Montag, 18. November 2024

David Wright O'Brien - Die sonderbare Wandlung des Mr. Lane (1942)

 

O’Brien - Die sonderbare Wandlung des Mr. Lane


Als ich begann, mit meinem Mitstreiter Roy Glashan das komplette phantastische Werk des frühverstorbenenen Amerikaners David Wright O’Brien (1918-44) digital zu erschließen und herauszugeben, hätte ich mir kaum träumen lassen, dass wir diese Aufgabe in nur wenigen Jahren – auch dank mancher hilfsbereiter Sammlerinnen und Sammler – bewältigen würden.

(Zu finden unter freeread.com.au/@RGLibrary/DWOBrien/DWOBrien.html)

Wenn ich auf etwas besonders stolz bin, dann auf meinen Beitrag zur Rettung des Werks dieses überschwänglichen jungen Mannes, der auch im wirklichen Leben ein Draufgänger war und auf tragische Weise 26-jährig im Zweiten Weltkrieg ums Leben kam, weil er die Nazis nicht nur von der fernen Schreibmaschine aus bekämpfen wollte.

Als ich für Zwielicht 2018 zum 100. Geburtstag die erste Geschichte ins Deutsche übersetzte, hatte ich noch keinen umfassenden thematischen Überblick über das erstaunlich umfangreiche Werk von über 100 Erzählungen und längeren Novellen, die in nur 5 Jahren entstanden. Heute kann ich sagen – ich bin begeisterter denn je. Obwohl man diesen Pulp-Texten die Hast der Entstehung anmerkt (nicht wenige tippte O’Brien in Übungscamps und an der Front), beeindruckt die Vielfalt der Themen und auch des Tonfalls – von der finsteren Lakonie bis zum übermütigen Spott.

Zweifellos hätte O’Brien später in einer ruhigeren Zeit die besten Storys noch einmal überarbeitet – diese hier litt etwas unter starken Wortwiederholungen und einigen formelhaften Redundanzen, die ich etwas zurückgenommen habe. Auch hier beschäftigt sich O’Brien wie schon in „Ausstrahlung“ mit dem fragilen Selbstbewusstsein und der angeschlagenen Persönlichkeit des Großstädters, der Ton ist aber insgesamt optimistischer gestimmt. Oder na ja, das kommt vielleicht auf den Standpunkt an ...


Als ich meine Augen öffnete, verwirrt auf die rissige, vergilbte Decke über mir starrte und meinen schmerzenden Kopf zur Seite drehte, um die verwahrloste Umgebung des kleinen Zimmers zu betrachten, machte mir mein sechster Sinn sofort klar, dass dies kein Traum war.
Ich warf die grobe Decke rasch beiseite und setzte mich ungläubig auf, wobei ich mich mit beiden Händen am rostigen Rahmen eines heruntergekommenen Eisenbetts festkrallte.
Der Schweiß stand mir auf der Stirn, und mein Herz hämmerte in unerklärlicher Erregung. Ich fühlte mich irgendwie … Schwer zu sagen. Als wäre ich mir selbst fremd.
Eine Hochbahn ratterte hinter den rußverschmierten Fenstern vorbei und erschütterte das hässliche Gebäude in seinen Grundfesten, so dass das Bett, auf dem ich saß, protestierend quietschte.
Endlich stand ich auf und ging benommen zum Waschtisch in der Ecke. Es gab nur einen Wasserhahn, dessen grünlich verfärbter Messinggriff die schwache, fettverschmierte Aufschrift "Cold" trug.
Erst nachdem ich ihn aufgedreht und mein brennendes Gesicht kräftig mit eiskaltem Wasser bespritzt hatte, traute ich mich, in das fleckenübersäte Spiegelrechteck über der Schüssel zu schauen.
Ich hatte das Spiegelbild noch nie in meinem Leben gesehen.

Ich starrte fassungslos.
Ein Fremder mit offenem Mund und weit aufgerissenen Augen starrte zurück.
Und jetzt erkannte ich mit schwindelerregender Gewissheit die schreckliche Wahrheit, die mein sechster Sinn schon signalisiert hatte, als ich die Augen geöffnet hatte und ich mich in diesem unbekannten Zimmer wiederfand.
Ich, Jonathan Lane, befand mich nicht nur in der fremden Umgebung eines elenden Zimmers; ich befand mich auch im Körper eines fremden Mannes!
Eine Ewigkeit lang stand ich benommen da und klammerte mich an der Waschschüssel fest, um mich aufrecht zu halten, während mein Verstand am Rande zügellosen Wahnsinns taumelte.
"Das
ist ein Albtraum", sagte ich mir laut, "ein schreckliches Zerrbild der Realität!"
Das dumpfe Krächzen, das an meine Ohren drang, war eine fremde Stimme – die Stimme dieses seltsamen neuen Körpers, den ich jetzt besaß.
"Ich bin Jonathan Lane!", zischte ich heiser.
Der Klang der neuen Stimmbänder verhöhnte meine Worte. Und doch wusste ich genau, dass ich in der Nacht zuvor im Arbeitszimmer meines Anwesens in aller Ruhe gelesen hatte ...

Es war kurz vor Mitternacht, und ich war schon stundenlang in ein faszinierendes Buch über Philosophie vertieft gewesen.
Kermit, der Butler, der meinem Vater in all den Jahren bis zu seinem Tod so treu gedient hatte, und der jetzt mit konstanter, fast religiöser Hingabe auch über mich wachte, betrat das Arbeitszimmer so leise, dass ich seine Anwesenheit erst bemerkte, als er mich ansprach.
"Ich habe Ihr Zimmer vorbereitet, Sir."

Ich blickte erschrocken auf. Dann lächelte ich.

"Danke, Kermit", sagte ich. "Sie finden es gar nicht gut, dass ich bis spät in die Nacht lese, oder?
Kermits müdes, altes Gesicht bekam einen vorwurfsvollen Zug.
"Sir, ich dachte nur ...“ begann er.
"An mein Wohlbefinden, was, Kermit?", ergänze ich spöttisch.
"In der letzten Woche haben Sie sehr wenig geschlafen", begann er taktvoll. "Ruhe ist für jedermann außerordentlich nützlich, Sir."
Ich grinste. Wenig Schlaf war eine Untertreibung. Nachtclubs, Cafés, Bars und Bistros - in den letzten zwei Wochen hatte ich sie alle in einem unaufhörlichen Rausch besucht. Für Schlaf war bei diesem Programm wenig Zeit geblieben. Diese Nacht war die erste, die ich zu Hause verbrachte. Der drastische Unterschied zu den vorigen Abenden machte mir plötzlich klar, dass ich diese alkoholischen Exzesse gründlich satt hatte.
Ich blätterte um und nickte Kermit zu.
"Na schön, alter Freund", gab ich nach. "Wenn ich dieses Kapitel beendet habe, werde ich mich in mein flauschiges Bett zurückziehen."
Dieser Kompromiss schien Kermits Zustimmung zu finden, er nickte und wandte sich zum Gehen.
"Ich habe einen heißen Schlummertrunk für Sie vorbereitet, Sir", deklamierte er. "Ich werde ihn neben Ihrem Bett abstellen."
Ich bedankte mich, aber als ich schließlich in mein Schlafzimmer ging, waren es dann doch mehr als nur ein weiteres Kapitel geworden. Ich glaube, ich habe noch mindestens vier weitere gelesen, und als ich endlich nach oben ging, ging es auf drei Uhr zu.
Trotz der Müdigkeit, die ich durch meine Ausschweifungen in den letzten zwei Wochen hätte spüren müssen, war ich immer noch nicht in der Lage, gleich einzuschlafen.
Es muss noch eine weitere Stunde gedauert haben, bis ich in dem riesigen Teakholzbett lag und in die Dunkelheit starrte, während mein Verstand sich weigerte, auf die Befehle eines erschöpften Körpers zu hören.
Nichts anderes als schiere Erschöpfung ließ endlich den dunklen Vorhang des Schlafes über mich fallen ...

Und nun stand ich hier, in diesem schmuddeligen Raum, umgeben von Armut. Ich befand mich im Körper eines Mannes, den ich noch nie in meinem Leben gesehen hatte. Keine zehn Stunden, nachdem ich mich in den luxuriösen Komfort meines Schlafzimmers zurückgezogen hatte, war ich jetzt hier: ich, Jonathan Lane, der reichste junge Mann des Mittleren Westens.
Mit heroischer Aufbietung aller Kräfte brachte ich mich dazu, Ruhe zu bewahren, bevor ich in totale Hysterie verfiel.
Mit einer Anstrengung, die mir den Schweiß auf die Stirn trieb, verdrängte ich alles andere außer der elementaren Aufgabe, von der jetzt mein Schicksal abhing: die genaue Analyse des Albtraums, in dem ich mich befand.

