Sonntag, 6. Juni 2021

Seabury Quinn: Aus dem Dunkel der Zeiten (1925)

 



Seabury Quinn (1889-1969) ist ein Horror-Autor, der gar nicht so einfach zu reanimieren ist. H.P. Lovecraft und sein Zirkel versperren den Blick auf ihn. Um Quinn rankt sich eine eine Art abgewandelter Mozart-und-Salieri-Legende: sein mittelmäßiges Mainstream-Garn in der Zeitschrift Weird Tales verdunkelte damals, so heißt es, den ungleich begabteren Lovecraft und behinderte dessen Erfolg.

Genaue Lektüre der Leserspalten der Zeitschrift widerlegen diese Behauptung – oft verschlangten dieselben Fans, die Lovecrafts Loblied sangen, ebenso die neueste Quinn-Story. Sie wussten beide Autoren gleichermaßen zu schätzen.

Tatsächlich blieb Quinn einer der populärsten Autoren in dem Blatt durch die gesamte Erscheinungszeit 1923-54 hindurch. Ob er wirklich unbegabter war, wird vielleicht eine spätere objektivere Generation entscheiden, die sich etwas vom durchaus verständlichen Lovecraft- und Howardfieber des 20. Jahrhunderts gelöst hat.

In Ästhetik und Weltsicht ist kaum ein größerer Gegensatz zwischen dem genialen Lovecraft-Kreis der 20er bis 40er Jahre (Lovecraft-Howard-Smith-Long-Bloch-Derleth) und Seabury Quinn denkbar. Waren diese Autoren bemüht, die Horror- und Fantasyszene von Grund auf zu erneuern und die Traditionen der alten Geistergeschichte zu zerstören, versuchte Quinn, die Gothic-Folklore zu erneuern und so umzuformulieren, dass sie neuen Standards gerecht wurde. Dabei nutzte er mitunter durchaus auch drastischere Mittel wie Erotik- oder Splatterelemente und band neue Krimi-Techniken mit ein.

Aus dem Dunkel der Zeiten“ ist bemerkenswert. Vielleicht ist es nicht die beste Werwolf-Geschichte von ihm – das dürfte „The Wolf of St. Bonnot“ (1930) sein. Doch hier nähert er sich erstaunlicherweise ausnahmsweise der Lovecraftschen Welt an – um sie zu verspotten oder um sich vor ihr zu verneigen? Das mag der Leser entscheiden. Ich glaube, beides ist der Fall. Quinn verbindet die Werwolf-Legende geschickt mit der lovecraftschen Angst vor dunklen Zeiten, die Äonen zurückliegen; kühn verknüpft er bekannte Werwolf-Traditionen mit der fahlen Welt der geheimnisvollen Dolmengräber in Wales, Steinmonumente, die denen von Stonehenge nicht unähnlich sind. Die Geschichte hat vielleicht mehr lose Enden als das spätere Gegenstück von 1930, doch gerade ihre geheimnisvolle Atmosphäre finde ich sehr geglückt.

Meines Wissens ist dies nicht nur eine Erstübersetzung, sondern auch die erste Veröffentlichung außerhalb der Weird-Tales-Ausgabe vom Januar 1925 überhaupt.


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[Auszüge aus dem Tagebuch von Professor Simeon Warrener; D. Sc. Ph., D.]


  1. September 1924


Zwei Briefe in der Nachmittagspost, beide müssen beantwortet werden. Am wichtigsten: Eine Mitteilung von Morgan Carew, der mich einlädt, nach Wales zu kommen und ihn bei gewissen Ausgrabungen zu unterstützen, die er diesen Herbst geplant hat. Er ist auf einen vielversprechend aussehenden Hügel in der Nähe von Cag na Gith gestoßen, nicht weit von Chatsworth, und erwartet interessante Funde. Es gibt ein Dolmengrab in extrem gut erhaltenem Zustand auf einer der Erhebungen, und er glaubt, in der Nähe aufschlussreiche Hausrat-Überreste der alten Zivilisation zu finden.

Der zweite Brief ist eine Bitte von Alice Frasanet, die mich fragt, ob ich nicht morgen um vier zum Tee kommen kann. Ich schätze, dieses Ärgernis habe ich Frank Seabring zu verdanken. Seit er das Mädchen kennengelernt hat, führt er Indianertänze um sie auf, um ihre Aufmerksamkeit zu erregen, und immer, wenn ihm der Gesprächsstoff ausgeht, singt er mein Loblied. Es hat gewisse Nachteile, eine Assistenten in einem Alter zu haben, in dem man für weibliche Reize überempfänglich ist. Ohne Frank, und natürlich ohne die Tatsache, dass Frasanet senior der Gesellschaft für Anthropologische Forschung immer wieder so freigiebig Geld spendet, würde ich die Einladung ignorieren. Aber der Junge mag mich nun mal schrecklich gern, und da er auch noch ein so fähiger und gewissenhafter Assistent ist, werde ich beide Einladungen akzeptieren.


  1. September 1924


Alles in allem genommen, war Alices Party ein Erfolg. In den wenigen Momenten, in denen es mir möglich war, Frank beiseite zu zerren, erzählte ich ihm von meinem Vorhaben, Carew zu unterstützen und bat ihn, seine Siebensachen so schnell wie möglich zusammenkratzen, da ich aufbrechen will, bevor die Herbststürme einsetzen. Ich bin nicht besonders see-tauglich.

Er schien zunächst etwas niedergeschlagen, doch ein paar Minuten später strahlte er übers ganze Gesicht und versicherte mir, er wäre nicht nur entzückt, an der Expedition teilnehmen zu dürfen, sondern würde seinetwegen so lange in Cag na Gith bleiben, bis er sich ins Zentrum der Erde durchgebuddelt hätte, wenn ich es wünschte. Frank ist ein guter Kerl, mir aber mitunter ein bisschen zu flapsig.

Wenn es jemals ein Wesen mit einer Naturbegabung zum Flirten gab, dann ist es Alice Frasanet. Bevor die Gäste auseinanderliefen, richtete sie es so ein, dass sie gebeten wurde zu singen, und mit Dora Caruthers Begleitung trug sie „The Land of The Sky-Blue Water“ vor. Frank tat mir ehrlich leid. Das kleine Luder pflanzte sich direkt ihm gegenüber auf und sang ihn direkt an, wie ein Broadway-Chordämchen einen unglücklichen Zuschauer im Publikum ansingen würde.

Die halb-mythische Geschichte von irgendeinem entfernten Verwandten Franks, der eine Mohawk-Indianerin geheiratet haben soll, damals in den Tagen, als Boston noch eine Rinderkoppel war, ist ein ewiger Running-Gag bei seinen Freunden, und Alice erklärte, sie widme die charmante kleine Ballade dem Tropfen Indianerblut in ihm.

