jetzt, war es wirklich tot.

Benny schlief in dieser Nacht sehr wenig.

Am nächsten Tag wurden seine schlimmsten Befürchtungen wahr. Eine kleine Nachricht in der Morgenzeitung, verfasst in einer recht scherzhaften Art, schreckte ihn auf. Eine wilde sechsbeinige Kreatur war im nördlichen Teil von Los Angeles von mehreren Schulkindern gesehen worden. Sie sollte etwa einen Meter hoch gewesen sein und eine größere Beinspannweite aufgewiesen haben als ein großer Oktopus. Die verängstigten Kinder waren alle heil davongekommen.

"Donnerwetter!", stöhnte Benny. " In L.A.! Ziemlich weiter Weg von hier aus. Die Dinger müssen schon über ein Gebiet von Tausenden von Quadratmeilen verteilt sein!"

Die Zeitung des nächsten Morgens brachte noch schlimmere Nachrichten. Mehrere der Viecher waren in der Nähe dicht besiedelter Stadtteile von Erwachsenen gesehen worden. Diesmal war der Artikel etwas ernster gehalten.

Zwei Tage später sorgten die Flagellaten für echte Schlagzeilen. Sie waren bei Dutzenden von Gelegenheiten gesichtet worden, sowohl in der Nähe als auch aus der Ferne, und allein ihr Erscheinen versetzte ganze Städte in Angst und Schrecken. Mehrmals war der Verkehr auf den Hauptstraßen durch ihren Anblick zum Erliegen gekommen; es gab Tote und Verletzte. Obwohl bisher kein tatsächlicher Angriff auf Menschen durch die Monster gemeldet worden war, wurde die Polizei angewiesen, auf allen Straßen zu patrouillieren und die Dinger bei Sichtung sofort zu erschießen.

Auch das wissenschaftliche Interesse war geweckt. Das Smithsonian Institut, die National Geographic Society und ein College im Norden schickten einige der angesehensten Biologen des Landes, um einen der "Freaks der Natur" einzufangen und zu studieren.

Benny kündigte seinen Job. Die schnell ansteigende Zahl der gesichteten Flagellaten und der landesweite Alarm, der dadurch ausgelöst wurde, gab ihm den Rest. Er würde nicht mehr da sein, wenn die Dinger außer Kontrolle gerieten. Sie vermehrten sich rasend schnell, und da Kugeln ihnen kaum etwas anhaben konnten, wäre selbst eine ganze Armee als Schutzmaßnahme völlig nutzlos. Seine blühende Fantasie aalte sich selbstquälerisch in zahlreichen alten Legenden, in denen von Menschen geschaffene Wesen die die Erde überrannten. Und die Menschen würden aus diesen Erfahrungen nichts lernen - zumindest war es in den Geschichten immer so gewesen.


7.


Er brauchte nicht lange, um sein Auto mit Proviant und ein paar Dingen des täglichen Bedarfs zu beladen und sein Haus stehenden Fußes zu verlassen. Die Miete würde in ein paar Tagen fällig sein, aber das war ihm egal. Er raste am Club vorbei, ohne ihn eines Blickes zu würdigen, und befand sich bald auf der offenen Landstraße.

Dann überfiel ihn eine unbändige Neugierde. Es würde sich vielleicht lohnen, sagte er sich, auf dem Weg zu seinem Versteck durch Los Angeles zu fahren. Dann könnte er sich selbst ein Bild davon machen, wie es in dem terrorisierten Stadtteil aussah, oder ob die Zeitungen übertrieben hatten. Er wollte sich nicht eingestehen, dass er einen letzten Blick auf eins seiner Geißeltiere werfen wollte, bevor er in die Berge fuhr. Also nahm er den längeren Weg. Ein Umweg von vielen Meilen zwar, aber als er sich einmal entschieden hatte, raste er mit einer Zielstrebigkeit drauflos, die für einen so schüchternen Menschen wie ihn wirklich erstaunlich war.

Er vermied den Innenstadtbereich so weit wie möglich, denn es war offensichtlich, dass dort keine Flagellaten zu finden waren. Im einem hügeligen nördlichen Wohnviertel bog er ab. Sein Weg führte durch den Elysian Park und durch den berühmten Tunnel in der Figueroa Street - eine Röhre in drei Abschnitten, die unter einer Reihe von Hügeln im Park im Abstand von mehreren hundert Metern entlanglief.

Als er durch den ersten Tunnel fuhr, hielt ein Motorradpolizist neben ihm an. Einen Moment lang dachte er, er hätte gegen eine Verkehrsregel verstoßen, aber die ersten Worte des Polizisten waren beruhigend.

"Hey, Kumpel!", rief er über das Dröhnen des Verkehrs hinweg. "Haben Sie es gesehen?"

"Was gesehen?" schrie Benny mit einiger Anstrengung zurück.

"Na, diese sechsbeinige Missgeburt natürlich!"