Mehrere Minuten lang starrte ich auf die regelmäßigen, klaren Züge meines neuen Gesichts. Es war das Gesicht eines Mannes, der ungefähr so alt war wie ich. Gar nicht mal unangenehm. Scharfe, graue und intelligente Augen. Ein starker Mund, der auch lachen konnte. Blondes Haar. Mein eigenes Haar war dunkel, fast so schwarz wie Ebenholz. Der Körper war mittelgroß, kräftig gebaut und hatte nicht annähernd so schlaffe Muskeln wie mein eigener. Die Finger an den Händen meines neuen Ichs waren geschmeidig und gewandt. Es waren starke braungebrannte Hände. Eher die eines handwerklich begabten Wissenschaftlers als die eines Mechanikers.
Ich ignorierte die düsteren Perspektiven dieser unglaublichen Verwandlung fürs erste und machte mich daran, den schäbigen kleinen Raum näher zu untersuchen.
Auf einem Stuhl lagen Kleider. Billiges Zeug, ausgefranst und so abgewetzt, dass es glänzte. Ich stellte schnell fest, dass dies die Kleidung war, die meinen neuen Körper schmücken sollte.
In einer der Taschen des jämmerlichen Anzugs auf dem Stuhl fand ich eine Brieftasche. Als ich sie mit zittrigen Händen öffnete, sah ich, dass sie drei schmuddelig aussehende Dollarscheine, etwa achtzehn Cent Kleingeld und mehrere Ausweise enthielt.
Der erste war ein Mitarbeiterausweis einer kleinen Chemiefabrik, von der ich noch nie etwas gehört hatte. Sie war auf den Inhaber, einen gewissen Carl Gelsing, ausgestellt.
Der zweite war ein Berechtigungsschein für eine Wechselstube. Auch auf Carl Gelsing ausgestellt.
Hinter den Karten befand sich halb verdeckt ein Schnappschuss, und als ich ihn ans Licht holte, stellte sich heraus, dass es sich um ein Foto handelte, auf der ein lächelnder junger Mann an einem Flussufer stand und seinen Arm um eine hübsche junge Frau gelegt hatte. Der Ausdruck auf ihrem Gesicht, wie sie so zu ihm aufschaute, hatte eindeutig etwas von
schmelzender Hingabe. Auch der junge Mann lächelte – aber durchaus nicht hingebungsvoll. In seinen Augen funkelte ein wilder, brennender Ehrgeiz, dem erotische Gefühle völlig fremd zu sein schienen.
Dann wurde mir klar, dass der junge Mann, der den Arm um die schöne Frau gelegt hatte, derjenige war, in dessen Körper ich mich jetzt befand!
Ich schob das Bild behutsam zurück in die Brieftasche und steckte sie wieder in die Jacke. Dann durchsuchte ich fieberhaft das einzige verbliebene Möbelstück in dem kleinen Raum, eine niedrige, zerschrammte Kommode in der Ecke.
Meine Suche brachte nichts weiter zu Tage als ein sauberes, ausgefranstes Hemd, das unter den Armen mehrfach geflickt worden war, ein paar Socken, Unterhosen und Taschentücher. Das war alles. Die Wäschezeichen bestanden alle aus den Initialen "C. G.".
Ich ging zum Fenster und starrte auf die Hochbahngleise, die weniger als fünfzehn Meter unter mir schier endlos in beide Richtungen verliefen. Natürlich war mir bewusst, dass ich mich in einem Mietshaus befand, aber wo es genau lag, wusste ich nicht.

Dann begann ich, in die ausgefransten Kleider der Person zu schlüpfen, die einst den Körper bewohnt hatte, den ich jetzt besaß. Meine Gedanken waren instinktiv darauf ausgerichtet, mich mehr mit den Konsequenzen dieses unglaublichen Rätsels zu beschäftigen als mit der grotesken Tatsache selbst.
Als ich angezogen war, zögerte ich, und meine ganze Willenskraft reichte plötzlich nicht mehr aus, um die aufsteigende Panik zu unterdrücken, die mich erfasste.
Möglich, dass ich durchgedreht wäre, wenn es nicht in diesem Moment an der Tür geklopft hätte.

Ein Klopfen, gefolgt von einer hellen, weiblichen Stimme.
"Carl! Oh, Carl!", rief die Stimme fröhlich.
Die Flut der Panik in mir schien plötzlich zu verebben. Diese Stimme hatte mir eine schmale, aber lebensnotwendige Brücke zur Vernunft und Realität gebaut.
Irgendwie schaffte ich es, zu antworten.
"Ja?"
Ich wartete mit klopfendem Herzen.
"Ich bin's, Gloria, du Idiot. Bist du schon angezogen?"
Ich holte tief Luft.
"Ja", sagte ich. "Bin ich. Nur noch einen Moment!"
"Beeil dich. In zehn Minuten ist das Café zu voll, um noch bedient zu werden!", rief die weibliche Stimme noch einmal.
Ich ging zur Tür und schob den Riegel beiseite. Dann öffnete ich.
Das hübsche dunkelhaarige Geschöpf vom Brieftaschen-Schnappschuss stand da und lächelte mich an!
Verdattert suchte ich nach etwas: nach Worten, die ich sagen konnte, nach einer kleinen Handlung, die mir helfen würde ... Plötzlich beugte ich mich vor und küsste das Mädchen leicht auf den Mund, ohne mir so bewusst zu sein, was ich tat.
"Gloria", hörte ich mich flüstern, "Gloria!"
Ihre Arme waren plötzlich fest um mich geschlungen und ihr Mund drückte sich hart gegen meinen. Der schwache Duft ihrer Haare war irgendwie schwindelerregend, und ihre Lippen berauschend süß.
"Carl", schluchzte sie. "Oh, Carl. Ist alles in Ordnung mit dir? Ist wirklich alles o.k.? Du hast doch nichts angestellt, oder? Du hast doch nichts Blödes gemacht?"
Ich schob sie zurück.
"Was meinst du?". Meine Stimme war rau und eindringlich.
Die junge Frau schien zu zögern. Ihre roten Lippen klafften auseinander, als sie nach Worten suchte. "Du warst gestern Abend so seltsam", sagte sie. "Du hast dich verhalten, als würdest du mich nie mehr wiedersehen wollen oder ...", sie konnte nicht zu Ende sprechen. Tränen traten ihr in die Augen.
"Ich bin hier", hörte ich mich sagen. "Ich bin hier und es ist nichts passiert, o.k?" Oh Mann, dachte ich, nichts passiert! Die Untertreibung des Jahrhunderts!
Dann griff das Mädchen mit einer plötzlichen, völlig unerwarteten Geste in ihre Handtasche. Sie holte einen Schlüssel an einer Schnur hervor.
"Hier, Carl", sagte sie. "Hier ist dein Schlüssel. Du hast gesagt, ich soll ihn bis zum Morgen aufbewahren. Du hast gesagt, ich soll ihn dir geben, wenn es dir gut geht."

Meine Verblüffung war echt.
"Mein Schlüssel?" Ich blinzelte.
"Dein Kellerlaborschlüssel!" Sie runzelte die Stirn. "Erinnerst du dich nicht? Oh, ich weiß, dass du gestern Abend betrunken warst. Aber ich hätte nicht gedacht, dass du so viel getrunken hast, dass du ..."
Ich unterbrach sie, da ich mich nicht verraten wollte.
"Natürlich", sagte ich. "Jetzt erinnere ich mich. Danke." Ich nahm den Schlüssel.
Sie drehte sich um und rief: "Komm, wir müssen uns beeilen."
"Beeilen?" Ich wiederholte das Wort, ohne nachzudenken.
"Ja, wenn wir vor der Arbeit noch Kaffee und Brötchen essen wollen."
"Oh, ja", sagte ich. "Arbeit. Klar, genau."
Die Frau wirbelte herum und sah mich an. Ihre schönen Gesichtszüge waren verwirrt.
"Carl", fragte sie besorgt, "geht
s dir nicht gut? Du wirkst so seltsam. So, als ob etwas ..."
Ich konnte sie nicht weiterreden lassen.
"Ich werde heute nicht zur Arbeit gehen", verkündete ich. "Ich werde noch etwas in meinem Labor arbeiten."
Die Frau namens Gloria sah besorgt aus.
"Nicht schon wieder, Carl", protestierte sie. "Sie werden dich eines Tages feuern, wenn du ständig den Job schwänzt."
Ich zuckte mit den Schultern.
"Kein großer Verlust, oder?“ Mit dieser Aussage fühlte ich mich sicher.
"Aber, Carl", protestierte das Mädchen, "wenn du nicht diese Riesensummen für die Ausrüstung deines Hobbylabors im Keller ausgeben würdest, könntest du mit dem, was du verdienst, ganz gut auskommen!"
Ich schüttelte den Kopf.
"Ich gehe heute nicht zur Arbeit."
Und dann lieferte das Mädchen ganz unbewusst die Information, die ich so dringend brauchte.
"Wenn sie hierher kommen, um zu sehen, ob du wirklich krank bist", sagte sie, "und
sie finden dich unten im Keller, wo du mit chemischem Zeug herumexperimentierst, dann kostet dich das deinen Job."
Ich legte meine Hände so sanft wie möglich auf ihre Schultern.
"Mach dir keine Sorgen, Gloria", sagte ich, "ich bleibe heute hier. Es wird das letzte Mal sein, dass ich im Labor bin."
Sie warf mir einen merkwürdigen Blick zu.
"Das hast du schon gestern Abend gesagt", erklärte sie. Dann war sie verschwunden.
Ich schaute auf den Schlüssel in meiner Hand, und wieder schlug mein Herz wie wild vor Erregung ...