Und er machte seiner angeblichen Abstammung in der Tat alle Ehre, denn er verwandelte sich umgehend in eine Rothaut – purpur wie ein gekochter Krebs vom Kragen bis zu den Haarwurzeln. Und das, bevor sie das Lied zu Ende gebracht hatte!

Ein anderer Umstand, der mir die dröge Zeit mit fadem Tee und noch faderer Konversation etwas versüßte, war eine Geschichte, die Shela Tague mir erzählte, und zwar betraf sie zufälligerweise direkt Cag na Gith! Ich erwähnte zufällig meinen Plan, mit Frank dorthin zu reisen und Carew bei seinen Grabungen zu unterstützen, und als ich den Ortsnamen erwähne, schien mir, dass sie plötzlich totenblass wurde und bis ins Mark erschauerte.

In dem Glauben, ihr wäre übel von der stickigen Luft, war ich gerade dabei, ihr ein Glas Wasser zu holen, als sie mich bat, mich wieder zu setzen und sich ein Erlebnis anzuhören, das in der Nähe des Fleckens drei Jahre zuvor gehabt hatte.

Ich übernachtete damals in einem Farmhaus, etwa eine Meile von der Bahnstation entfernt“, begann sie. „Ich habe dort hin und wieder Skizzen gemacht, meistens war ich aber wandern – über die Hügel und das Moor in der Umgebung.

Eines Abends, kurz vor Sonnenuntergang, hatte ich meine Staffelei ein paar hundert Fuß von der Bahnstation aufgebaut und malte versunken vor mich hin und dem verzweifelten Bemühen, meinen Farben so realistisch wie möglich den Originalen im Tageslicht anzupassen. Zufällig blickte ich mich um, und sah einen Mann von sehr merkwürdiger Erscheinung auf einem Gepäckwagen in der Nähe des Bahnhofs sitzen und mich intensiv anstarren.

Es gibt nicht mehr als ein Halbdutzend Häuser in ganz Gag na Gith, wissen Sie, und alles, was auch nur annähernd wie ein Fremder aussieht, selbst ein Penner, ist eine Attraktion für die Einwohner. Ich glaubte eigentlich jedes Geschöpf im Dorf zu kennen, ganz gleich, ob es zwei- oder vierbeinige Ahnen hatte. Aber diesen Typen hatte ich noch nie gesehen.

Ich fuhr fort mit meiner Malerei, bis die Sonne hinter die Erhebung sank, in der sich das Dolmengrab befindet, und die Luft begann in der einsetzenden Dämmerung kühl zu werden. Ein- oder zweimal schaute ich aus meinen Augenwinkeln zurück, um zu sehen, was mein Kumpan so trieb, und jedesmal sah ich ihn in derselben steifen aufrechten Position dort hocken und mich unbeirrt anstarren.

Als ich mein Malzeug und meinen Campingstuhl zusammenpackte und den Weg nach Hause einschlug, erhob er sich und begann in dieselbe Richtung zu laufen.

Es lag nichts Eiliges in seinem Gang, Dr. Warrener, doch ich spürte, dass er...ganz im Jagdfieber war und versuchte mich einzuholen. Ich fing an, meine Schritte ein wenig zu beschleunigen, und plötzlich verringerte er mit zwei riesigen Sätzen – es war, als ob ein Athlet aus dem Stand sprang! - verringerte er die Distanz zwischen uns um fünf Meter, und mir wurde klar, dass er auf einer Höhe mit mir sein würde, bevor ich das kleine Wasserloch passieren konnte, das in einiger Entfernung an den Schienen lag. Ich hatte ihn vorhin nicht besonders genau betrachtet und konnte ihn auch jetzt in der zunehmenden Dunkelheit nicht deutlich sehen, aber es war etwas an dem Mann, das mich in panischen Schrecken versetzte, obwohl ich nicht genau hätte sagen können, was es war. Er war groß. Sehr groß. Eindeutig über Eins achtzig. Er war erschreckend dünn und schien einen enganliegenden Anzug aus schäbigem, zottigem grauem Stoff zu tragen. Und obwohl er direkt auf dem Schotterbett der Scheinen entlanglief, machten seine Schritte kein Geräusch.

Ich hastete schneller voran, doch als ich sah, dass ich ihn auf keinen Fall abhängen würde, beschloss ich die Sache auszufechten und drehte mich zu ihm um, ärgerlich fragend: 'Warum folgen Sie mir?'

Professor Warrener – und wenn ich hundert Jahre alt werde, niemals werde ich in der Lage sein, dieses schreckliche Gesicht zu vergessen. Es war klein und schmal und spitz zulaufend, wie bei einem Hund, und die Zähne, die aus seinem breiten, riesigen Mund hervorragten, waren lang, gelb und gebogen, wie die Fänge eines Raubtiers. Doch das schrecklichste an ihm waren die Augen. Sie glotzten und glühten mich an wie zwei Scheiben Phosphor im Halbdunkel, und ich erinnere mich, dass ich für einen winzigen Moment – so absurd Ihnen das auch erscheinen mag – an ein Zitat aus Rotkäppchen dachte. Erinnern Sie sich, wie sie den Wolf fragt: 'Aber Großmutter, was hast du für große Augen? Aber Großmutter, was hast du für große Zähne?'

Genau diese Worte schossen mir durch den Kopf, und die grässliche Antwort auf diese Fragen flog mir entgegen wie das Echo eines Todesschreis. Ich werde nie in der Lage sein, einen Blick auf ein Märchenbuch zu werfen, ohne zu erschauern; seit dieser Zeit ist Rotkäppchen eine entsetzliche Gruselgeschichte für mich, eine reale. Eine schrecklich reale!

Was das das Monster getan hätte – ich kann von ihm nicht als einem Mann sprechen! – das weiß ich nicht. Und ich mag auch nicht gern darüber nachdenken. Aber was ich einige Sekunden später sah, lässt mich mitunter in der Nacht schreiend erwachen, sogar heute noch.

Während er immer noch 5 oder 6 Meter entfernt war, hoppelte ein kleines graues Kaninchen aus seinem Loch in den Felsen und huschte zwischen uns. Als es vor ihm dahinschoss, erblickte das Ding es, schien mich sofort zu vergessen und begann es zu verfolgen. Sie wissen, wie schnell ein verängstigtes Kaninchen rennen kann, Professor? Ich versichere Ihnen, das arme kleine Ding hatte nicht die geringste Chance mit diesem großen, hageren Verfolger auf seinen Spuren. Er hatte es eingeholt , bevor es hundert Meter entfernt war. Ich hörte die arme Kreatur kreischen, als er seine langen knochigen Finger in sie bohrte, sie packte, sie immer noch zappelnd zu seinem Maul heraufhob und dann mit seinen Zähnen Stücke aus ihr herausriss.

