O’Brien - Die sonderbare Wandlung des Mr. Lane
Als ich begann, mit meinem Mitstreiter Roy Glashan das komplette phantastische Werk des frühverstorbenenen Amerikaners David Wright O’Brien (1918-44) digital zu erschließen und herauszugeben, hätte ich mir kaum träumen lassen, dass wir diese Aufgabe in nur wenigen Jahren – auch dank mancher hilfsbereiter Sammlerinnen und Sammler – bewältigen würden.
(Zu finden unter freeread.com.au/@RGLibrary/DWOBrien/DWOBrien.html)
Wenn ich auf etwas besonders stolz bin, dann auf meinen Beitrag zur Rettung des Werks dieses überschwänglichen jungen Mannes, der auch im wirklichen Leben ein Draufgänger war und auf tragische Weise 26-jährig im Zweiten Weltkrieg ums Leben kam, weil er die Nazis nicht nur von der fernen Schreibmaschine aus bekämpfen wollte.
Als ich für Zwielicht 2018 zum 100. Geburtstag die erste Geschichte ins Deutsche übersetzte, hatte ich noch keinen umfassenden thematischen Überblick über das erstaunlich umfangreiche Werk von über 100 Erzählungen und längeren Novellen, die in nur 5 Jahren entstanden. Heute kann ich sagen – ich bin begeisterter denn je. Obwohl man diesen Pulp-Texten die Hast der Entstehung anmerkt (nicht wenige tippte O’Brien in Übungscamps und an der Front), beeindruckt die Vielfalt der Themen und auch des Tonfalls – von der finsteren Lakonie bis zum übermütigen Spott.
Zweifellos hätte O’Brien später in einer ruhigeren Zeit die besten Storys noch einmal überarbeitet – diese hier litt etwas unter starken Wortwiederholungen und einigen formelhaften Redundanzen, die ich etwas zurückgenommen habe. Auch hier beschäftigt sich O’Brien wie schon in „Ausstrahlung“ mit dem fragilen Selbstbewusstsein und der angeschlagenen Persönlichkeit des Großstädters, der Ton ist aber insgesamt optimistischer gestimmt. Oder na ja, das kommt vielleicht auf den Standpunkt an ...
Als ich meine Augen öffnete,
verwirrt auf die rissige, vergilbte Decke über mir starrte und
meinen schmerzenden Kopf zur Seite drehte, um die verwahrloste
Umgebung des kleinen Zimmers zu betrachten, machte mir mein sechster
Sinn sofort klar, dass dies kein Traum war.
Ich warf die grobe
Decke rasch beiseite und setzte mich ungläubig auf, wobei ich mich
mit beiden Händen am rostigen Rahmen eines heruntergekommenen
Eisenbetts festkrallte.
Der Schweiß stand mir auf der Stirn,
und mein Herz hämmerte in unerklärlicher Erregung. Ich fühlte mich
irgendwie … Schwer zu sagen. Als wäre ich mir selbst fremd.
Eine
Hochbahn ratterte hinter den rußverschmierten Fenstern vorbei und
erschütterte das hässliche Gebäude in seinen Grundfesten, so dass
das Bett, auf dem ich saß, protestierend quietschte.
Endlich
stand ich auf und ging benommen zum Waschtisch in der Ecke. Es gab
nur einen Wasserhahn, dessen grünlich verfärbter Messinggriff die
schwache, fettverschmierte Aufschrift "Cold" trug.
Erst
nachdem ich ihn aufgedreht und mein brennendes Gesicht kräftig mit
eiskaltem Wasser bespritzt hatte, traute ich mich, in das
fleckenübersäte Spiegelrechteck über der Schüssel zu schauen.
Ich
hatte das Spiegelbild noch nie in meinem Leben gesehen.
Ich starrte fassungslos.
Ein
Fremder mit offenem Mund und weit aufgerissenen Augen starrte
zurück.
Und jetzt erkannte ich mit schwindelerregender
Gewissheit die schreckliche Wahrheit, die mein sechster Sinn schon
signalisiert hatte, als ich die Augen geöffnet hatte und ich mich in
diesem unbekannten Zimmer wiederfand.
Ich, Jonathan Lane, befand
mich nicht nur in der fremden Umgebung eines elenden Zimmers; ich
befand mich auch im Körper eines fremden Mannes!
Eine Ewigkeit
lang stand ich benommen da und klammerte mich an der Waschschüssel
fest, um mich aufrecht zu halten, während mein Verstand am Rande
zügellosen Wahnsinns taumelte.