Zwanzig Minuten später hatte ich die Durchsuchung des Kellerlabors von Carl Gelsing beendet.
Die Beweise, die ich dort gefunden hatte, trugen nur dazu bei, die brennenden Fragen, die mich quälten, noch brennender zu machen.
In einem großen Ordner befanden sich Hunderte von Papieren. Zeitungsausschnitte, Zeitschriftennotizen, Buchverweise, Fotokopien, alles, was mit dem Leben, den Freunden, den Gewohnheiten und den Geheimnissen von - mir selbst - zu tun hatte!
Ich, Jonathan Lane, fand in diesen Akten eine unvorstellbar detaillierte persönliche Geschichte von mir selbst. Ich fand eine Geschichte über mich, die ein gewisser Carl Gelsing, der Mann, dessen Körper ich jetzt anstelle meines eigenen besaß, akribisch zusammengestellt hatte.
Die wissenschaftliche Ausrüstung, die sich im Labor befunden hatte, war völlig zerstört. Der Kellerraum war ein einziger Haufen zerbrochener Röhren, zersplitterter Objektträger und demolierter Geräte.
In einer Ecke des Raums befand sich ein kleiner Aschehaufen, der darauf hindeutete, dass dort ein Stapel Papiere angezündet und absichtlich verbrannt worden war.
Abgesehen von einem zerfledderten Laborkittel gab es kaum noch etwas Erwähnenswertes. Trotzdem suchte ich noch fünf Minuten weiter, in der verzweifelten Hoffnung, etwas zu finden, das ein wenig zur Lösung dieses verrückten Rätsels beitragen könnte.
Dann, als ich ganz verwirrt und hoffnungslos dastand, während die bizarren Fakten in meinem Gehirn herumwirbelten gleich einer verrückten Parodie der Vernunft, wurde ich mir erstmals der schrecklichen, fantastisch anmutenden Wahrheit bewusst.
Diese Tatsache war wild, unmöglich, die Schlussfolgerung eines Geistes am Rande des Wahnsinns. Aber sie hatte die grimmige Plausibilität eines Wahnsinns mit Methode. Ich war entschlossen, das hier zu Ende zu bringen. Es war das einzig Sinnvolle, das mir verblieben war ...

Ich brauchte etwas mehr als eine Stunde, um von dem großstädtischen Elendsviertel, in dem ich mich befand, zu meiner Villa in der Vorstadt zu gelangen. Und als ich endlich am weitläufigen Anwesen anlangte, das vor weniger als vierundzwanzig Stunden noch mir gehört hatte, durchströmte mich erneut eine fiebrige Hysterie.
Ich stand einen Moment vor dem großen Tor, hinter dem eine lange Schotterstraße begann, und starrte wortlos auf das riesige steinerne Herrenhaus zwischen den Bäumen. Ich stand da, während das Hämmern meines Herzens und das Würgen in meiner Kehle so intensiv wurden, dass ich
s kaum aushalten konnte.
Wenige Augenblicke später ließ Kermit mich eintreten. Sein müdes altes Gesicht war teilnahmslos, als ich ihm sagte, dass ich mit Jonathan Lane sprechen wollte.
Einen Moment lang, als sich unsere Augen zum ersten Mal trafen, war ich mir fast sicher, dass mein alter Diener mich erkennen würde, dass er irgendwie erraten hatte, was passiert war ...
Aber der alte Butler taxierte mich nur kurz mit seinem Blick und sagte mir lediglich, ich solle im Empfangsraum warten, während er nachsah, ob Mr. Lane mit mir zu sprechen wünschte.
"Und Ihr Name, Sir?" fragte Kermit.
Ich zögerte einen Moment. Dann sagte ich: "Carl Gelsing."

"Erwartet Mr. Lane Sie, Sir?", fragte er.
Wieder zauderte ich.
"Ja, ich denke schon", gab ich zurück. "Ich bin sicher, dass er mit meinem Namen etwas anfangen kann."
Kermit ließ mich im Empfangsraum zurück. Als er endlich wieder auftauchte, deutete er auf den Flur, der zum Arbeitszimmer führte.
"Mr. Lane bittet Sie in sein Arbeitszimmer, Sir. Er wird gleich herunterkommen."
Es gibt keine Worte, um meine Gefühle zu beschreiben, als ich durch den Flur in das Arbeitszimmer ging, das noch Stunden zuvor mein eigenes gewesen war. Keine Worte reichen aus, um die entsetzliche Erregung zu beschreiben, die mich überflutete, als ich mich dort auf einen Stuhl setzte und darauf wartete, dass die Person eintrat, der nun mein Körper gehörte.
Die Minuten vergingen, und der kalte Schweiß auf meiner Stirn und das Herzrasen wurden mit jeder Sekunde stärker. Ich konnte meine Augen kaum von den altbekannten Gegenständen im Raum ablenken. Die Bücher, die ich schätzte, die Gemälde, die Kuriositäten auf dem Schreibtisch ...
Und dann hörte ich die Stimme -
meine Stimme, die Stimme, die zum Körper von Jonathan Lane gehörte!
"Hallo, Gelsing. Ich hatte erwartet, dass du hierher kommst."
Ich erhob mich, drehte mich um und stand vor der körperlichen Manifestation dessen, was ich vor weniger als vierundzwanzig Stunden noch war. Mit offenem Mund starrte ich, als mich mein Körper von der Tür aus höhnisch anlächelte.
"Sie sind Gelsing", brachte ich schließlich hervor. "Sie sind Carl Gelsing. Welche wahnsinnige Idee hat Sie ..."
Gelsing, der Mann, der meinen Körper gestohlen und mir seinen gegeben hatte, lächelte wieder und winkte mit der Hand in Richtung
meines Stuhls.
"Setz dich", sagte er. "Setz dich hin und reg dich nicht auf. Ich will nicht, dass du hier rausgeschmissen wirst, bevor wir die Sache durchsprechen können."
Schwach ließ ich mich in meinen Stuhl zurücksinken und folgte ihm mit den Augen, als er sich hinter den Schreibtisch schob und sich setzte.
Einen Moment lang herrschte tiefes Schweigen, während Gelsing, der Mann, der jetzt in meinem Körper lebte, mich abschätzig anlächelte.
"Du musst einen sehr starken Willen haben", sagte er schließlich und fingerte mit einem Papiermesser auf dem Schreibtisch herum. "Ich hatte die Möglichkeit in Betracht gezogen, dass du einfach verrückt wirst, wenn du erfährst, was mit dir passiert ist." Das Lächeln wurde zu einem Grinsen.
"Sie müssen wahnsinnig sein!" keuchte ich.
Er schüttelte den Kopf.
"Ganz im Gegenteil!", erklärte er. Er winkte mit der Hand und deutete in den Raum.
"Ich bin jetzt einer der reichsten jungen Männer der Nation. Und mit dem Reichtum, den du anscheinend nie konstruktiv nutzen konntest, werde ich auch bald einer der mächtigsten Männer der Welt sein. Nein", grinste er, "ich glaube nicht, dass ich wahnsinnig bin.“

"Dann war das absichtlich geplant, teuflisch aus...", begann ich.
Er unterbrach mich wieder.
"Es war ziemlich raffiniert geplant. Zweifellos hast du die Akten über dich in meinem Labor gefunden. Ich habe vor fast zwei Jahren damit begonnen, sie zu sammeln, als mir klar wurde, dass eine Entdeckung, über die ich gestolpert war, mir eines Tages ermöglichen würde, du zu sein.
Ich wählte deinen Körper, deinen Reichtum und deine Stellung, weil ich all das am besten ausnutzen konnte", fuhr er fort. "Von diesem Tag an sammelte ich alle Daten über dich, deine Geschichte, deine persönlichen Gewohnheiten, deine Freunde und Bekannten, alles, was ich erfahren konnte. Und während ich das tat, lebte ich weiterhin in meiner armseligen Umgebung, schuftete Nacht für Nacht in diesem elenden Kellerlabor, um die Macht der Gedankenübertragung, die ich zuerst unwissentlich entdeckt hatte, zu perfektionieren, zu testen und zu erproben. Von dem Moment an, als ich meine Wahl getroffen habe und deinen Körper als denjenigen auswählte, den ich übernehmen würde, war die Verwandlung, die du heute Morgen beim Aufwachen vorgefunden hast, zwangsläufig.
Ja, in der Tat, du warst die ideale Wahl für mich. Du warst jung, hattest enormen Reichtum und nur sehr wenige private Bindungen."

Er hielt inne.