Ich rannte zu unsrem Haus, wie ich niemals zuvor in meinem Leben gerannt war, und kam dort mehr tot als lebend an. Und jeder Tropfen Blut in meinen Adern schien so kalt wie der Nachtschweiß zu sein. Meine Wirtin schüttelte ihren Kopf, als ich erzählte, was ich gesehen hatte und sagte: 'Gehen Sie nie wieder nachts aus dem Haus, Miss, denn es gibt dort Geister in den Hügeln. Und ich habe meinen Großvater erzählen hören, dass sie manchmal nach menschlichem Fleisch dürsten.'

Trotz Shelas Ernsthaftigkeit konnte ich ein Grinsen nicht verbergen. „Wir werden uns dort nach toten Kaninchenjägern umsehen, und die lebenden links liegen lassen“, versicherte ich ihr. „Was Sie gehen haben, war wahrscheinlich irgendein halb verhungerter Landstreicher, vielleicht ein Irrer, der aus einer Heilanstalt ausgebrochen ist.“

Nein“, schwor sie, „auf keinen Fall! Nichts Menschliches könnte so ausgesehen haben wie dieses Ding! Bitte, bitte, Professor Warrener, gehen Sie nicht nach Cag na Gith! Ich weiß, etwas Schreckliches wird passieren, wenn Sie es tun! Ich für meinen Teil würde jedenfalls nie wieder dort aufkreuzen, nicht mal am hellichten Mittag, für alles Geld der Bank von England nicht!“

Möglich,“ gab ich zu. „doch wir suchen dort nach etwas viel wertvollerem als Geld. Wir graben nach Relikten einer verschollenen Zivilisation!“

Zu meinem Erstaunen bekreuzigte sich die kleine irische Frau plötzlich. „Graben?!“ Sie schrie fast. „Graben? Und in diesen Hügeln? Professor Warrener, Sie wissen nicht, was sie tun! Die Landbevölkerung dort würde keinen Spaten in einen dieser Hügel stecken! Für nichts auf der Welt! Sie sagen, der Körper eines Bugwolfs ist dort begraben, und die Überreste zu bewegen, hieße, seinen Geist wiederzuerwecken!“

Ein Bugwolf?“ wiederholte ich, „eine Art Werwolf also? Das erklärt den Zustand der Dolmengräber und Erhebungen. Die Furcht vor dem Werwolf hat vermutlich die Bauern ferngehalten. Carew erzählte mir, dass der archeologisch fast jungfräuliche Zustand der Gegend ihn verblüfft hätte. Ihr Freund der Werwolf, oder wie die Waliser sagen, der Bugwolf, hat der Wissenschaft einen wertvollen Dienst erwiesen. Ich würde ihn zu gern für die Ehrenmitgliedschaft in der Gesellschaft für Anthropologische Forschung vorschlagen.“

Ach, Doktor Warrener, nehmen Sie das nicht auf die leichte Schulter. Ihr Wissenschaftler, die ihr weder an Gott noch Teufel glaubt, ihr wisst gar nichts! Ihr glaubt, ihr kennt alles, aber ihr habt keinen blassen Schimmer! Diese Geschichten von Geistern und Werwölfen sind so alt wie die Menschheit selbst. Sicher muss ein wahrer Kern in ihnen sein, oder sie würden sich nicht so hartnäckig gehalten haben.“

Nun“, gab ich zurück, „wenn das, was Sie gesehen haben, wirklich ein Wolfsmann war, dann sollte er sich besser eine Weile zur Ruhe setzen, wenn wir dort sind. Frank Seabring ist zum Teil ein Mohawk-Indianer, wissen Sie? Eine Vorfahrin von ihm war eine Frau vom Totem eines Bärs, und die Sippe behauptet von sich, von einem großen Bären abzustammen. Und sie war stets mit den Sippen, die den Wolf zu ihrem Totemtier erhoben haben, auf Kriegsfuß. Und wenn ich meine vorkolonialen Geschichtskenntnisse richtig beisammen habe, haben die Bärleute für gewöhnlich gewonnen.“

Shela zuckte heftig mit ihren Schultern, so wie ein Spaniel Wasser von seinem Fell abschütteln würde. Sie stand auf. „Sie werden es bereuen, wenn Sie in diesen Hügeln graben“, warnte sie.

Ich würde es noch mehr bereuen, wenn die Leitung der Gesellschaft erfährt, dass ich dort nicht nicht grabe, nach all dem, was wir von der Gegend wissen“, konterte ich. Die Wissenschaftler von heute sind wie Maurer oder Zimmerleute, wissen Sie? So und so viele Ziegelsteine müssen sie legen und soundso viele Nägel einschlagen, um soundsoviel Lohn zu bekommen. Eine gewisse Summe wissenschaftlicher Entdeckungen pro Jahr – ein neuer Titel! Keine Entdeckungen – kein Gehalt. Sie bekommen nur so viel, wie Sie wert sind. Und ich glaube, ich trotze lieber Ihrem walisischen Werwolf als dem hageren Gespenst des Hungers, das ein leeres Konto heraufbeschwört.“

Mit dieser etwas hausbackenen Philosophie erhob ich mich ebenfalls und verabschiedete mich von Alice, nahm Hut und Stock und ging, um für die Reise zu packen.


10. Oktober 1924


Cag na Gith. Ein dreckiges kleines Loch ist das! Sechs oder acht traurig aussehende Hütten, klammern sich mit trübseliger Zähigkeit an den Hängen fest, die sich in der Nähe der schäbigen kleinen Bahnstation erheben. Ein nervöser kleiner Zug schnauft zweimal täglich hinauf zum Bahnsteig, immer damit drohend, einen Fremden in unsere Mitte zu speien, ohne diese Drohung je wahr zu machen. Selbst die Säufer im Dorfgasthaus sind von einer Aura spießiger Drögheit umgeben. Das einzig Interessante in dieser Gegend ist das große Dolmengrab, das die höchste Erhebung krönt. Dort steht es, genau eingenorded wie mit einem Kompass, und starrt verächtlich hinab auf diese degenerierten Abkömmlinge der einst mächtigen Bretonen, so wie ein Ahnenbild angesichts familiärer Verschwendung wütend auf seine Nachfahren starren mag.

Carew hat ein Häuschen gemietet, das nur wenige Gehminuten von der Grabungsstätte entfernt liegt. Eine Witwe, die mehr Falten im Gesicht hat, als ich je bei einem menschlichen Wesen gesehen habe, lebt eine Viertelmeile entfernt und kocht für eine kleine Gegenleistung für uns und versieht und auch sonst mit allem Nötigen. Die Reste eines alten Steinbruchs liegen etwa hundert Yards vom Grab entfernt; hier haben wir eine vielversprechende Fläche abgesteckt. Morgen beginnen die Ausgrabungen.