"Das ist
ein Albtraum",
sagte ich mir laut, "ein schreckliches Zerrbild der
Realität!"
Das dumpfe Krächzen, das an meine Ohren drang,
war eine fremde Stimme – die Stimme dieses seltsamen neuen Körpers,
den ich jetzt besaß.
"Ich bin Jonathan Lane!",
zischte ich heiser.
Der Klang der neuen Stimmbänder verhöhnte
meine Worte. Und doch wusste ich genau, dass ich in der Nacht zuvor
im Arbeitszimmer meines Anwesens in aller Ruhe gelesen hatte ...
Es
war kurz vor Mitternacht, und ich war schon stundenlang in ein
faszinierendes Buch über Philosophie vertieft gewesen.
Kermit,
der Butler, der meinem Vater in all den Jahren bis zu seinem Tod so
treu gedient hatte, und der jetzt mit konstanter, fast religiöser
Hingabe auch über mich wachte, betrat das Arbeitszimmer so leise,
dass ich seine Anwesenheit erst bemerkte, als er mich ansprach.
"Ich
habe Ihr Zimmer vorbereitet, Sir."
Ich blickte erschrocken auf. Dann lächelte ich.
"Danke, Kermit",
sagte ich. "Sie finden es gar nicht gut, dass ich bis spät in
die Nacht lese, oder?
Kermits müdes, altes Gesicht bekam einen
vorwurfsvollen Zug.
"Sir, ich dachte nur ...“ begann
er.
"An mein Wohlbefinden, was, Kermit?", ergänze ich
spöttisch.
"In der letzten Woche haben Sie sehr wenig
geschlafen", begann er taktvoll. "Ruhe ist für jedermann
außerordentlich nützlich, Sir."
Ich grinste. Wenig Schlaf
war eine Untertreibung. Nachtclubs, Cafés, Bars und Bistros - in den
letzten zwei Wochen hatte ich sie alle in einem unaufhörlichen
Rausch besucht. Für Schlaf war bei diesem Programm wenig Zeit
geblieben. Diese Nacht war die erste, die ich zu Hause verbrachte.
Der drastische Unterschied zu den vorigen Abenden machte mir
plötzlich klar, dass ich diese alkoholischen Exzesse gründlich satt
hatte.
Ich blätterte um und nickte Kermit zu.
"Na
schön, alter Freund", gab ich nach. "Wenn ich dieses
Kapitel beendet habe, werde ich mich in mein flauschiges Bett
zurückziehen."
Dieser Kompromiss schien Kermits Zustimmung
zu finden, er nickte und wandte sich zum Gehen.
"Ich habe
einen heißen Schlummertrunk für Sie vorbereitet, Sir",
deklamierte er. "Ich werde ihn neben Ihrem Bett abstellen."
Ich
bedankte mich, aber als ich schließlich in mein Schlafzimmer ging,
waren es dann doch mehr als nur ein weiteres Kapitel geworden. Ich
glaube, ich habe noch mindestens vier weitere gelesen, und als ich
endlich nach oben ging, ging es auf drei Uhr zu.
Trotz der
Müdigkeit, die ich durch meine Ausschweifungen in den letzten zwei
Wochen hätte spüren müssen, war ich immer noch nicht in der Lage,
gleich einzuschlafen.
Es muss noch eine weitere Stunde gedauert
haben, bis ich in dem riesigen Teakholzbett lag und in die Dunkelheit
starrte, während mein Verstand sich weigerte, auf die Befehle eines
erschöpften Körpers zu hören.
Nichts anderes als schiere
Erschöpfung ließ endlich den dunklen Vorhang des Schlafes über
mich fallen ...
Und nun stand ich hier, in diesem
schmuddeligen Raum, umgeben von Armut. Ich befand mich im Körper
eines Mannes, den ich noch nie in meinem Leben gesehen hatte. Keine
zehn Stunden, nachdem ich mich in den luxuriösen Komfort meines
Schlafzimmers zurückgezogen hatte, war ich jetzt hier: ich, Jonathan
Lane, der reichste junge Mann des Mittleren Westens.
Mit
heroischer Aufbietung aller Kräfte brachte ich mich dazu, Ruhe zu
bewahren, bevor ich in totale Hysterie verfiel.
Mit einer
Anstrengung, die mir den Schweiß auf die Stirn trieb, verdrängte
ich alles andere außer der elementaren Aufgabe, von der jetzt mein
Schicksal abhing: die genaue Analyse des Albtraums, in dem ich mich
befand.