"Und jetzt habe ich meine ursprünglichen Pläne verwirklicht. Die Übertragung ist vollzogen. Ich habe jetzt deinen Körper und damit auch dein Leben und dein Vermögen. Du, mein Freund, hast im Gegenzug meinen Körper und das damit verbundene armselige Leben."
"Aber das können Sie nicht machen!" protestierte ich. "Sie sind verrückt. Sie wissen nicht, was Sie tun!"
Das Lächeln verschwand aus seinem Gesicht.
"Ach, das kann ich nicht?", fragte er. „Aber würdest du nicht auch sagen, dass ich längst getan habe, was ich angeblich nicht kann?"
"Doch", gab ich verzweifelt zu. "Gott weiß, Sie haben auf unglaubliche Weise etwas absolut Wahnsinniges vollbracht. Aber so kann es nicht weitergehen. Sie müssen uns beide dahin zurückbringen, wo wir hingehören!"
Er zuckte mit den Schultern. "Selbst wenn ich dumm genug wäre, das zu tun", erklärte er, "wäre es nicht mehr möglich. Du hast die zerstörten Geräte im Kellerlabor gesehen. Du hast die Asche gesehen, die von den Formelaufzeichnungen übrig geblieben ist. Ich habe absichtlich jede letzte Brücke in die Vergangenheit zerstört. Es gibt keine Möglichkeit der Verwandlung mehr!"
Mein Mund stand vor entsetztem Erstaunen offen. Schwach versuchte ich zu sprechen. Die Worte kamen mir nicht über die Lippen. Er grinste mich schadenfroh an.
"Aber es gibt keinen Grund zur Panik", erklärte er. "Es gibt keinen Grund zu glauben, dass dein Leben zu Ende ist. Ganz im Gegenteil! Für dich beginnt gerade ein neues, ein prächtiges Leben." Sein Lachen klang unangenehm.
Ich rang immer noch nach Worten.
Er fuhr fort: "Dieses neue Leben wird ganz anders sein als das, das ich dir genommen habe. Wo du früher unermesslichen Reichtum hattest, wirst du jetzt in bitterer Armut leben. Wo du früher nichts als Luxus kanntest, wirst du jetzt nur noch Schufterei und Elend kennen.
Aber es wird Entschädigungen geben!", höhnte er. "Du wirst den zweifelhaften Nervenkitzel des Kampfes ums Dasein kennenlernen. Du wirst feststellen, dass das Los des kleinen Mannes, auch wenn es nicht mit Luxus erfüllt ist, einen Ausgleich in Form von Würde in der Armut und der Ehre im Elend bietet. Du wirst die bleierne Müdigkeit des Mannes kennenlernen, der gegen sein Schicksal kämpft. Du wirst Verzweiflung, Kummer und bittere Enttäuschung erleben. Alles in allem wird dein Leben ein höllischer Kampf ums Überleben sein."
Ich beobachtete, wie er in die Kiste neben sich griff und eine der außerordentlich teuren Zigarren herausholte, die ich so gern geraucht hatte. Seine Augen musterten mich hinter der Flamme des Streichholzes einen Moment lang mit zynischem Spott, dann zündete er die Zigarre an und sprach wieder.
"Aber du wirst geliebt werden!", sagte er, und der höhnische Spott in seiner Stimme war jetzt noch stärker.
"Diese Frau!“, flüsterte ich, denn sprechen konnte ich kaum, "die Frau, die heute Morgen an Ihre Tür geklopft hat. Sie ..."
Er schnitt mir das Wort ab.
"Sie ist sehr verliebt in mich", grinste er, "oder sagen wir in das, was ich einmal war. Sie ist Teil des herrlichen einfachen Lebens, das ich dir überlasse. Sie muss es nie erfahren. Ich will nichts mehr von ihr. Sie ist ein Teil dieses Albtraums von Elend und Armut, den ich für immer hinter mir gelassen habe."
Ich dachte an ihre süßen, warmen Lippen, an den Duft ihres schönen Haares aus Ebenholz und an die Bewunderung, die aus ihren Augen auf dem abgenutzten Schnappschuss leuchtete, den ich in der Brieftasche gefunden hatte.
"Du Schwein!," krächzte ich heiser. "Du verrücktes, mieses Schwein!"
Sein Gesicht wurde plötzlich weiß vor Wut.
"Halt die Fresse, Gelsing!", schnauzte er. "Pass auf, was du sagst, oder ich lasse dich auf der Stelle hier rauswerfen!"
Ich dachte immer noch an Gloria. Dachte an ihre Worte, als sie mich an jenem Morgen unwissend angeschaut und gesagt hatte: "Du hast dich benommen, als würdest du mich nie wiedersehen wollen".
Plötzlich erhob ich mich und machte einen Schritt auf den Schreibtisch zu, an dem mein Usurpator saß. Auch er erhob sich zornig.
"Bleib, wo du bist!", brüllte er. "Komm keinen Schritt näher!"
Ich schüttelte den Kopf.
"Ich habe nicht die Absicht, dir etwas anzutun", sagte ich. "Ich will mich nur verabschieden. Ich kehre in das Leben zurück, das du mir geschenkt hast. Ich kehre zurück zur Liebe der wunderschönen Frau, die du mir geschenkt hast. Ich werde die Chance nutzen, aus dem Leben, das du mir gegeben hast, ein neues Schicksal zu formen. Ich denke, es wird den Kampf mehr als wert sein. Es wird mir vielleicht sogar Spaß machen!“
Die Wut stand ihm noch immer ins Gesicht geschrieben.
"Na wundervoll", knirschte er. "Und jetzt verpiss
dich!"
Plötzlich verfärbte sich die zornige Blässe auf seinem Gesicht in ein kränkliches Gelb. Er umklammerte den Schreibtisch, sein Atem ging plötzlich rasend schnell und laut. Er taumelte und schwankte unsicher auf seinen Füßen.
"Du solltest dich lieber hinsetzen", riet ich ihm leise. "Du solltest lernen, dich in den nächsten drei Monaten zu schonen. Weißt du, es gibt etwas, das du nicht über mich herausgefunden hast. Wie auch – ich hab
s ja selbst erst vor drei Wochen erfahren."
Schweiß stand ihm auf der Stirn, als er sich auf den Stuhl hinter dem Schreibtisch sinken ließ. Eine wilde Angst stieg in seinen Augen auf.
"Was meinst du?", keuchte er. "Verdammt, was meinst du?"
Da lächelte ich.
" Krebs. Weißt du, vor drei Wochen hat mir mein Arzt gesagt, dass ich höchstens noch vier Monate zu leben habe. Er sagte mir, dass es in der medizinischen Wissenschaft nichts gibt, das ich mit meinem Geld kaufen könnte, um mich zu retten."
Dann drehte ich mich um und ging zur Tür des Arbeitszimmers. Dort hielt ich noch einen Moment inne.
"Ich bin in ehrlicher Absicht hergekommen. Ich hätte es wieder rückgängig gemacht. Aber wie du schon gesagt hast: Das ist leider nicht mehr möglich. Leb wohl, Jonathan Lane. Mögen deine letzten Monate so angenehm wie möglich sein."


David Wright O’Brien: The Case of Jonathan Lane

Amazing Stories, 1942/8

Pseudonym: John York Cabot

Übersetzung: Matthias Käther © 2023/24

John Martin Leahy - In Amundsens Zelt (1928)

 John Martin Leahy: In Amundsens Zelt (1928)


Das legendäre Magazin „Weird Tales“ (1923-54) enthält mehr als 3000 Erzählungen. Kein Problem, dort Material auszugraben, das auch heute noch fesselt. Viele Sachen sind Neufunde, die dort seit Jahrzehnten ruhen – und tatsächlich sind fast alle Geschichten, die ich für Zwielicht übersetzt habe, noch nie anthologisiert worden, auch im Englischen nicht. Überraschenderweise gibt es aber eine erstaunlich große Zahl an Werken, die englischsprachige Klassiker geworden sind und bisher unübersetzt blieben. Eine empfindliche Lücke hat der Festa-Verlag 2023 mit seiner fünfbändigen Jubiläumsausgabe geschlossen, aber es bleibt noch genug übrig. Leahys Story „In Amundsens Zelt“ wurde unzählige Male anthologisiert und ins Spanische, Französische und Holländische übersetzt. Dennoch ist sie deutschen Herausgeber/-innen bisher entgangen. Ein würdiger Beitrag für die 20. Ausgabe von Zwielicht, finde ich!

Die Story hat einen realistischen Aufhänger. 1911 lieferten sich Amundsen und Scott ein spektakuläres Wettrennen zum unentdeckten Südpol. Amundsen erreichte das Ziel als erster und hinterließ der nachkommenden Scott-Expedition ein Zelt mit Notizen und Proviant. Scott erreichte das Zelt, aber er und seine vier Mitstreiter starben alle auf dem Rückweg. Der Erzähler erfindet eine dritte Expedition, die am Wettrennen teilnimmt.

John Miller stellt in seiner verdienstvollen Anthologie „Polar Horrors“ (2022) die These auf, die Story könnte die unmittelbare Vorlage für John W. Campbells Horror-Klassiker „Who goes there?“ (1938) gewesen sein. Ich halte das für zweifelhaft. Beide Autoren dürften sich auf einen älteren Klassiker bezogen haben, „The Thing from Outside“ (1923) von George Allan England.