12. Oktober 1924


Nichts Bemerkenswertes. Unsere Grabungsarbeiten haben mehr Enttäuschungen zutage gefördert als alles andere. Ein paar Meter tief stießen wir auf eine Schicht von grobem Sand und Kies und eins, zwei Exemplaren blauen Gesteins, das eindeutig nicht aus dieser Gegend stammt. Danach kam Wasser. Wenn es in den nächsten zwei oder drei Tagen nicht besser wird, werden wir unsere Tätigkeit zu einem anderen Hügel verlagern.


13. Oktober 1924


Keine neuen Entdeckungen von Bedeutung. Ein paar Knochen, anscheinend hundeartig, kamen heute im feuchten Sand ans Licht.

Das Wetter ist wahrnehmbar kühler, und scharfe Winde kommen während der Abenddämmerung auf. Letzte Nacht war die Brise so stark, dass sie an den Fenstern und Türen in einer höchst enervierenden Weise rüttelten; eins-, zweimal flackerte meine Lampe so stark, dass sie fast erlosch. Die Luft hat außerdem eine eisige Qualität – unserem kleinen Feuer gelingt es kaum, den Raum gemütlich warm zu halten. Mehrere Male spielten die Böen meinen Sinnen einen Streich – ich hätte schwören können, dass ein Hund an den Ritzen schnüffelte. Doch wenn ich die Tür plötzlich aufriss, war da nichts.

Unser Haus muss in einem Luftstrom liegen, der genau zwischen den Hügeln verläuft, denn als ich zufällig aus dem Fenster sah, während die Fensterscheiben ratterten, sah ich, dass die Tannen auf den Berggipfeln vollkommen ruhig waren.

Frank war den ganzen Tag über ungewöhnlich ruhelos. Zweimal ließ er seine Arbeit liegen, um ins Dorf zu gehen, und jedesmal stand ihm die Enttäuschung ins Gesicht geschrieben, wenn er zurückkam. Ich vermute, er erwartet einen Brief von dem Frasanet-Mädel.


  1. Oktober 1924


Es ist wirklich außergewöhnlich, dass der Wind sich ausgerechnet für unser Haus entschieden hat, um uns hier seine Streiche zu spielen. Kurz vor Sonnenaufgang wurde ich vom Rattern der Fensterflügel wach. Sie knirschten und bebten so stark, dass ich glaubte, jemand versuche, sich mit Gewalt Zutritt zum Haus zu verschaffen. Weder Carew noch Frank schienen sich vom Lärm gestört zu fühlen, so stand ich auf, um nachzuschauen. Sobald ich meine Taschenlampe auf das Fenster richtete, verstummte das Rattern. In dem Moment, in dem ich dem Fenster den Rücken kehrte, begann das Getöse wieder; wenn ich minutenlang vor dem Fenster postierte, begann das Spektakel an der Hintertür. Als ich durch die sparsam eingerichtete kleine Küche dorthin eilte, ging es wieder vorne los.

Für eine ganze Weile spielte ich eine Art verrückter Blindekuh-Spiel, schließlich verfluchte ich mich für meine Blödheit und ging wieder ins Bett. Doch die scharfen, wütenden Windstöße ließen nicht nach, warfen sich gegen Fenster und Türen, heulten und winselten in den Dachrinnen und im Kamin und ließen die Wände beben. Dann endete es fast so abrupt, wie es begonnen hatte, und die absolute Stille des Morgengrauens senkte sich über das Haus.

Die alte Mrs. Jones deckte gerade den Teetisch, als ich am Nachmittag ein paar Augenblicke vor den andern den Raum betrat.

Machen Sie bald Schluss mit dem Gegrabe?“ fragte sie, während sie ihre Ton-Kanne mit einem Warmhalter überzog.

Nein“, antwortete ich, „wir haben ja grade erst angefangen.“

Sie werden doch nicht am Steinbruch graben, oder?“ hakte sie nach. „Nicht noch tiefer“?

Sie vermied es, mich anzusehen, doch es lag eine fast fieberhafte Besorgtheit in ihren Worten.

Wir haben da nicht viel gefunden,“ bekannte ich. „Wir werden es woanders versuchen, wenn wir in den nächsten paar Tagen kein Glück haben.“

Die alte Dame beschäftigte sich einige Minuten lang emsig mit ihrem Toast und der Marmelade und fragte dann unvermittelt: „Haben Sie die Hunde gehört letzte Nacht?“

Die Hunde? Nein – was für Hunde?“

Oh“, wich sie aus, „da war so ein Gejaule, als wenn wer durch die Hügel rennt. Der Wind bestimmt.“

Natürlich habe ich den Wind gehört!“ versicherte ich ihr. „Er heulte länger als eine Stunde um das Haus letzte Nacht. Pflegen walisische Hunde für gewöhnlich bei Sturm zu jaulen?“

Alle Hunde heulen in der Sturmnacht,“ gab sie düster zurück. „Fünfundsechzig Jahre hab ich nun in dieser Gegend gelebt, und es gab immer Ärger, wenn Leute hier gegraben haben am großen Hügel. Ich sage nicht, dass es wahr ist, aber mein Vater sagte immer, da wäre ein Geist, den sein Vater gesehn hat neben dem Heidengrab auf der Anhöhe. Es gibt welche, die meinen, die alten Toten wären nicht tief genug begraben worden, und sie würden aus den Gräbern kommen und herumwandern, wenn ihre Ruhestätten gestört werden. Und dann gibt’s welche, die sagen, es wacht ein Dämon neben dem Steinbruch. Deshalb würde hier niemand einen Spatenstich wagen, und wenn da haufenweise Gold zu holen wär. Wenn die Hunde heulen, dann wissen sie, dass die Unholde draußen sind.“

Sie glauben, die Hunde sehen Dinge, die wir nicht sehen können, ja?“ fragte ich amüsiert.

Aye!“, antwortete sie schlicht. „Die Hunde sehen, was sterbliche Menschenaugen nicht sehen können. Weil sie keine Seele haben.“

Ich fummelte an meinem Jackett herum, um meine Pfeife hervorzuholen, und mit ihr kam ein kleines hartes Objekt ans Tageslicht. Es war einer dieser blauen Steine, die wir tags zuvor aus dem Steinbruch geholt hatten. Ich legte ihn auf den Kaminsims und öffnete meinen Tabakbeutel.

Wie kommen Sie zu dem da?“

Mrs. Jones starrte den blauen Stein an, als ob ein Monster über ihm schwebte.