Mehrere
Minuten lang starrte
ich auf die
regelmäßigen, klaren Züge meines neuen Gesichts. Es war das
Gesicht eines Mannes, der ungefähr so alt war wie ich. Gar nicht mal
unangenehm. Scharfe, graue und intelligente Augen. Ein starker Mund,
der auch lachen konnte. Blondes Haar. Mein eigenes Haar war dunkel,
fast so schwarz wie Ebenholz. Der Körper war mittelgroß, kräftig
gebaut und hatte nicht annähernd so schlaffe Muskeln wie mein
eigener. Die Finger an den Händen meines neuen Ichs waren
geschmeidig und gewandt. Es waren starke braungebrannte Hände. Eher
die eines handwerklich begabten Wissenschaftlers als die eines
Mechanikers.
Ich ignorierte die düsteren Perspektiven dieser
unglaublichen Verwandlung fürs erste und machte mich daran, den
schäbigen kleinen Raum näher zu untersuchen.
Auf einem Stuhl
lagen Kleider. Billiges Zeug, ausgefranst und so abgewetzt, dass es
glänzte. Ich stellte schnell fest, dass dies die Kleidung war, die
meinen neuen Körper schmücken sollte.
In einer der Taschen des
jämmerlichen Anzugs auf dem Stuhl fand ich eine Brieftasche. Als ich
sie mit zittrigen Händen öffnete, sah ich, dass sie drei
schmuddelig aussehende Dollarscheine, etwa achtzehn Cent Kleingeld
und mehrere Ausweise enthielt.
Der erste war ein
Mitarbeiterausweis einer kleinen Chemiefabrik, von der ich noch nie
etwas gehört hatte. Sie war auf den Inhaber, einen gewissen Carl
Gelsing, ausgestellt.
Der zweite war ein Berechtigungsschein für
eine Wechselstube. Auch auf Carl Gelsing ausgestellt.
Hinter den
Karten befand sich halb verdeckt ein Schnappschuss, und als ich ihn
ans Licht holte, stellte sich heraus, dass es sich um ein Foto
handelte, auf der ein lächelnder junger Mann an einem Flussufer
stand und seinen Arm um eine hübsche junge Frau gelegt hatte. Der
Ausdruck auf ihrem Gesicht, wie sie so zu ihm aufschaute, hatte
eindeutig etwas von schmelzender
Hingabe. Auch
der junge Mann lächelte – aber durchaus nicht hingebungsvoll.
In seinen Augen
funkelte ein wilder, brennender Ehrgeiz, dem erotische Gefühle
völlig fremd zu sein schienen.
Dann wurde mir klar, dass der
junge Mann, der den Arm um die schöne Frau gelegt hatte, derjenige
war, in dessen Körper ich mich jetzt befand!
Ich schob das Bild
behutsam zurück in die Brieftasche und steckte sie wieder in die
Jacke. Dann durchsuchte ich fieberhaft das einzige verbliebene
Möbelstück in dem kleinen Raum, eine niedrige, zerschrammte Kommode
in der Ecke.
Meine Suche brachte nichts weiter zu Tage als ein
sauberes, ausgefranstes Hemd, das unter den Armen mehrfach geflickt
worden war, ein paar Socken, Unterhosen und Taschentücher. Das war
alles. Die Wäschezeichen bestanden alle aus den Initialen "C.
G.".
Ich ging zum Fenster und starrte auf die
Hochbahngleise, die weniger als fünfzehn Meter unter mir schier
endlos in beide Richtungen verliefen. Natürlich war mir bewusst,
dass ich mich in einem Mietshaus befand, aber wo es genau lag, wusste
ich nicht.
Dann begann ich, in die ausgefransten Kleider
der Person zu schlüpfen, die einst den Körper bewohnt hatte, den
ich jetzt besaß. Meine Gedanken waren instinktiv darauf
ausgerichtet, mich mehr mit den Konsequenzen dieses unglaublichen
Rätsels zu beschäftigen als mit der grotesken Tatsache selbst.
Als
ich angezogen war, zögerte ich, und meine ganze Willenskraft reichte
plötzlich nicht mehr aus, um die aufsteigende Panik zu unterdrücken,
die mich erfasste.
Möglich, dass ich durchgedreht wäre, wenn
es nicht in diesem Moment an der Tür geklopft hätte.
Ein Klopfen, gefolgt von einer
hellen, weiblichen Stimme.