Reisenden, sagt Richard A. Proctor, „wird manchmal nachgesagt, dass sie wundersame Geschichten erzählen; aber es ist eine bemerkenswerte Tatsache, dass in neun von zehn Fällen die wundersamen Geschichten von anderen Reisenden bestätigt wurden.“

Sicherlich hat kein Reisender jemals eine wundersamere Geschichte aufgeschrieben als die von Robert Drumgold. Ich entschuldige mich beim Geist des unglücklichen Entdeckers dafür, dass ich sie so lange zurückgehalten habe, und übergebe diesen Bericht nun endlich der Öffentlichkeit. Allerdings möchte ich wahrheitsgemäß hinzufügen, dass Eastman, Dahlstrom und ich ihn für das Werk eines geistig Verwirrten halten; kein Wunder, dass sein Verstand gelitten hat angesichts der furchtbaren Strapazen, die er durchgemacht hatte, und dass die Angst vor dem Schicksal, das ihm drohte, ihn verwirrte. Was war das für ein Ding (wenn es denn ein „Ding“ war), das zu ihm kam, dem einzigen Überlebenden der Gruppe, die den Südpol erreicht hatte, das sich in das Zelt drängte und dort nur den abgetrennten Kopf von Drumgold zurückließ?
Unsere damalige und bis vor kurzem gültige Erklärung war, dass Drumgold von seinen Hunden angefallen und gefressen worden war. Warum vom Kopf nicht das Fleisch abgenagt worden war, war uns ein völliges Rätsel. Aber das war nur eines der vielen Dinge, die für uns rätselhaft blieben ...
Jetzt wissen wir, dass diese Erklärung so weit von der Wahrheit entfernt war, wie der trostlose, eisbedeckte Ort, an dem er sein Ende fand, von den lächelnden, blumenübersäten Regionen der Tropen.
Ja, wir dachten, dass der Verstand des armen Robert Drumgold den Geist aufgegeben hatte, dass das Grauen in Amundsens Zelt und das, was Drumgold dort widerfuhr, nur Wahnsinn sein konnte. Deshalb haben wir diesen Teil des Drumgold-Manuskripts bisher nicht veröffentlicht. Wir befürchteten, dass die Herausgabe eines so außergewöhnlichen Berichts die wahren Leistungen der Sutherland-Expedition in Zweifel ziehen könnte.
Aber in letzter Zeit haben unsere Ideen und Überzeugungen einen Wandel durchgemacht, der nichts weniger als eine Kehrtwende ist. Diese Kehrtwende, das muss wohl kaum erwähnt werden, ist auf die erstaunlichen Entdeckungen zurückzuführen, die der verstorbene Kapitän Stanley Livingstone in der Region des Südpols machte und die von der Expedition unter der Leitung von Darwin Frontenac bestätigt und ausgeweitet wurden. Wie wir heute wissen, hielt Kapitän Livingstone seine wahre Entdeckung wegen des Zweifels und Spotts, die ihm bei seiner Rückkehr begegneten, bald vor allen anderen geheim – außer vor zwei Menschen: Darwin Frontenac und Bond McQuestion. Erst jetzt, nach Frontenacs Rückkehr, erfahren wir, wie wunderbar und frappierend die Entdeckungen des unglücklichen Kapitäns wirklich waren. Doch trotz des Erfolgs der Frontenac-Expedition muss man zugeben, dass das Mysterium dort unten in der Antarktis eher noch größer als kleiner geworden ist. Darwin Frontenac und seine Gefährten haben viel gesehen; aber wir wissen, dass es dort unten Dinge und Wesen gibt, die sie nicht gesehen haben. Die Antarktis – oder besser gesagt, ein Teil davon – ist damit plötzlich zum interessantesten und sicherlich auch zum furchterregendsten Gebiet auf unserem Globus geworden.
Eine weitere wunderbare Geschichte, die von einem Reisenden erzählt wurde – oder besser gesagt, nur teilweise erzählt wurde – hat sich also bestätigt. Eastman und ich – wir bereiten uns darauf vor, erneut in die Antarktis zu reisen, um, wie wir hoffen, eine weitere Geschichte zu bestätigen – eine unheimliche und furchterregende Geschichte, wie sie sich kein Romanautor je ausgedacht hat.
Und wenn man bedenkt, dass wir es waren, Eastman, Dahlstrom und ich, die die ursprüngliche Entdeckung machten! Ja, wir waren es, die das Zelt betraten und dort den Kopf von Robert Drumgold fanden und die Blätter, auf die er seine Geschichte voller Geheimnisse und Schrecken gekritzelt hatte. Wenn ich mir vorstelle, dass wir dort standen, genau an der Stelle, an der der Kopf lag, und die Geschichte nur für das haltlose Hirngespinst eines Verrückten hielten!
Wie lebhaft taucht alles wieder vor mir auf – die weiße Weite, grell und blendend im ungemilderten Licht der antarktischen Sonne; die Hunde, die sich im Geschirr abmühten; die Kisten auf den Schlitten, lang und schwarz wie Särge; unser plötzlicher Halt, als Eastman uns zuwinkte und sagte: „Hallo! Was ist das?“
Ungefähr eine halbe Meile weiter links durchbrach ein Objekt das blendende Weiß der Ebene.
„Eine Felserhebung, nehme ich an“, war meine Antwort.
„Sieht für mich aus wie ein Steinhaufen oder ein Zelt“, sagte Dahlstrom.
„Wie um alles in der Welt“, fragte ich, „kann ein Zelt hier unten bei 87° 30‟ Süd hingekommen sein? Wir sind weit von der Route von Amundsen oder Scott entfernt.“
„Hm“, murmelte Eastman, „das frage ich mich auch. Heiliger Bimbam!“, fügte er mit einem Blick auf Dahlstrom hinzu. „Ich glaube, du hast recht!“
„Auf jeden Fall“, nickte Dahlstrom, „sieht es für mich wie ein Steinhaufen oder ein Zelt aus. Ich glaube nicht, dass es eine Felserhebung ist.“
„Nun“, meinte ich, „es ist nicht schwer, das rauszufinden.“
Im nächsten Moment setzten wir uns in Bewegung und steuerten direkt auf das geheimnisvolle Objekt inmitten der ewigen Einöde aus Schnee und Eis zu.
„Tatsache!“, rief Eastman, der voranging, plötzlich. „Seht ihr das? Es ist ein Zelt!“
Ein paar Augenblicke später wusste ich, dass es tatsächlich so war. Aber wer hatte es dort aufgeschlagen? Was würden wir darin finden?
Ich kann die Gedanken und Gefühle nicht beschreiben, die uns bewegten, als wir uns dem Ort näherten. Der Schnee türmte sich um das Zelt herum bis zu einer Höhe von mindestens einem Meter auf. In der Nähe ragte ein zersplitterter Ski aus der Oberfläche heraus – das war alles.
Und diese Stille! Die Luft war in diesem Moment ohne die geringste Bewegung. Nur unsere Bewegungen, die der Hunde und unser eigener Atem durchbrachen die schreckliche Ruhe des Todes.
„Die armen Teufel!“, sagte Eastman schließlich. „Immerhin haben sie ihr Zelt gut aufgebaut.“
Es wurde von einer einzigen Stange gestützt, die in der Mitte stand. An dieser Stange waren drei Abspannleinen befestigt, von denen eine so straff war wie an dem Tag, an dem der Pfahl in den Boden gerammt worden war. Aber das war noch nicht alles: Ein halbes Dutzend oder mehr Leinen waren an den Seiten des Zeltes befestigt. Wir wussten nicht, wie lange es dort gestanden hatte, um den heftigen Winden dieser schrecklichen Region zu trotzen.
Dahlstrom und ich holten jeweils einen Spaten und begannen, den Schnee zu entfernen. Der Eingang war zwar nicht verschlossen, aber durch ein paar leere Proviantkisten und ein Stück Segeltuch versperrt. „Wie um alles in der Welt“, rief ich, „sind die Dinger an diese Stelle gekommen?“
„Der Wind“, sagte Dahlstrom. „Wenn der Eingang nicht damit versperrt gewesen wäre, gäbe es jetzt kein Zelt mehr; der Wind hätte es schon längst zerrissen und zerstört.“
„Hm“, überlegte Eastman. „Der Wind hat das getan? Der Wind hat den Eingang so blockiert? Ich weiß nicht ...“
Im nächsten Moment hatten wir alles beiseite geräumt. Ich steckte meinen Kopf durch die Öffnung. Seltsamerweise war nur wenig Schnee hereingetrieben worden. Das Zelt war dunkelgrün, dadurch wirkte das Licht im Inneren etwas unheimlich und gruselig – vielleicht trug auch meine Fantasie zu diesem Effekt bei.
„Was siehst du, Bill?“, fragte Eastman. „Was ist da drin?“
Meine Antwort war ein Schrei, und im nächsten Moment war ich vom Eingang zurückgesprungen.
„Was ist es, Bill?“, rief Eastman. „Großer Gott, was ist es, Mann?“
„Ein Kopf!“
„Ein Kopf?“
„Ein menschlicher Kopf!“
Er und Dahlstrom bückten sich und spähten hinein. „Was hat das zu bedeuten?“, schrie Eastman. „Ein abgetrennter menschlicher Kopf!“
Dahlstrom fuhr sich mit der behandschuhten Hand über die Augen.
„Träumen wir?“, murmelte er.
„Das ist kein Traum, Nels“, erwiderte unser Anführer. „Ich wünschte, es wäre einer. Ein Kopf! Ein menschlicher Kopf!“
„Ist da nicht noch mehr?“, fragte ich.
„Nichts. Kein Körper, nicht einmal abgetrennte Knochen – nur dieser abgetrennte Kopf! Könnten die Hunde ...“
„Ja?“, fragte Dahlstrom.
„Könnten die Hunde das getan haben?“
„Hunde?“, überlegte Dahlstrom. „Das ist nicht das Werk von Hunden.“
Wir traten ein und sahen auf die grausigen sterblichen Überreste hinunter.
„Das waren keine Hunde“, bestätigte Dahlstrom noch einmal.
„Keine Hunde?“, fragte Eastman. „Welche andere Erklärung gibt es dann – außer Kannibalismus?“
Kannibalismus! Mir lief ein Schauer über den Rücken. Ich kann aber auch gleich vorausschicken, dass die Entdeckung eines großzügigen Vorrats an Fruchtkuchen und Keksen auf dem Schlitten, der in diesem Moment noch völlig vom Schnee verdeckt war, uns später zeigen sollte, dass diese schreckliche Erklärung nicht die richtige war. Die Hunde! Das war es, das war die einzige Erklärung – auch wenn die Aufzeichnungen des Opfers selbst eine ganz andere Geschichte erzählen würden. Ja, der Forscher war von seinen Hunden angefallen und gefressen worden. Aber es gab einige Dinge, die gegen diese Theorie sprachen. Warum hatten die Tiere den Kopf zurückgelassen – mit den gefrorenen Augen (es waren blaue Augen) und einem Blick des Entsetzens, der mir noch heute einen Schauer über den Rücken jagt? Der Kopf wies nicht die Spur eines einzigen Reißzahns auf, obwohl es so aussah, als sei er vom Rumpf abgekaut worden. Dahlstrom war jedoch der Meinung, dass er abgehackt worden war.
In der Geschichte des Mannes, Robert Drumgold, fanden wir ein weiteres Rätsel – ebenso unlösbar (wenn sein Bericht denn authentisch war) wie das Vorhandensein des abgetrennten Kopfes. Die Geschichte war mit Bleistift auf die Seiten seines Tagebuchs gekritzelt. Aber was sollten wir mit einem Bericht anfangen, der so seltsam und furchtbar war, vor allem auf den letzten Seiten?
Doch genug von dem, was wir dachten und was wir uns fragten. Das Tagebuch liegt vor mir, und ich werde nun die Geschichte von Robert Drumgold mit seinen eigenen Worten wiedergeben. Kein Wort, kein Komma soll gestrichen, eingefügt oder verändert werden.
Beginnen wir mit dem Eintrag vom 3. Januar, an dem die kleine Gruppe nur noch fünfzehn geografische Meilen vom Pol entfernt war.
Hier ist er.