Oh, das?“ Naja, das haben wir gestern aus dem Kies geborgen. Seltsames Stück, oder? Es gibt nichts Derartiges sonst hier in der Gegend. Kann mir nicht ausmalen, wie es hierher gekommen ist, und ...“

Tun Sie es zurück – heute Nacht noch!“ unterbrach sie mich aufgeregt. „Das ist ein Bugwolf-Stein! Mann o Mann, Sie wissen nicht, was Sie angerichtet haben, als die den Stein da wegnahmen!“

Ein Bugwolf-Stein?“ echote ich.“Was soll das sein?“

Sie wrang den Saum ihrer Schürze mit ihren knorrigen Händen und schluckte mühsam.

Ich bin eine Christenfrau, und ich halte nicht allzu viel von den alten Geschichten, aber es heißt, hier ging früher ein Wolf-Dämon um in diesen Hügeln, mordete alles, was er erwischte, und als unsere Vorväter seinen Leib töteten, vergruben sie ihn unter einem Haufen magischer Steine, um seinen Geist zu bannen. Mensch, Sie haben die Dschinn-Flasche entkorkt, als Sie den Stein aus der Erde genommen haben! Er wird wieder umgehen, wird an Ihren Türen und Fenstern herumschleichen, und irgendwann wird es schaffen, reinzukommen. Und dann wird Sie der Tod ereilen!“

Ich balancierte den kleinen Gesteinsbrocken eine Weile auf meiner Handfläche, dann schleuderte ich ihn durch die offene Tür nach draußen.

Er soll nur kommen und sich seinen verdammten Stein wiederholen!“ rief ich verächtlich und tastete nach einem Streichholz, um meine Pfeife anzuzünden.

Die zuknallende Tür ließ mich hochschrecken. Mrs. Jones flüchtete den Pfad hinunter, so schnell sie ihre rheumatischen Beine tragen konnten.


  1. Oktober 1924


Mrs. Jones hat uns gekündigt. Bestechungsversuche, Drohungen, Flehen – nichts konnte sie dazu bewegen, sie zurückzubringen. Unser Angebot, den blauen Stein wieder an seine alte Stelle zurückzulegen, beschwichtigte sie zunächst ein wenig, doch als wir nach ihm suchten, war das Ding nirgendwo zu finden. Ich muss ihn gestern weiter weggeschleudert haben, als ich dachte.


18.Oktober 1924


Einen Assistenten in einem höchst beeinflussbaren Alter zur Seite zu haben bringt auch gewisse Vorteile mit sich. Alice Frasanet kam heute morgen an, sozusagen mit mit „Kind und Kegel“, wobei das „Kind“ sich als ihre Tanta Anna entpuppte.

Nicht dass Frank gerade von irgendwelchem Nutzen ist, dafür erweist sich Alice' Hilfe als um so wertvoller. Praktisch wie sie ist, hat sie sofort die vakante Stelle von Mrs. Jones ausgefüllt, und wir wurden soeben stapelweise mit Bisquit verwöhnt, amerikanischem Bisquit, wohlgemerkt! Die Ladys schlafen im Jones-Gebäude, und wenn alle List und Tücke, die ich aufwende, anschlägt, dann bleiben sie hier, bis unsere Arbeiten beendet sind.


19.Oktober 1924


Heute haben wir unseren ersten richtigen Fund gemacht! Nach einiger halbherziger Buddelei stieß ich auf etwas, das wie ein menschlicher Oberschenkelknochen aussah, und nach einigen wenigen weiteren Stichen lag ein fast perfekt erhaltenes Skelett vor uns im Sand. Wer immer der lebende Besitzer dieser Knochen war, er muss eine wahre Bohnenstange gewesen sein, denn die Gliedmaßen sind überproportional lang. Auch die Finger und Zehen dürften ihm eine Menge Probleme bereitet haben, denn sie sind seltsamerweise nur halb so lang wie die beim modernen Menschen.

Wir legten die Überreste auf eine Decke neben dem Grabungsaushub und suchten nach dem Schädel. Und hier begann das Rätselraten, denn obwohl wir den Sand in der ganzen Umgebung praktisch durchsiebten, konnten wir den Kopf nicht finden. Schließlich, nach einer Stunde vergeblicher Suche, holten wir einen großen Hundeschädel aus dem Boden, der säuberlich an der Wirbelsäule abgetrennt war. Wir werden diese Knochen sorgfältig verpacken und aufbewahren, um sie mit eventuellen weiteren Fundstücken dieser Art zu vergleichen. Möglicherweise sind wir auf Reste einer uralten hundeköpfigen Menschenspezies gestoßen... Oder haben vielleicht die alten Druiden aus irgendwelchen Gründen enthauptete Straftäter mit einem Hundeschädel beigesetzt? Es ist noch zu früh, um irgendwelche Hypothesen aufzustellen, aber die Möglichkeiten sind sehr vielversprechend.

Vielleicht haben wir Shela Tagues Werwolf ausgebuddelt?“ schlug Frank vor, als ich das Skelett den Weg hinunter zu unserem Haus trug.

Vielleicht bist du ein Schwachkopf?“ erwiderte ich.


  1. Oktober 1924


Irgendwer versucht unsere Arbeit zu stören.Als wir diesen Morgen am Steinbruch anlangten, fanden wir jede Menge Sand im Grabungsbereich, das Zelt war aus den Verankerungen gerissen, und einige unserer Werkzeuge fehlten. Abdrücke von großen nackten Füßen zeigten, dass der Täter seine Stiefel ausgezogen hat, vermutlich in der Absicht, seine Identität zu verbergen – doch warum jemand so etwas tun sollte, entzog sich meinem Vorstellungsvermögen. Ein Paar Landei-Stiefel sieht für mich genau wie das andere aus.

Gegen Abend begann es heftig zu regnen. Carew und ich rauchten endlos Pfeife und spielten endlose Partien Scrabble. Frank ging rüber zum Jones-Haus. Es war nahe Mitternacht, als er hereinplatzte, völlig durchnässt und sehr aufgeregt.

Ich habe ihn gesehen!“, schrie er und schleuderte seinen triefenden Regenmantel über einen Stuhl. „Ich habe ihn gesehen, aber er ist entwischt!“

Wer?“ riefen wir im Chor.

Der Kerl, der versucht, unsere Arbeit zu ruinieren! Als ich das Jones-Haus verließ, fing die Mischlings-Welpe der alten Dame schrecklich zu heulen an – ihr hättet denken können, die Alte sei gestorben, solch einen Radau machte das Vieh – und da erspähte ich einen verdächtig aussehenden Typen die Straße runter. Ich behielt ihn im Auge, als ich den Weg weiter abwärts schlenderte, und als er den Pfad verließ und auf den Steinbruch zusteuerte, folgte ich ihm. Er ging geradewegs zur Grabungsstätte und dann runter auf alle Viere und fing an, Sand in das Loch zu kratzen wie ein Hund.