"Oh", sagte Benny. Eine plötzliche Erleuchtung durchflutete sein Hirn. Noch bevor er antworten konnte, sauste ein dunkles Etwas an ihnen vorbei, als sie sich dem Ende des Tunnels näherten. Das Ding raste in den hellen Sonnenschein, und Benny stöhnte laut auf. Ein riesiges Geißeltier! Zwei Meter hoch stand es da, hinten sah man deutlich seinen geschlossenem Blattschwanz. Es galoppierte in atemberaubendem Tempo dahin, die Beine ein einziger Bewegungswirbel.

Der heranstürmende Strom von Autos, die aus dem zweiten Tunnel kamen, wurde von Panik erfasst, als ihre Fahrer das herannahende Monster erblickten. Der vorderste Wagen schrammte verzweifelt gegen den Bordstein, an dem er abprallte - von dort wurde er gegen die Betonschutzwand geschleudert. Der nächste Wagen kollidierte mit dem in den Weg ragenden Heck des ersten, und eine Sekunde später hatte sich ein Dutzend rasender Fahrzeuge zu einem schrecklichen Haufen verbeulter Wracks aufgetürmt. Blitzschnell war das Monster an ihnen vorbei und im nächsten Tunnel verschwunden.

Die Motorradstreife war zurückgeblieben, aber Benny raste weiter in den zweiten Tunnel, bevor sein aufgeschreckter Verstand wieder funktionierte. Schnell fuhr er auf den Bordstein zu, mit der vagen Absicht, verletzten Fahrern zu helfen. Aber bevor er anhalten konnte, ertönte hinter ihm eine Sirene, und ein Polizeifahrzeug raste vorbei, Gewehre feuerten und hallten durch die Röhre wie zehn Kanonen. Beim Versuch, aus dem Weg zu steuern, geriet er fast selbst in die Fänge der Randverkleidung.

Schnell legte der Streifenwagen die verbleibende Strecke im Tunnel zurück, überholte und verschmolz mit der Dunkelheit der dritten Röhre, dicht auf den Fersen des einsamen Geißeltiers.

Benny zitterte, und kalter Schweiß stand ihm auf der Stirn. Die Berichte in den Zeitungen hatten nicht übertrieben! Er beschleunigte. Der Ort wurde ihm zu heiß. Er beruhigte sein Gewissen, indem er sich einredete, dass andere Leute anhalten würden, um den Verletzten zu helfen.

Der dritte Tunnel war nahezu blockiert mit abgewürgten und zertrümmerten Autos. Es schien wenig oder keine Schwerverwundete zu geben, denn überall kletterten unverletzte Menschen aus ihren demolierten Fahrzeugen, als er vorbeikam. Von dem Geißeltier oder dem Polizeiauto war nirgendwo etwas zu sehen.

Als er eine Minute später die offene Straße erreichte, schien es, als ob die ganze Stadt hellwach war. Nahe und fern, aus verschiedenen Richtungen kommend, ertönte düsteres Sirenengeheul, das immer näher kam. Er vermutete, dass es sich um Krankenwagen handelte oder um Einsatzfahrzeuge, die zur Unterstützung der Verfolgung abgestellt worden waren. Der auch sonst sehr schnelle Stadtverkehr floss jetzt doppelt so rasch; überall wimmelte es Motorradpolizisten, die auf nichts und niemanden Rücksicht nahmen, und von Polizeiautos, die vor Gewehren und Männern nur so strotzten. Bald schon rasten sie mit kreischenden Sirenen an ihm vorbei.

Endlich erreichte Benny das offene Land. Er atmete erleichtert auf. Die Stadt war wie ein aufgewühlter Ameisenhaufen gewesen – dort herrschten völlige Verwirrung und Chaos. Nicht lange, und er würde das ganze Land – die ganze Welt! - in völliger Unordnung sehen! Eine Erde, überrannt von einer furchtbaren Kreatur, die sich mit unglaublicher Schnelligkeit und in schwindelerregender Zahl vermehrte! Überall Tod! Die Menschheit im finalen Existenzkampf!


8.


Langsam krochen die Wochen dahin. Mehr als vier Monate waren vergangen, seit Benny seinen überstürzten Abgang aus der Zivilisation bewerkstelligt hatte. In eine einsame Hütte hoch in den San Gabriel Mountains hatte er sich geflüchtet. In dieser Abgeschiedenheit hatte er in letzter Zeit nur wenige Menschen gesehen, und die auch nur aus der Ferne.

Hin und wieder wagte er sich ein paar Meilen weit weg von seiner Behausung, um Kaninchen zu jagen. Aber die meiste Zeit verbrachte vor dem Kamin, wärmte sich und dachte nach. Er fühlte sich in seinem Versteck ziemlich sicher. Die extreme Kälte und der Schnee würden die große Masse der Geißeltiere, die sich in seine Gegend trauten, schon bald abschrecken. Und wenn er zufällig auf eine der Kreaturen stoßen sollte, konnte er sich mit dem gewaltigen Degen verteidigen, den er um seine Hüfte geschnallt trug. Ansonsten fürchtete er die Menschen beinahe mehr als die Flagellaten, denn er erwartete nun jeden Tag einen großen Menschenstrom in die Berge. Wie Flüchtlinge, die vor einer überwältigenden Flut flohen, würden sie die höher gelegenen Teile der Erde aufsuchen - das wäre dann die letzte Bastion der Spezies Mensch.