3. Januar – Position unseres Lagers 89° 45‘ 10“. Nur noch fünfzehn Meilen, und der Pol gehört uns – es sei denn, Amundsen oder Scott sind uns zuvorgekommen, oder beide. Aber er wird uns trotzdem gehören, auch wenn der Ruhm der Entdeckung einem anderen gebührt. Was werden wir dort finden? Alle sind gut gelaunt. Selbst die Hunde scheinen zu wissen, dass dies die Vollendung einer großen Vision ist. Was uns allerdings rätselhaft erscheint, ist das seltsame Interesse, das sie heute für das Gebiet vor uns gezeigt haben. Wenn wir anhielten, schauten sie starr geradeaus nach Süden und schnüffelten und schnupperten unentwegt. Was hat das zu bedeuten? Ja, alle sind bester Laune – sowohl die Hunde als auch wir drei Männer. Alles ist vielversprechend. Das Wetter war in den letzten drei Tagen einfach herrlich. Nicht ein einziges Mal lag die Temperatur in dieser Zeit unter minus 5 Grad. Während ich dies schreibe, zeigt das Thermometer ein Grad mehr an. Das Blau des Himmels ist wie das, wovon Maler träumen, und in diesem Blau türmen sich Wolkenformationen auf, die in den Schatten violett gefärbt und unbeschreiblich schön sind. Wenn man vergessen könnte, dass nichts außer den spärlichen Nahrungsvorräten auf unseren Schlitten zwischen uns und einem schrecklichen Tod stehen, dann könnte man meinen, man befände sich in einem Märchenland – einem herrlichen Märchenland in Weiß, Blau und Violett. Ein Märchenland? Warum ist mir dieser Gedanke so oft in den Sinn gekommen? Warum habe ich diese trostlose, schreckliche Gegend so oft mit dem Märchenland verglichen? Schrecklich? Ja, für die Menschen ist sie schrecklich – schrecklicher als Worte es ausdrücken können. Aber obwohl sie für die Menschen so unsagbar schrecklich ist, ist sie es objektiv gesehen vielleicht gar nicht. Sind denn alle Dinge, unsere Erde, ganz zu schweigen vom Universum, überhaupt für den Menschen gemacht? Für eine Kreatur (ein gottähnlicher Geist im Körper eines Affen), die inmitten von Wundern in Wahnsinn und Hass schwelgt und sich im Dreck von tausend Begierden suhlt? Kann es nicht andere Wesen geben – ja, sogar auf dieser unserer Erde –, die wunderbarer und auch schrecklicher sind als er? Weiß der Himmel, mehr als einmal habe ich in dieser Trostlosigkeit aus Schnee und Eis ihre Anwesenheit in der Luft um uns herum gespürt – namenlose Wesen, körperlos, die alles beobachten. Kein Wunder, dass mir immer wieder die seltsamen Worte des großen amerikanischen Wissenschaftlers Alexander Winchell in den Sinn kamen: „Leben ist weder von warmem Blut noch von einer Temperatur abhängig, die den Organismus der Umgebung anpasst. Es mag Intelligenzen geben, die so konstruiert sind, dass die Prozesse der Nahrungsaufnahme, Assimilation und Reproduktion nicht notwendig sind. Solche Körper bräuchten keine tägliche Nahrung und Wärme. Sie könnten in den Abgründen des Ozeans existieren, auf einer stürmischen Klippe die Stürme eines arktischen Winters überstehen oder hundert Jahre lang in einem Vulkan vegetieren und dennoch ihr Bewusstsein und ihre Gedanken behalten.“
All das ist laut Winchell denkbar, und er fügt hinzu:
„Lebendige Körper sind lediglich die lokale Anpassung der Intelligenz an bestimmte Modifikationen der universellen Materie.“
Und diese Wesenheiten, diese namenlosen Dinge, deren Anwesenheit ich manchmal zu spüren scheine – sind sie gütige Wesen oder Dinge, die furchterregender sind, als selbst der Wahnsinn eines menschlichen Gehirns sie je erschaffen hat?
Aber ich muss jetzt damit aufhören. Wenn Sutherland oder Travers lesen würden, was ich hier niedergeschrieben habe, würden sie denken, dass ich den Verstand verliere, oder sie würden mich bereits für verrückt erklären. Doch so wie es einen Himmel über uns gibt, glaube ich auch, dass an diesem schrecklichen Ort noch andere Wesen als uns und unsere Hunde existieren – Dinge, die wir nicht sehen können, die uns jedoch beobachten.
Genug davon.
Nur noch fünfzehn Meilen bis zum Pol. Jetzt wird geschlafen und morgen früh geht es weiter zum Ziel. Morgen! Hier gibt es kein Morgen, sondern einen unendlichen Tag. Die Sonne steht jetzt um Mitternacht genauso hoch wie um die Mittagszeit. Natürlich gibt es kleine Höhenunterschiede, aber die sind so gering, dass sie ohne Messinstrument nicht wahrnehmbar sind.
Aber der Pol! Morgen der Pol! Was werden wir dort finden? Nur eine ununterbrochene weiße Fläche, oder ...