Ich stieß einen Kriegsruf aus und schoss auf ihn zu, doch er sah mich kommen und gab Fersengeld – verschwand über den Hügel.“

Wie sah er denn aus?“ fragte Carew. „Keinen verdammten blassen Schimmer!“, gab Frank zu. „Es regnete so heftig, dass ich anfangs kaum etwas erkennen konnte, und er preschte so schnell davon, als ich losschrie, dass ich nicht viel von ihm zu sehen bekam. Alles, was ich sagen kann, ist, dass er bestimmt mindestens einen Kopf größer ist als jeder von uns und dürr wie eine Pute nach 'ner Abmagerungskur. Seine Klamotten schienen hauteng anzuliegen, und er trug sowas wie eine Schirmmütze – es muss sowas gewesen sein, irgendwas Spitzes ragte aus seinem Gesicht – und - oh Mann, der konnte vielleicht rennen!“

Wo genau ist er denn hin?“ erkundigte ich mich.

Hm. Das ist der seltsame Teil daran.“ Frank schüttelte skeptisch seinen Kopf. „Ich hätte schwören können, er würde genau auf die Hintertür unserer Hütte zurennen, aber ich habe ihn aus den Augen verloren, als er hinter den Büschen unten am Pfad außer Sicht kam. Ich schätze mal, ihr habt nichts gehört?“

Wir diskutierten das Rätsel etwa eine halbe Stunde lang durch, dann gingen wir ins Bett, weil wir nichts besseres zu tun hatten.


  1. Oktober 1924


Carew ist tot. Ermordet. Es scheint undenkbar, dass dies Grauen über uns gekommen ist, doch während ich dies schreibe, ist der arme Kerl „vor die Hunde gegangen“ - was für eine ekelhaft grausige Ausdrucksweise die Waliser hier auf dem Land haben!

Letzte Nacht brach Frank wie gewöhnlich nach dem Abendessen zum Johnes-Häuschen auf; Carew und ich richteten uns für ein ruhiges Spielchen und eine gemütliche Pfeife ein. Unser Tabaksvorrat ging zur Neige, bevor wir mit den Karten so richtig im Gange waren, also brachen wir ab und losten aus, wer ins Dorf gehen sollte für frischen Nachschub. Ich zog ein As, Carew einen Zehner.

Bin in einer halben Stunde zurück“, versprach er, während er seine Mütze aufsetzte und seine Jacke anzog, „und wenn ich dabei diesen Typen erwische, der an unseren Grabungen herumpfuscht, dann wird einer von uns ganz schön alt aussehen.“

Armer Carew. Er ist derjenige, der jetzt alt aussieht.

Es wurde Zehn. Kein Lebenszeichen von Carew. Ich spielte verstimmt mit meiner Pfeife herum und verfluchte seine Bummelei. Frank kam zurück, es schlug Mitternacht, immer noch kein Carew.

Verdammt will ich sein, wenn ichs noch eine Minute länger aushalte“ rief ich gereizt. Ich geh raus und sehe nach, was ihn so lange aufhält.“

Ich komme mit“, erklärte Frank bereitwillig. Dieser Ort ist mir ein bisschen zu unheimlich, um hier allein zurückzubleiben.“

Wir machten uns auf, schritten forsch durch die kühle Mondnacht und hielten scharf Ausschau nach irgendeinem Zeichen von Carew oder unserem Tabak.

Ein viertelstündiger Marsch brachte uns zur Dorfschenke, wo der schläfrige Gastwirt, der gerade dabei war, einen gin-durchtränkten Bauern aus dem Schankraum zu schmeißen, kurz innehielt, um uns mitzuteilen, dass Carew nicht hier gewesen sei. Mehrere interessierte Zuschauer des Vorgangs untermauerten fluchend und grölend seine Aussage.

Wir standen vor einem Rätsel. Carew war beinahe so lange fort gewesen, dass er in der Zwischenzeit auch nach Chatsworth gegangen sein könnte, doch niemand hatte ihn dorthin laufen sehen. Nachdem wir einige Dosen Tabak gekauft hatten, eilten wir zurück und bogen auf den Pfad in die Hügel ein.

Draußen in den Bergen sandten wir einige kräftige „Hallos“ in die Landschaft, doch alles, was zurückkam, war das spöttische Echo der Hänge.

Denkst du, es wär möglich, dass er rübergegangen ist zu unseren Grabungen und sich dann einen Knöchel gebrochen hat oder sowas?“ schlug Frank vor.

Hm. Nicht wahrscheinlich. Aber schauen wir nach!“ gab ich zurück, und so verließen wir den Pfad und setzten unsere Suche in Richtung Grabungsstätte fort.

Hier ist die Stelle, wo ich den merkwürdigen Typen im Sand herumkratzen gesehen habe.“ Frank zeigte auf einen kleine Haufen heller Erde neben unserem Grabungsloch. „Er lag auf seinen Knien und formte seine Hände wie ein Paar von... Hallo, was ist das denn?“

Er wies auf ein dunkles Objekt im Graben, ganz in der Nähe des frischen Sandhaufens.

Ich fing an zu rennen, ohne zu antworten, denn ich hatte eine schlimme Vorahnung auf das, was wir finden würden.

Carew lag ausgestreckt auf seinem Rücken. Seine ausgestreckten Hände hatten sich in den abschüssigen Sand hinter ihm vergraben, ein Knie war leicht gebeugt, das andere Bein ragte schlaff über den Rand des Grabens hinaus. Seine Kehle und seine Brust waren grauenvoll zerrissen, als ob er von einem ungeheuer wütenden Tier angegriffen worden war. Diverse schreckliche Risswunden auf der Stirn und den Wangen erzählten die Geschichte eines ungeheuerlichen Todeskampfes. Doch das abstoßendste an der ganzen Sache war der Ausdruck unsagbaren Grauens, das sich seinen Zügen eingeprägt hatte. Es war, als hätte er einen entsetzlichen Moment lang ins fahle fleischlose Antlitz des Todes selbst geschaut, bevor seine Seele den Körper verließ.

Mein Gott!“ Frank lehnte sich an mich, sich schüttelnd vor panischer Angst. „Sein Gesicht, Mann; schau dir sein Gesicht an!“

Ich legte mein Taschentuch über den Kopf unseres armen Freundes. Ich verspürte keinen Wunsch, es jemals wieder anzusehen.

Wir verständigen am besten den gerichtlichen Leichenbeschauer“, sagte ich und half Frank halb zerrend, als führend zurück auf den Pfad. Der Junge war völlig fertig aus lauter Furcht, ich habe nie erlebt, dass jemand derart vollständig die Nerven verloren hätte.