"Carl! Oh, Carl!", rief die
Stimme fröhlich.
Die Flut der Panik in mir schien plötzlich zu
verebben. Diese Stimme hatte mir eine schmale, aber lebensnotwendige
Brücke zur Vernunft und Realität gebaut.
Irgendwie schaffte
ich es, zu antworten.
"Ja?"
Ich wartete mit
klopfendem Herzen.
"Ich bin's, Gloria, du Idiot. Bist du
schon angezogen?"
Ich holte tief Luft.
"Ja",
sagte ich. "Bin ich. Nur noch einen Moment!"
"Beeil
dich. In zehn Minuten ist das Café zu voll, um noch bedient zu
werden!", rief die weibliche Stimme noch einmal.
Ich ging
zur Tür und schob den Riegel beiseite. Dann öffnete ich.
Das
hübsche dunkelhaarige Geschöpf vom Brieftaschen-Schnappschuss stand
da und lächelte mich an!
Verdattert suchte ich nach etwas: nach
Worten, die ich sagen konnte, nach einer kleinen Handlung, die mir
helfen würde ... Plötzlich beugte ich mich vor und küsste das
Mädchen leicht auf den Mund, ohne mir so bewusst zu sein, was ich
tat.
"Gloria", hörte ich mich flüstern,
"Gloria!"
Ihre Arme waren plötzlich fest um mich
geschlungen und ihr Mund drückte sich hart gegen meinen. Der
schwache Duft ihrer Haare war irgendwie schwindelerregend, und ihre
Lippen berauschend süß.
"Carl", schluchzte sie. "Oh,
Carl. Ist alles in Ordnung mit dir? Ist wirklich alles o.k.? Du hast
doch nichts angestellt, oder? Du hast doch nichts Blödes
gemacht?"
Ich schob sie zurück.
"Was meinst
du?". Meine Stimme war rau und eindringlich.
Die junge Frau
schien zu zögern. Ihre roten Lippen klafften auseinander, als sie
nach Worten suchte. "Du warst gestern Abend so seltsam",
sagte sie. "Du hast dich verhalten, als würdest du mich nie
mehr wiedersehen wollen oder ...", sie konnte nicht zu Ende
sprechen. Tränen traten ihr in die Augen.
"Ich bin hier",
hörte ich mich sagen. "Ich bin hier und es ist nichts passiert,
o.k?" Oh Mann, dachte ich, nichts passiert! Die Untertreibung
des Jahrhunderts!
Dann griff das Mädchen mit einer plötzlichen,
völlig unerwarteten Geste in ihre Handtasche. Sie holte einen
Schlüssel an einer Schnur hervor.
"Hier, Carl", sagte
sie. "Hier ist dein Schlüssel. Du hast gesagt, ich soll ihn bis
zum Morgen aufbewahren. Du hast gesagt, ich soll ihn dir geben, wenn
es dir gut geht."
Meine Verblüffung war
echt.
"Mein Schlüssel?" Ich blinzelte.
"Dein
Kellerlaborschlüssel!" Sie runzelte die Stirn. "Erinnerst
du dich nicht? Oh, ich weiß, dass du gestern Abend betrunken warst.
Aber ich hätte nicht gedacht, dass du so viel getrunken hast, dass
du ..."
Ich unterbrach sie, da ich mich nicht verraten
wollte.
"Natürlich", sagte ich. "Jetzt erinnere
ich mich. Danke." Ich nahm den Schlüssel.
Sie drehte sich
um und rief: "Komm, wir müssen uns beeilen."
"Beeilen?"
Ich wiederholte das Wort, ohne nachzudenken.
"Ja, wenn wir
vor der Arbeit noch Kaffee und Brötchen essen wollen."
"Oh,
ja", sagte ich. "Arbeit. Klar, genau."
Die Frau
wirbelte herum und sah mich an. Ihre schönen Gesichtszüge waren
verwirrt.
"Carl", fragte sie besorgt, "geht’s
dir nicht gut? Du wirkst so seltsam. So, als ob etwas ..."
Ich
konnte sie nicht weiterreden lassen.
"Ich werde heute nicht
zur Arbeit gehen", verkündete ich. "Ich werde noch etwas
in meinem Labor arbeiten."
Die Frau namens Gloria sah
besorgt aus.
"Nicht schon wieder, Carl", protestierte
sie. "Sie werden dich eines Tages feuern, wenn du ständig den
Job schwänzt."
Ich zuckte mit den Schultern.