4. Januar – Das Geheimnisvolle, das Grauenvolle dieses Tages – oh, wie könnte ich es jemals niederschreiben? Die Stunden, die wir gerade hinter uns gebracht haben, waren so schrecklich, dass ich mich manchmal frage, ob das nicht alles nur ein Traum war. Ein Traum! Ich wünschte, es wäre nur ein Traum gewesen! Aber ich muss mir solche Gedanken aus dem Kopf schlagen.
Wir sind früh losgefahren. Das Wetter war wundervoller als je zuvor. Der Himmel war so azurblau, dass ein Maler in Ekstase geraten wäre. Die Wolkenformationen: unbeschreiblich schön und großartig. Voranzukommen war jedoch ziemlich schwierig. Alles eine große Ebene, die sich eintönig und gleichförmig ausbreitet, so weit das Auge reicht. Eine Ebene, die noch nie von einem Menschen betreten wurde ... Oder doch? Als wir uns dem Pol näherten, bekamen wir eine Antwort auf diese Frage. Travers’ scharfe Augen entdeckten ein Objekt, das sich vom blendenden Weiß des Schnees abhob.
In diesem Moment schob Sutherland seine bernsteinfarben getönte Brille in die Stirn und hielt das Fernglas an die Augen.
„Steinhaufen!“, rief er aus, und seine Stimme klang hohl und sehr seltsam. „Ein Steinhaufen oder ein Zelt. Jungs, sie sind uns am Pol zuvorgekommen!“
Er reichte Travers das Glas und lehnte sich, als hätte ihn eine plötzliche Müdigkeit überfallen, gegen die Proviantkisten auf seinem Schlitten.
„Geschlagen!“, seufzte er. „Geschlagen!“
In diesem Moment der schrecklichen Enttäuschung tat mir unser tapferer Anführer ziemlich leid. Ich wusste beim besten Willen nicht, was ich sagen sollte. Also sagte ich nichts.
Plötzlich verdeckte eine Wolke die Sonne, und der Ort, an dem wir standen, wurde in eine tiefe und unheimliche Finsternis gehüllt. Die Veränderung war so abrupt und markant, dass wir uns neugierig und verwundert umsahen. In der Ferne, rechts und links, leuchtete die Ebene weiß und blendend. Doch bald war auch dort der letzte Sonnenstrahl verschwunden. Ich hob meinen Blick zum Himmel. Hier und da flammten die Wolkenränder auf, als würden sie wie vom Licht eines wütenden Feuers verzehrt. Doch auch dieses Licht verblasste allmählich. Nach ein paar Minuten war auch der letzte Schimmer der Sonne verschwunden. Die Düsternis um uns herum schien sich jeden Moment zu vertiefen. Ein seltsamer Dunst verdeckte die blaue Weite des Himmels über uns. In dieser finsteren und beklemmenden Atmosphäre gab es nicht die geringste Bewegung. Es herrschte eine schreckliche Stille der völligen Ödnis und des Todes.
„Was um alles in der Welt ist denn jetzt los?“, fragte Travers.
Sutherland stand von seinem Schlitten auf und blickte in die unheimliche Finsternis.
„Seltsame Wandlung“, sagte er. „Gustave Doré wäre begeistert gewesen.“
„Es gibt höchstwahrscheinlich einen Schneesturm“, bemerkte ich. „Sollten wir nicht lieber unser Lager aufschlagen, bevor er uns trifft? Wir wissen ja nicht, wie schlimm Schneestürme an diesem verfluchten Ort sein können.“
„Schneesturm?“, echote Sutherland. „Ich glaube nicht, dass das ein Schneesturm ist, Bob. Aber man weiß ja nie. Auf jeden Fall seltsam. Und wie anders die Gegend jetzt aussieht, in dieser seltsamen Düsternis!“
Er wandte seinen Blick zu Travers.
„Und, Bill“, fragte er, „was hältst du davon?“
Er winkte in Richtung des geheimnisvollen Objekts, dessen Anblick uns so plötzlich zum Stehen gebracht hatte. Ich sage in die Richtung des Objekts, denn das Ding selbst war nicht mehr zu sehen.
„Ich glaube, es ist ein Zelt“, gab Travers zurück.
„Naja“, meinte unser Leiter, „wir werden bald rausfinden, was es ist. Steinhaufen oder Zelt – eines von beiden wird‘s schon sein.“
Im nächsten Moment wurde die lastende Stille durch den scharfen Knall seiner Peitsche unterbrochen.
„Vorwärts, ihr Tölen!“, rief er. „Wir fahren weiter, um zu sehen, was da drüben ist. Wir sind am Südpol! Mal sehen, wer uns zuvorgekommen ist.“
Aber die Hunde wollten nicht weiter, was mich überhaupt nicht wunderte, denn sie zeigten schon seit einiger Zeit Anzeichen einer seltsamen, unerklärlichen Unruhe. Was war nur in die Tiere gefahren? Eine Zeit lang rätselten wir herum, dann wussten wir, was es war, obwohl die Erklärung für ihr Verhalten immer noch unklar blieb. Sie fürchteten sich. Furcht? Das war ein viel zu schwaches Wort dafür. Es war namenlose Angst, die die armen Tiere befallen hatte. Aber woher kam sie? Auch das wussten wir bald. Das, wovor sie sich fürchteten, was auch immer es war, befand sich genau in der Richtung, in die wir unterwegs waren!
Ein Steinhaufen, ein Zelt? Was hatte dieses Ding zu bedeuten?
„Was ist bloß mit den Viechern los?“, rief Travers.
Wieder setzten wir uns mit den widerstrebenden Tieren in Bewegung. Der Ort lag immer noch in dieser seltsamen, unheimlichen Düsternis. Die Stille war immer noch die schreckliche Stille der Verlassenheit und des Todes.
Langsam, aber stetig bewegten wir uns vorwärts und trieben die zögernden, ängstlichen Hunde mit unseren Peitschen an.
Endlich rief Sutherland, der uns voranfuhr, dass er etwas erkennen konnte. Er hielt an und spähte nach vorne in die Dunkelheit, und wir trieben unsere Gespanne neben seins.
„Muss ein Zelt sein.“
Es war tatsächlich ein kleines Zelt, das von einem einzigen Bambusstab getragen wurde und in alle Richtungen gut abgespannt war. Es bestand aus einfarbiger Leinwand. An der Spitze der Zeltstange war eine weitere Stange befestigt. Daran hingen die Reste einer kleinen norwegischen Flagge und darunter ein Wimpel mit der Aufschrift „FRAM“, der regungslos in der Luft hing. Das Zelt von Amundsen!
[Fram hieß das Schiff der Amundsen-Expedition. Anm. des Übers.]
Was würden wir darin finden? Und was hatte es mit der seltsamen Ausbuchtung auf der einen Seite auf sich?
Der Eingang war sicher verschnürt. Das Zelt, so viel stand fest, hatte ein Jahr lang hier gestanden, die ganze lange antarktische Nacht hindurch, und doch war zu unserem Erstaunen nur wenig Schnee um das Zelt herum aufgetürmt. Die Erklärung dafür ist wohl, dass die Winde, bevor sie den Pol erreicht haben, fast den gesamten Schnee schon vorher verteilt haben.
Einige Minuten lang standen wir einfach nur da, und eine Menge zum Teil furchtbarer Gedanken gingen uns durch den Kopf. Es stand hier die ganze lange antarktische Nacht hindurch! Was für seltsame Dinge würde uns dieses Zelt erzählen, wenn sprechen könnte! Manches würde es uns auch so preisgeben. Denn was war das da drinnen, das die Zeltwand auf so unerklärliche Weise ausbeulte? Ich neigte mich nach vorn, um es mit meinen Handschuhen zu ertasten, aber aus irgendeinem Grund, den ich mir nicht erklären kann, wich ich plötzlich zurück. In diesem Moment heulte einer der Hunde – ein so seltsames Geräusch, und der Schrecken des Tieres war so unverkennbar, dass ich erschauderte. Auch andere Hunde begannen auf diese seltsame Weise zu heulen, und alle wichen bedrückt vor dem Zelt zurück.
„Was hat das zu bedeuten?“, fragte Travers, wobei seine Stimme fast zu einem Flüstern sank. „Seht sie euch an. Es ist, als würden sie uns anflehen, da wegzubleiben.“
„Wir sollen uns auch fernhalten“, bestätigte Sutherland, wobei sein Blick von den Hunden wegschweifte und sich wieder auf das Zelt richtete.
„Ihre Sinne“, vermutete Travers, „sind schärfer als unsere. Sie wissen bereits, was wir nicht ahnen, bevor wir es sehen.“
„Was sehen?!“, rief Sutherland. „Das ist die Frage! Jungs, was werden wir sehen, wenn wir in dieses Zelt schauen? Die armen Kerle! Sie haben den Pol erreicht. Aber haben sie ihn je wieder verlassen? Werden wir sie da drin tot finden?“
„Tot?“, krächzte Travers in einem plötzlichen Aufschrei. „Die Hunde würden sich nicht so verhalten, wenn nur eine Leiche drin wäre. Und außerdem, wenn diese Theorie stimmt, wo sind ihre Schlitten? Seht euch doch um. In dieser platten Ebene müsste auch ein eingeschneiter Schlitten noch gut sichtbar sein.“
„Stimmt“, gab unser Anführer zu. „Was kann das bedeuten? Wie kann sich das Zelt so ausbeulen? Tja, das Rätsel ist leicht zu lösen. Wir müssen nur reinschauen.“
Er trat an den Eingang, gefolgt von Travers und mir, und begann, ihn zu öffnen. In diesem Moment strömte ein eisiger Luftzug über den Ort, und der Wimpel über unseren Köpfen flatterte mit einem dumpfen, unheilvollen Geräusch. Einer der Hunde streckte seine Schnauze in den Himmel, und ein tiefes, langgezogenes Heulen ertönte. Und während der klagende, wilde Klang noch die Luft erfüllte, geschah etwas Seltsames.
Durch einen plötzlichen Riss in dem düsteren Wolkenvorhang schickte die Sonne ein goldenes, schreckliches Licht auf die Stelle, an der wir standen. Es war ein Lichtstrahl, der nur hundert Meter breit war, obwohl er meilenweit reichte, und wir standen genau in seiner Mitte, während die Ebene zu beiden Seiten in die seltsame Düsternis gehüllt war, die jetzt im Kontrast zu dem Schwert aus goldenem Feuer, das so plötzlich über den Schnee geschleudert worden war, dichter und unheimlicher wirkte als je zuvor.