Der betuliche, fette Leichenbeschauer vollzog seine Pflichten mit all der Pingeligkeit, die für ländliche Behörden heutzutage typisch ist. Als Ausländer standen wir sofort halb in Verdacht, unseren Freund selbst umgebracht zu haben, und wir wären sicher auch im Handumdrehen vorm Schwurgericht gelandet, wäre da nicht ein sonderbares Indiz gewesen, das die post-mortem-Untersuchung der Leiche zutage brachte. Unter Carews Fingernägeln fanden sich Büschel von gelb-grauen Haaren. Diese Haare, zusammen mit der grässlichen Verstümmelung seiner Kehle, veranlassten die Jury zu einem sonderbaren Urteil, das sie so formulierte: „Morgan Carew kam zu Tode durch die Hände oder Zähne einer der Jury unbekannten Person oder eines unbekannten Tiers.“

Der Dorfbestatter ist gerade weg. Einbalsamierung ist hier als Kunst ebenso vergessen worden wie im modernen Ägypten, der Sarg wurde in unserer ungenutzten Küche abgestellt, wo es kühl ist, so dass die Verwesung nicht allzu schnell eintritt. Nun ruht alles, was noch sterblich ist an unserem Freund, neben dem seltsamen Skelett, dass wir letzte Woche aus dem Sand geholt haben. Morgen verschiffen sie dann die Überreste nach England für die Beisetzung. Carew hatte keine nahen Verwandte: Frank und ich werden die einzigen Trauernden sein und ihn auf seinem letzten Gang in die Familiengruft in Mulbridge begleiten.


  1. Oktober 1924


Was ich letzte Nacht gesehen habe, kann nicht wirklich passiert sein. Und doch hat es sich ereignet.

Frank und ich saßen vor dem Feuer, sahen das Aufglühen der Kohlen verschmelzen mit den Strahlen der untergehenden Sonne, die auf den Ofen fielen, jeder von uns beschäftigt mit seinen eigenen Gedanken, als ein dumpfes Gepolter in der Küche uns beide hochschrecken ließ. Die kleinsten Geräusche werden in einem Totenhaus hundertfach verstärkt …

Ich glaube, uns beiden kam derselbe Gedanke, als wir nach hinten stürmten: die Ratten begannen ihr teuflisches Werk.

Im Laufen ergriff Frank ein Schnitzmesser, halb so groß wie ein Entermesser, und ich öffnete die Tür. Ich lächelte gegen meinen Willen bei dieser Aktion. Die Reflexe der elementaren Psychologie sind heute noch genauso atavistisch wie damals, als unsere vorfahren nackend durch die urzeitliche Wildnis schlichen. Nichts als der animalische Trieb zu töten hatte Frank angetrieben, zu diesem Messer zu greifen; nach einigem Nachdenken hätte er sich sagen können, dass ein Messer als Waffe gegen Ratten etwa so nützlich ist wie ein Zeigefinger.

Wir durchsuchten den kleinen Raum im Handumdrehen. Nichts Lebendes war zu finden, abgesehen von einer kleinen Grille, die ihr wehmütiges Ka-tscheek von einer Ritze in der Steinmauer aus anstimmte.

Die Kiste mit dem hundeköpfigen Skelett lag an der kalten, klaffenden Feuerstelle. Carews Sarg ruhte stabil unter seinem schwarzen Leichentuch auf einem Paar Sägeböcken längs der Wand. Eine der Kerzen an seinem Kopfende hatte sich in ihrem Halter etwas geneigt und flackerte knisternd. Ich richtete sie wieder auf und presste das schmelzende Wachs fest, um zu verhindern, dass es auf das Tuch rann. Frank lehnte halb sitzend an dem rauen Fichtenholztisch und schnitzte mit der Spitze seines absurd großen Messers an ihm herum.

Ein plötzlicher Windzug, eisig kalt, ließ die Kerze flackern und bewegte das Sargtuch. Instinktiv fühlte ich eine andere Präsenz, etwas Böses, das sich in einem Eishauch von Grauen bewegte. Augen schienen sich von hinten in mich zu bohren, und ich ergriff unwillkürlich den Kerzenhalter, um gewaltsam den Impuls zu unterdrücken, mich umzuwenden.

Langsam, ohne meinen Kopf zu bewegen, wandte ich meine Augen zu Frank. Er hatte sich grimmig in die Tischplatte vertieft, aus der er Holzstückchen heraussäbelte, als wäre das Ganze eine ernsthafte Tätigkeit.

Rat, rat, rat!“

Ein plötzliches scharfes Klopfen von Knöcheln gegen die Fensterscheibe. Ich wirbelte auf dem Absatz herum, mein Atem ging heiß und war geschwängert von Furcht.

Durch die Scheibe starrte ein großer Wolf mit zottigem Fell. Nein, es war kein Wolf!

Um die wolfsartigen Kinnladen und Wangen waren Züge, die auf schreckliche Weise an einen Menschen erinnerten, und das phosphoreszierende Glühen dieser monströsen Augen war alles andere als hündisch.

Als ich es ansah, hob das Monster den Schädel, und würgender Horror packte mich, als ich sah, dass er auf einem menschlichen Hals saß. Sehr lang und dünn war dieser Hals, von Sehnen und Bändern durchzogen wie etwas, das schon lange tot war, und bedeckt mit grauem Fell. Und dann klopfte eine Hand, behaart wie die Kehle, doch schlank wie die einer Frau, mit blutroten Nägeln, erneut gegen das Glas. Mir wurde schlecht vor Angst, als ich mich fragte, wie lange diese fragile Scheibe dem Drängen des Biests wohl standhalten würde.

Das Ding musste mein Entsetzen bemerkt haben, denn die Winkel seiner teuflischen Augen zogen sich zu einem boshaften Lächeln zusammen, und der Rand einer scharlachroten Zunge flackerte um seine schwarze Schnauze.

Ein Stöhnen hinter mir kündete von Franks abgrundtiefen Schrecken.

Oh mein Gott“ wisperte er mit bebender Stimme, „Das ist das Ding, das ich neulich Nacht gesehen habe! Das ist das Ding, das Carew tötete! Shela Tague hatte recht! Wir haben einen von ihnen ausgegraben, und nun sucht uns ein anderer heim!“

Ich schluckte schwer an der Trockenheit in meiner Kehle. Ich fand keine Worte.