"Kein
großer Verlust, oder?“ Mit dieser Aussage fühlte ich mich
sicher.
"Aber, Carl", protestierte das Mädchen, "wenn
du nicht diese Riesensummen für die Ausrüstung deines Hobbylabors
im Keller ausgeben würdest, könntest du mit dem, was du verdienst,
ganz gut auskommen!"
Ich schüttelte den Kopf.
"Ich
gehe heute nicht zur Arbeit."
Und dann lieferte das Mädchen
ganz unbewusst die Information, die ich so dringend brauchte.
"Wenn
sie hierher kommen, um zu sehen, ob du wirklich krank bist",
sagte sie, "und sie
finden dich unten im Keller, wo du mit chemischem Zeug
herumexperimentierst,
dann kostet dich das deinen Job."
Ich legte meine Hände so
sanft wie möglich auf ihre Schultern.
"Mach dir keine
Sorgen, Gloria", sagte ich, "ich bleibe heute hier. Es wird
das letzte Mal sein, dass ich im Labor bin."
Sie warf mir
einen merkwürdigen Blick zu.
"Das hast du schon gestern
Abend gesagt", erklärte sie. Dann war sie verschwunden.
Ich
schaute auf den Schlüssel in meiner Hand, und wieder schlug mein
Herz wie wild vor Erregung ...
Zwanzig Minuten später hatte
ich die Durchsuchung des Kellerlabors von Carl Gelsing beendet.
Die
Beweise, die ich dort gefunden hatte, trugen nur dazu bei, die
brennenden Fragen, die mich quälten, noch brennender zu machen.
In
einem großen Ordner befanden sich Hunderte von Papieren.
Zeitungsausschnitte, Zeitschriftennotizen, Buchverweise, Fotokopien,
alles, was mit dem Leben, den Freunden, den Gewohnheiten und den
Geheimnissen von - mir selbst - zu tun hatte!
Ich, Jonathan
Lane, fand in diesen Akten eine unvorstellbar detaillierte
persönliche Geschichte von mir selbst. Ich fand eine Geschichte über
mich, die ein gewisser Carl Gelsing, der Mann, dessen Körper ich
jetzt anstelle meines eigenen besaß, akribisch zusammengestellt
hatte.
Die wissenschaftliche Ausrüstung, die sich im Labor
befunden hatte, war völlig zerstört. Der Kellerraum war ein
einziger Haufen zerbrochener Röhren, zersplitterter Objektträger
und demolierter Geräte.
In einer Ecke des Raums befand sich ein
kleiner Aschehaufen, der darauf hindeutete, dass dort ein Stapel
Papiere angezündet und absichtlich verbrannt worden war.
Abgesehen
von einem zerfledderten Laborkittel gab es kaum noch etwas
Erwähnenswertes. Trotzdem suchte ich noch fünf Minuten weiter, in
der verzweifelten Hoffnung, etwas zu finden, das ein wenig zur Lösung
dieses verrückten Rätsels beitragen könnte.
Dann, als ich
ganz verwirrt und hoffnungslos dastand, während die bizarren Fakten
in meinem Gehirn herumwirbelten gleich einer verrückten Parodie der
Vernunft, wurde ich mir erstmals der schrecklichen, fantastisch
anmutenden Wahrheit bewusst.
Diese Tatsache war wild, unmöglich,
die Schlussfolgerung eines Geistes am Rande des Wahnsinns. Aber sie
hatte die grimmige Plausibilität eines Wahnsinns mit Methode. Ich
war entschlossen, das hier zu Ende zu bringen. Es war das einzig
Sinnvolle, das mir verblieben war ...
Ich brauchte etwas
mehr als eine Stunde, um von dem großstädtischen Elendsviertel, in
dem ich mich befand, zu meiner Villa in der Vorstadt zu gelangen. Und
als ich endlich am weitläufigen Anwesen anlangte, das vor weniger
als vierundzwanzig Stunden noch mir gehört hatte, durchströmte mich
erneut eine fiebrige Hysterie.
Ich stand einen Moment vor dem
großen Tor, hinter dem eine lange Schotterstraße begann, und
starrte wortlos auf das riesige steinerne Herrenhaus zwischen den
Bäumen. Ich stand da, während das Hämmern meines Herzens und das
Würgen in meiner Kehle so intensiv wurden, dass ich’s
kaum aushalten konnte.
Wenige Augenblicke später ließ Kermit
mich eintreten. Sein müdes altes Gesicht war teilnahmslos, als ich
ihm sagte, dass ich mit Jonathan Lane sprechen wollte.