Natürlich brannte Benny trotz allem vor Neugierde auf das, was in dem Land unten geschah. Er schätzte, dass sich nicht weniger als eine Million Geißeltiere dort aufhielten, die meisten von ihnen wahrscheinlich in Südkalifornien. Die Leute könnten nicht mehr aus ihren Häusern treten, ohne auf ein Dutzend der Dinger zu stoßen. Die ganze Armee wäre da unten und würde vergeblich auf sie schießen und mehr Schaden als Nutzen anrichten. Eine Billion Flagellaten bräuchten viel Fleisch zum Fressen...

Schließlich war Benny gezwungen, sich mit der Zivilisation in Verbindung zu setzen. Sein Vorrat an Proviant war gefährlich knapp geworden und musste vor dem nächsten Einschneien aufgefüllt werden. Und er verspürte nach den vielen appetitlosen Nächten nicht mehr die geringste Neigung, auch nur für eine einzige Mahlzeit den Gürtel enger zu schnellen.

Er erstellte eine Vorratsliste und fuhr sechzig Meilen zum nächsten Laden. Wie vermutet, gab es auf dem Weg dorthin keine Anzeichen für irgendwelche Monster. Sie würden noch einige Zeit brauchen, um in die Weiten des Gebirges vorzudringen.

Der Laden lag am Rand der Wüste, weit entfernt vom Haupt-Highway und wurde von Bergarbeitern als Ausrüstungsstation genutzt. Der tattrige Kerl hinter dem Tresen schien gewohnheitsmäßig zu schweigen, also beschloss Benny, sich nicht nach den Flagellaten zu erkundigen, es sei denn, der Mann erwähnte sie selbst. Man würde ihn für betrunken oder verrückt halten, falls er leugnete, je von ihnen gehört zu haben.

Der Typ beäugte ihn ohnehin schon auf eine nicht gerade diskrete Weise.

Bennys Auftrag wurde schweigend ausgeführt, doch plötzlich begann der alte Mann völlig überraschend ein Gespräch.

"Bist auf der Suche nach Gold, Partner?"

"Hm?... Oh, nein! Das heißt-"

Benny überlegte schnell. Offensichtlich konnte er nicht die Wahrheit sagen. "Ähm. Silber. Ich bin auch auf der Jagd nach Silber", verkündete er lahm.

Der Mann beäugte ihn misstrauisch. "Dann solltest du besser ein paar Dosen von diesem Zeug hier kaufen. Futtert heutzutage jeder – viel besser als Brot."

Der war so neugierig wie eine alte Klatschtante, dachte Benny und warf einen hastigen Blick auf eine Dose, die ihm der Ladenbesitzer zur Ansicht hinhielt. Auf dem Etikett war das Bild einer vielbeinigen Kreatur abgebildet.

"Ich mag kein Krabbenfleisch aus der Dose!", grummelte er. Alles, was er wollte, war, seine Vorräte einzusammeln und so schnell wie möglich in seine Hütte zurückzukehren.

"Is kein Krabbenfleisch!", erklärte der Mann. "Is das Fleisch von so nem großen, komischen sechsbeinigen Vieh, das ..."

Benny erstarrte. "Was? Ein Tier mit sechs Beinen?"

"Ja! Hast du nix davon gehört? Eines Tages is ein Haufen von diesen Dingern aus dem Nichts in L.A. Aufgetaucht. Sanft wie die Lämmer! Die Leute haben angefangen, die zu fressen. Das Zeug schmeckt besser als Kuchen! Jetzt gibt's voll den Boom, weil die Viecher nur in Südkalifornien gedeihn - das Wetter, verstehste? Alle sind ganz verrückt nach dem Zeug. Wir verschiffen es in die ganze Welt. Millionen von Dollar werden damit gemacht... Was ist los, Junge? Gehts dir nich gut?"

Benny hatte sich auf eine Bank fallen lassen. Sein Gesicht war leichenblass. "Die Sachen ver-schiffen ... Millionen von Dollars werden gemacht?"

"Klar, Mann! Aber sie kriegen nicht genug, um den Bedarf zu decken, weil jeder in der Gegend auf eigene Faust loszieht und sich eins oder zwei von den Biestern holt, um sie selbst zu verspachteln. Aber die bauen jetzt richtige Farmen auf, weißte, wo sie die züchten können. Willste ne Dose kaufen?"

Benny nickte schwach mit dem Kopf.




Maurice Duclos

Spawn of the Ray

Amazing Stories, 1938-02

Übersetzung © Matthias Käther 2021


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