Professor!“ Frank kam zu mir über den Boden gekrochen und umfasste meine Knie, „lassen Sie es nicht reinkommen, um alles in der Welt, lassen Sie es nicht rein!“

Ich presste die Schulter des Jungen, nicht so sehr, um ihn zu trösten; eher, um das Gefühl eines anderen Menschen in meinem Griff zu haben. Dann verkrampften sich meine Finger um ihn, als ich Alice Frasanets Stimme hörte, hoch, süß und sehr liebenswert. Sie kam vom Weg am Fuß des Hügels. Alice hatte uns versprochen vorbeizuschauen, bevor wir mit Carews sterblichen Überresten abreisten, um uns ein Tablett mit Bisquits vorbeizubringen. Und nun kam sie ahnungslos auf uns zu und musste unweigerlich auf dieses Scheusal treffen!

Sie ritt wieder auf dem alten Running-Gag mit Franks indianischer Abstammung herum und kam singend den Pfad hinauf.


From the land of the sky-blue water

They brouhgt a captive maid...“


Das Ding draußen drehte sich herum bei dem Klang, seine Ohren stellten sich auf, und das Weiße seiner Zähne blitzte auf, als sich seine Lippen in Erwartung der leichten Beute teilten. Langsam sank es in sich zusammen, fast auf die Hälfte seiner vorherigen Größe, und schlich vom Fenster weg hin zu einem Gebüsch an der Wegbiegung des Pfades, um sich auf Alice zu stürzen, wenn sie um die Ecke kam.

Ich stand da wie angewurzelt, schockgefroren, und erwartete die Tragödie, wie die christlichen Märtyrer das Hochwinden der Löwengitter in der Arena erwartet haben mochten.

Geschickt das Tablett jonglierend, näherte sich Alice dem Gebüsch. Lautlos wie ein Schatten glitt das graue Ding auf den Pfad, ihr den Weg mit aufgerissenen Kiefern versperrend, die rote Zunge aus dem Maul hängend. Langsam vollführte es widerwärtige Kaubewegungen und näherte sein Antlitz immer mehr der Kehle Alices.

Ich versuchte zu sprechen, meinen Horror in den Nachthimmel hinauszuschreien, doch lähmender Staub musste sich in meinem Hals festgesetzt haben, und alles, was herauskam, war ein heiseres, unartikuliertes Krächzen. All meine Kräfte aufbietend. trat ich einen Schritt vor zum Fenster, im nächsten Moment wurde ich gegen die Wand geschleudert, als ein dunkles Etwas an mir vorbeiraste.

Frank war durchs Fenster gesprungen und hatte dabei Scheibe und Rahmen zertrümmert. Das Klirren zerbrechenden Glases wurde übertönt von dem Schrei, den er ausstieß, als er die kurze Strecke mit langen schlaksigen Schritten zurücklegte.

Es war Frank, der diesen grauen Schrecken angriff, und er war es auch wieder nicht.

So wie sich Jekyll in Hyde verwandelt hatte, so war auch in ihm eine subtile Wandlung vorgegangen. Einen Mann wie den zu erblicken, der nun die Anhöhe hinunterstürmte, war nur einer Generation unter zehn vergönnt. Den Schrei, den er ausstieß, als er sein riesiges Messer schwang, hatte wohl noch kein weißer Mann je gehört.


A-jeh, A-jeh, ten-joh-jeh-roh-noh!“


Zweimal wiederholte diesen blutrünstigen Schrei, und beendete den zweiten mit einem anschwellenden:


Aje, Aje, Jahhh!“


Es war der Schlachtruf der Mohawk-Indianer, der Schlachtruf des Volks der Bären.

Es war ein Wunder der Vererbung, das ich erlebte, ein Atavismus, eine Rückbesinnung aufs Ur-Dasein. Schlafend, doch niemals tot, war der lange vergessene Rothaut-Ahne in Frank Seabring erwacht, als seine Liebste in Lebensgefahr schwebte.

Vor uns erstand und atmete nun die Persönlichkeit eines Mohawks – eines Kriegers vom Totem des Bärs, dessen treibende Leidenschaft der Hass auf das Wolfsvolk war.

Aje, Jahh!, Aje Jahh!“ erhob sich der Schlachtruf erneut.

Es lag etwas bizarr Komisches im Gesichtsausdruck des Wolfs-Dings, als es sich umwandte. Solch einen Blick von verblüffter Wut mochte der Teufel einer verlorenen Seele zuwerfen, die aufzubegehren wagte.

Sie sprangen gleichzeitig und trafen sich in der Luft. Der Wolfsmann schlug geschickt zu, versuchte, seine Fänge in Franks Kehle zu vergraben. Eine Hand Franks umklammerte die haarige Gurgel des Untiers, die andere mit dem Messer beschrieb einen Halbkreis, verschwand, erhob sich und senkte sich erneut, wieder und wieder.

Stolpernd, taumelnd, Blut speiend, entriss sich der Werwolf dem Griff, und das kampflustige Funkeln erlosch in seinen Augen.


A-jeh, A-jeh, ten-joh-jeh-roh-noh! Jah!“


Der Bär hatte Blut geleckt, doch anscheinend nicht genug.

Erneut gingen sie aufeinander los, noch einmal versuchte das Wolf-Ding Franks Kehle zu erreichen. Erneut hob und senkte sich das große Messer, Blut tropfte von der Klinge. Und ständig, während der mörderische Kampf forttobte, hallte der Schlachtruf des Mohawks von den Hängen wieder.

Einen Kopf größer als Frank war die Kreatur, doch nun schien sie zu schrumpfen. Langsam ging sie in die Knie, fiel auf die Seite, dann auf den Rücken.


Aje, Aje, Jah!“


Wie das Schwert eines Scharfrichters senkte sich das Messer, durchtrennte die Kehle des Werwolfs, dessen Fell sich mit rostig-roten Flecken überzog.

Zum letzten Mal senkte sich das Messer nun umkreiste den Schädel des Monsters, und Frank Seabring, ein Produkt des dekadenten New-England, Uni-Mitarbeiter und Lehrkraft für Anthropologie, erhob sich und betrachtete den Skalp seines erschlagenen Feindes.

Als er das Fellstück zwischen Gürtel und Hose stopfte, schien er das erste Mal von Alice Notiz zu nehmen, die kreidebleich am Rand des Pfades stand. Einen Moment lang sah er sie verwirrt an. Dann zog er plötzlich sein Norfolk-Jackett aus, riss es entzwei und spreizte die beiden Enden des Stoffs zwischen seinen Armen aus.

Das war das „Aufhalten der Decke“ – der uralte Werberitus des Roten Kriegers um seine Squaw.

Und Alice Frasanet, die foxtrottende, Brigde spielende, teetrinkende Alice Frasanet, legte ihren zerzausten, hutlosen Kopf an seine Brust.



Seabury Quinn

Out of the Long Ago

Weird Tales, Januar 1925

Übersetzung: Matthias Käther © 2021





























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