Einen
Moment lang, als sich unsere Augen zum ersten Mal trafen, war ich mir
fast sicher, dass mein alter Diener mich erkennen würde, dass er
irgendwie erraten hatte, was passiert war ...
Aber der alte
Butler taxierte mich nur kurz mit seinem Blick und sagte mir
lediglich, ich solle im Empfangsraum warten, während er nachsah, ob
Mr. Lane mit mir zu sprechen wünschte.
"Und Ihr Name,
Sir?" fragte Kermit.
Ich zögerte einen Moment. Dann sagte
ich: "Carl Gelsing."
"Erwartet Mr. Lane
Sie, Sir?", fragte er.
Wieder zauderte ich.
"Ja,
ich denke schon", gab ich zurück. "Ich bin sicher, dass er
mit meinem Namen etwas anfangen kann."
Kermit ließ mich im
Empfangsraum zurück. Als er endlich wieder auftauchte, deutete er
auf den Flur, der zum Arbeitszimmer führte.
"Mr. Lane
bittet Sie in sein Arbeitszimmer, Sir. Er wird gleich
herunterkommen."
Es gibt keine Worte, um meine Gefühle zu
beschreiben, als ich durch den Flur in das Arbeitszimmer ging, das
noch Stunden zuvor mein eigenes gewesen war. Keine Worte reichen aus,
um die entsetzliche Erregung zu beschreiben, die mich überflutete,
als ich mich dort auf einen Stuhl setzte und darauf wartete, dass die
Person eintrat, der nun mein Körper gehörte.
Die Minuten
vergingen, und der kalte Schweiß auf meiner Stirn und das Herzrasen
wurden mit jeder Sekunde stärker. Ich konnte meine Augen kaum von
den altbekannten Gegenständen im Raum ablenken. Die Bücher, die ich
schätzte, die Gemälde, die Kuriositäten auf dem Schreibtisch
...
Und dann hörte ich die Stimme - meine
Stimme, die Stimme, die zum Körper von Jonathan Lane
gehörte!
"Hallo, Gelsing. Ich hatte erwartet, dass du
hierher kommst."
Ich erhob mich, drehte mich um und stand
vor der körperlichen Manifestation dessen, was ich vor weniger als
vierundzwanzig Stunden noch war. Mit offenem Mund starrte ich, als
mich mein Körper von der Tür aus höhnisch anlächelte.
"Sie
sind Gelsing", brachte ich schließlich hervor. "Sie sind
Carl Gelsing. Welche wahnsinnige Idee hat Sie ..."
Gelsing,
der Mann, der meinen Körper gestohlen und mir seinen gegeben hatte,
lächelte wieder und winkte mit der Hand in Richtung meines
Stuhls.
"Setz
dich", sagte er. "Setz dich hin und reg dich nicht auf. Ich
will nicht, dass du hier rausgeschmissen wirst, bevor wir die Sache
durchsprechen können."
Schwach ließ ich mich in meinen
Stuhl zurücksinken und folgte ihm mit den Augen, als er sich hinter
den Schreibtisch schob und sich setzte.
Einen Moment lang
herrschte tiefes Schweigen, während Gelsing, der Mann, der jetzt in
meinem Körper lebte, mich abschätzig anlächelte.
"Du
musst einen sehr starken Willen haben", sagte er schließlich
und fingerte mit einem Papiermesser auf dem Schreibtisch herum. "Ich
hatte die Möglichkeit in Betracht gezogen, dass du einfach verrückt
wirst, wenn du erfährst, was mit dir passiert ist." Das Lächeln
wurde zu einem Grinsen.
"Sie müssen wahnsinnig sein!"
keuchte ich.
Er schüttelte den Kopf.
"Ganz im
Gegenteil!", erklärte er. Er winkte mit der Hand und deutete in
den Raum.
"Ich bin jetzt einer der reichsten jungen Männer
der Nation. Und mit dem Reichtum, den du anscheinend nie konstruktiv
nutzen konntest, werde ich auch bald einer der mächtigsten Männer
der Welt sein. Nein", grinste er, "ich glaube nicht, dass
ich wahnsinnig bin.“
"Dann war das absichtlich
geplant, teuflisch aus...", begann ich.
Er unterbrach mich
wieder.
"Es war ziemlich raffiniert geplant. Zweifellos
hast du die Akten über dich in meinem Labor gefunden. Ich habe vor
fast zwei Jahren damit begonnen, sie zu sammeln, als mir klar wurde,
dass eine Entdeckung, über die ich gestolpert war, mir eines Tages
ermöglichen würde, du zu sein.
Ich wählte deinen Körper,
deinen Reichtum und deine Stellung, weil ich all das am besten
ausnutzen konnte", fuhr er fort. "Von diesem Tag an
sammelte ich alle Daten über dich, deine Geschichte, deine
persönlichen Gewohnheiten, deine Freunde und Bekannten, alles, was
ich erfahren konnte. Und während ich das tat, lebte ich weiterhin in
meiner armseligen Umgebung, schuftete Nacht für Nacht in diesem
elenden Kellerlabor, um die Macht der Gedankenübertragung, die ich
zuerst unwissentlich entdeckt hatte, zu perfektionieren, zu testen
und zu erproben. Von dem Moment an, als ich meine Wahl getroffen habe
und deinen Körper als denjenigen auswählte, den ich übernehmen
würde, war die Verwandlung, die du heute Morgen beim Aufwachen
vorgefunden hast, zwangsläufig.
Ja, in der Tat, du warst die
ideale Wahl für mich. Du warst jung, hattest enormen Reichtum und
nur sehr wenige private Bindungen."
Er hielt inne.
"Und jetzt habe ich meine
ursprünglichen Pläne verwirklicht. Die Übertragung ist vollzogen.
Ich habe jetzt deinen Körper und damit auch dein Leben und dein
Vermögen. Du, mein Freund, hast im Gegenzug meinen Körper und das
damit verbundene armselige Leben."
"Aber das können
Sie nicht machen!" protestierte ich. "Sie sind verrückt.
Sie wissen nicht, was Sie tun!"
Das Lächeln verschwand aus
seinem Gesicht.
"Ach, das kann ich nicht?", fragte er.
„Aber würdest du nicht auch sagen, dass ich längst getan habe,
was ich angeblich nicht kann?"
"Doch", gab ich
verzweifelt zu. "Gott weiß, Sie haben auf unglaubliche Weise
etwas absolut Wahnsinniges vollbracht. Aber so kann es nicht
weitergehen. Sie müssen uns beide dahin zurückbringen, wo wir
hingehören!"
Er zuckte mit den Schultern. "Selbst
wenn ich dumm genug wäre, das zu tun", erklärte er, "wäre
es nicht mehr möglich. Du hast die zerstörten Geräte im
Kellerlabor gesehen. Du hast die Asche gesehen, die von den
Formelaufzeichnungen übrig geblieben ist. Ich habe absichtlich jede
letzte Brücke in die Vergangenheit zerstört. Es gibt keine
Möglichkeit der Verwandlung mehr!"
Mein Mund stand vor
entsetztem Erstaunen offen. Schwach versuchte ich zu sprechen. Die
Worte kamen mir nicht über die Lippen. Er grinste mich schadenfroh
an.
"Aber es gibt keinen Grund zur Panik", erklärte
er. "Es gibt keinen Grund zu glauben, dass dein Leben zu Ende
ist. Ganz im Gegenteil! Für dich beginnt gerade ein neues, ein
prächtiges Leben." Sein Lachen klang unangenehm.
Ich rang
immer noch nach Worten.
Er fuhr fort: "Dieses neue Leben
wird ganz anders sein als das, das ich dir genommen habe. Wo du
früher unermesslichen Reichtum hattest, wirst du jetzt in bitterer
Armut leben. Wo du früher nichts als Luxus kanntest, wirst du jetzt
nur noch Schufterei und Elend kennen.
Aber es wird
Entschädigungen geben!", höhnte er. "Du wirst den
zweifelhaften Nervenkitzel des Kampfes ums Dasein kennenlernen. Du
wirst feststellen, dass das Los des kleinen Mannes, auch wenn es
nicht mit Luxus erfüllt ist, einen Ausgleich in Form von Würde in
der Armut und der Ehre im Elend bietet. Du wirst die bleierne
Müdigkeit des Mannes kennenlernen, der gegen sein Schicksal kämpft.
Du wirst Verzweiflung, Kummer und bittere Enttäuschung erleben.
Alles in allem wird dein Leben ein höllischer Kampf ums Überleben
sein."
Ich beobachtete, wie er in die Kiste neben sich
griff und eine der außerordentlich teuren Zigarren herausholte, die
ich so gern geraucht hatte. Seine Augen musterten mich hinter der
Flamme des Streichholzes einen Moment lang mit zynischem Spott, dann
zündete er die Zigarre an und sprach wieder.
"Aber du
wirst geliebt werden!", sagte er, und der höhnische Spott in
seiner Stimme war jetzt noch stärker.
"Diese Frau!“,
flüsterte ich, denn sprechen konnte ich kaum, "die Frau, die
heute Morgen an Ihre Tür geklopft hat. Sie ..."
Er schnitt
mir das Wort ab.
"Sie ist sehr verliebt in mich",
grinste er, "oder sagen wir in das, was ich einmal war. Sie ist
Teil des herrlichen einfachen Lebens, das ich dir überlasse. Sie
muss es nie erfahren. Ich will nichts mehr von ihr. Sie ist ein Teil
dieses Albtraums von Elend und Armut, den ich für immer hinter mir
gelassen habe."
Ich dachte an ihre süßen, warmen Lippen,
an den Duft ihres schönen Haares aus Ebenholz und an die
Bewunderung, die aus ihren Augen auf dem abgenutzten Schnappschuss
leuchtete, den ich in der Brieftasche gefunden hatte.
"Du
Schwein!," krächzte ich heiser. "Du verrücktes, mieses
Schwein!"
Sein Gesicht wurde plötzlich weiß vor
Wut.
"Halt die Fresse, Gelsing!", schnauzte er. "Pass
auf, was du sagst, oder ich lasse dich auf der Stelle hier
rauswerfen!"
Ich dachte immer noch an Gloria. Dachte an
ihre Worte, als sie mich an jenem Morgen unwissend angeschaut und
gesagt hatte: "Du hast dich benommen, als würdest du mich nie
wiedersehen wollen".
Plötzlich erhob ich mich und machte
einen Schritt auf den Schreibtisch zu, an dem mein Usurpator saß.
Auch er erhob sich zornig.
"Bleib, wo du bist!",
brüllte er. "Komm keinen Schritt näher!"
Ich
schüttelte den Kopf.
"Ich habe nicht die Absicht, dir
etwas anzutun", sagte ich. "Ich will mich nur
verabschieden. Ich kehre in das Leben zurück, das du mir geschenkt
hast. Ich kehre zurück zur Liebe der wunderschönen Frau, die du mir
geschenkt hast. Ich werde die Chance nutzen, aus dem Leben, das du
mir gegeben hast, ein neues Schicksal zu formen. Ich denke, es wird
den Kampf mehr als wert sein. Es wird mir vielleicht sogar Spaß
machen!“
Die Wut stand ihm noch immer ins Gesicht
geschrieben.
"Na wundervoll", knirschte er. "Und
jetzt verpiss’
dich!"
Plötzlich verfärbte sich die zornige Blässe auf
seinem Gesicht in ein kränkliches Gelb. Er umklammerte den
Schreibtisch, sein Atem ging plötzlich rasend schnell und laut. Er
taumelte und schwankte unsicher auf seinen Füßen.
"Du
solltest dich lieber hinsetzen", riet ich ihm leise. "Du
solltest lernen, dich in den nächsten drei Monaten zu schonen. Weißt
du, es gibt etwas, das du nicht über mich herausgefunden hast. Wie
auch – ich hab’s
ja selbst erst vor drei Wochen erfahren."
Schweiß stand
ihm auf der Stirn, als er sich auf den Stuhl hinter dem Schreibtisch
sinken ließ. Eine wilde Angst stieg in seinen Augen auf.
"Was
meinst du?", keuchte er. "Verdammt, was meinst du?"
Da
lächelte ich.
" Krebs. Weißt du, vor drei Wochen hat mir
mein Arzt gesagt, dass ich höchstens noch vier Monate zu leben habe.
Er sagte mir, dass es in der medizinischen Wissenschaft nichts gibt,
das ich mit meinem Geld kaufen könnte, um mich zu retten."
Dann
drehte ich mich um und ging zur Tür des Arbeitszimmers. Dort hielt
ich noch einen Moment inne.
"Ich bin in ehrlicher Absicht
hergekommen. Ich hätte es wieder rückgängig gemacht. Aber wie du
schon gesagt hast: Das ist leider nicht mehr möglich. Leb wohl,
Jonathan Lane. Mögen deine letzten Monate so angenehm wie möglich
sein."
David Wright O’Brien: The Case of Jonathan Lane
Amazing Stories, 1942/8
Pseudonym: John York Cabot
Übersetzung: Matthias Käther © 2023/24