„Seltsamer Effekt!“, meinte Travers. „Wie ein Scheinwerfer, der eine Bühne beleuchtet.“
Travers’ Gleichnis war ziemlich treffend, mehr als er sich vielleicht selbst hatte träumen lassen. Dieser Ort war eine Bühne, unser Licht das zornige Feuer der antarktischen Sonne und wir selbst Schauspieler in einer Szene, die bizarrer war als alles, was man je in der Welt des Theaters gesehen hatte.
Einige Augenblicke lang standen wir da und schauten uns verwundert um, und vielleicht empfand jeder von uns insgeheim ein wenig Ehrfurcht.
„Na gut, das ist komisch!“, murmelte Sutherland. „Aber ...“
Er lachte auf. Oben knatterte der Wimpel im Wind, ein hohles und geisterhaftes Geräusch. Wieder ertönte das langgezogene, klagende Heulen des Hundes.
„Aber“, fügte unser Leiter hinzu, „man kann‘s auch übertreiben. Am Ende bildet man sich noch Dinge ein ...“
„Quatsch“, protestierte Travers.
„Wir doch nicht“, stimmte ich zu.
Endlich war der Eingang offen, und Sutherland hatte Kopf und Schultern hineingesteckt.
Ich weiß nicht, wie lange er so dastand. Vielleicht waren es nur ein paar Sekunden, aber Travers und mir kam es ziemlich lang vor.
„Was ist los?“, rief Travers schließlich. „Was siehst du?“
Die Antwort war ein Schrei – das Grauenhafte dieses Geräusches werde ich nie vergessen – und Sutherland taumelte zurück und wäre, glaube ich, gestürzt, wenn wir nicht hingesprungen wären und ihn aufgefangen hätten.
„Was ist los?“, schrie Travers. „Um Gottes Willen, Sutherland, was hast du gesehen?“
Sutherland schlug sich mit der Hand an den Kopf, und sein Blick war wild und schreckgeweitet.
„Was ist?“, rief ich. „Was hast du da drinnen gesehen?“
„Ich kann es nicht sagen – ich kann es nicht! Oh, ich wünschte, ich hätte es nie gesehen! Seht nicht hin! Jungs, schaut nicht in das Zelt – es sei denn, ihr wollt verrückt werden – oder schlimmeres!
„Was ist das für ein Kauderwelsch?“, fragte Travers und starrte unseren Anführer entgeistert an. „Komm schon, Mann! Reiß dich zusammen! Hör mit diesem Unsinn auf! Warum sollte uns der Anblick von ein paar toten Männern verrückt machen?“
„Tote Männer?“ Sutherland lachte, es klang wild und wahnsinnig.
„Tote Männer? Wenn es nur das wäre! Ist das der Südpol? Ist das die Erde, oder sind wir in einem Albtraum auf einem anderen Planeten?“
„Um Himmels willen“, schrie Travers, „komm wieder runter! Was ist denn in dich gefahren? Jetzt lass dich nicht so gehen!“
„Ein toter Mann?“, wiederholte unser Anführer und blickte Travers ins Gesicht. „Du denkst, ich habe einen toten Mann gesehen? Ich wünschte, es wäre nur ein toter Mann gewesen. Zum Glück habt ihr beide nichts gesehen!“
Abrupt drehte sich Travers um.
„Also“, sagte er entschlossen, „ich schau jetzt nach!“
Doch Sutherland schrie auf, sprang hinter ihm her und versuchte, ihn zurück zu ziehen.
„Das würde Wahnsinn bedeuten!“, brüllte er. „Sieh mich an. Willst du so enden wie ich?“
„Werd ich nicht!“, brüllte Travers zurück. „Ich schau jetzt nach, was in diesem Zelt ist.“
Er versuchte, sich loszureißen, aber Sutherland klammerte sich völlig außer sich an ihn.
„Hilf mir, Bob!“, rief Sutherland. „Halt ihn auf, sonst werden wir alle verrückt!“
Aber ich half ihm nicht, Travers zurückzuhalten, denn ich glaubte natürlich, dass Sutherland selbst wahnsinnig war. Dann hielt Sutherland Travers nicht mehr. Mit einem plötzlichen Ruck war er frei. Im nächsten Moment stieß er mit dem Kopf und den Schultern ins Innere des Zeltes.
Sutherland stöhnte auf und beobachtete ihn mit unsagbar entsetzten Blicken.
Ich bewegte mich auf den Eingang zu, aber Sutherland stürzte sich mit solcher Wucht auf mich, dass ich in den Schnee gestoßen wurde. Voller Wut sprang ich auf.
„Was zum Teufel ist eigentlich los mit dir? Bist du übergeschnappt?“
Zur Antwort kam nur ein Stöhnen, das jenseits aller menschlichen Worte lag, aber dieser Laut kam nicht von Sutherland. Ich drehte mich um. Travers taumelte vom Eingang weg, eine Hand auf sein Gesicht gepresst, und aus der Tiefe seiner Kehle drangen Laute, die ich nicht beschreiben kann. Als der Forscher auf ihn zu taumelte, streckte Sutherland einen Arm aus und berührte Travers leicht an der Schulter. Der Effekt kam prompt und erschreckend. Travers sprang zur Seite, als hätte eine Schlange nach ihm geschnappt, und schrie. Und schrie noch einmal.
„Na, bitte!“, sagte Sutherland sanft. „Ich hab dir gesagt, du sollst es lassen. Ich hab versucht, dir das klarzumachen, aber du dachtest, ich sei verrückt!“
„Das kann nicht auf diese Erde gehören!“, stöhnte Travers.
„Nein“, sagte Sutherland. „Dieses Grauen wurde nie auf unserem Planeten geboren. Und die Erdenbewohner, auch wenn sie nichts davon wissen, können Gott dem Allmächtigen dafür danken.“
„Aber es ist hier!“, schrie Travers. „Wie ist es an diesen schrecklichen Ort gekommen? Und woher stammt es?“
„Immerhin“, tröstete Sutherland, „ist es tot. Es muss tot sein.“
„Tot? Woher sollen wir wissen, dass es tot ist? Und vergiss nicht: Es ist nicht allein hierhergekommen!“
Sutherland schreckte auf. In diesem Moment verschwand das Sonnenlicht und alles war wieder in Dunkelheit getaucht.
„Was meinst du?“, krächzte Sutherland. „Nicht allein? Woher weißt du, dass es nicht allein gekommen ist?“
„Na, es ist im Zelt. Aber der Eingang wurde verschnürt – von außen!“
„Ich Idiot!“, schrie Sutherland wütend. „Warum habe ich nicht daran gedacht? Nicht allein! Natürlich war es nicht allein!“
Er blickte in die Düsternis, und ich kannte nun die namenlose Angst und das Entsetzen, die ihn bis ins Innerste erschütterten, denn sie erschütterten auch mich.
Plötzlich ertönte wieder das klägliche, wilde Heulen des Hundes. Wir drei Männer zuckten zusammen, als wäre es die Stimme eines Ungeheuers aus der schrecklichsten Tiefe der Hölle.
„Halt‘s Maul, du Mistvieh!“, knirschte Travers. „Halt‘s Maul, oder ich mach dich fertig!“
Ob es Travers‘ Drohung war oder nicht, weiß ich nicht, aber das Heulen verstummte fast augenblicklich. Wieder lag die Stille der Ödnis und des Todes über dem Ort. Nur über dem Zelt bewegte sich der Wimpel und raschelte, und das Geräusch erschien mir wie das Schlängeln einer widerlichen Schlange.
„Was habt ihr da drinnen gesehen?“, fragte ich sie.
„Bob … Bob …“, flehte Sutherland, „bitte frag uns das nicht.“
„Das Ding“, sagte ich und drehte mich um, „kann nicht schlimmer sein als das, was mir meine Einbildung später in den Alpträumen zeigt, wenn ich‘s nicht sehe.“
Aber die beiden stellten sich vor mich und versperrten mir den Weg.
„Nein!“, erklärte Sutherland fest. „Du darfst nicht in dieses Zelt schauen, Bob. Du darfst es nicht sehen, dieses – ich weiß nicht, wie ich es nennen soll. Vertrau uns, glaub uns, Bob! Wir sagen es dir zuliebe, lass die Finger davon. Wir, Travers und ich, werden nie wieder dieselben sein – unser Verstand und unsere Seele werden nie wieder das sein, was sie vor dem Anblick waren!“
„Na gut“, stimmte ich zu. „Aber ganz ehrlich – mir kommt die ganze Sache wie der Traum eines Verrückten vor.“
„Wenn du willst“, murmelte Sutherland. „Belass es doch dabei. Glaube daran, dass es der Traum eines Verrückten ist. Glaube, dass wir wahnsinnig sind. Glaube meinetwegen, dass du selbst wahnsinnig bist. Glaub, was du willst. Aber sieh nicht rein!“
„Schön!“, gab ich nach. „Ich werde nicht hinsehen. Ich gebe mich geschlagen. Ihr zwei habt einen Feigling aus mir gemacht.“
„Einen Feigling?“, krächzte Sutherland. „Red keinen Unsinn, Bob. Es gibt Dinge, die ein Mensch niemals kennenlernen sollte; Dinge, die ein Mensch niemals sehen sollte; das Grauen dort in Amundsens Zelt gehört dazu!“
„Aber du hast gesagt, dass es tot ist.“
Travers stöhnte auf. Sutherland lachte schallend.
„Vertrau uns“, sagte er, „glaub uns, Bob. Es ist nur zu deinem Besten und hat nichts mit uns zu tun. Für uns ist es jetzt zu spät. Wir haben es gesehen und du nicht.“
Einige Minuten lang standen wir in dieser unheimlichen Düsternis vor dem Zelt, dann drehten wir uns um und verließen den verfluchten Ort. Ich sagte, dass Amundsen zweifellos einige Aufzeichnungen im Zelt hinterlassen hatte, dass auch Scott vermutlich den Pol erreicht und das Zelt entdeckt hatte und dass wir alle diese Erinnerungsstücke sicherstellen sollten. Sutherland und Travers nickten, aber beide erklärten, dass sie ihren Kopf nie wieder durch den Eingang stecken würden, und wenn alle Schätze Indiens darinnen lägen – oder ähnliches Zeug in diesem Sinne. Wir müssten, sagten sie, weg von diesem schrecklichen Ort – zurück in die Welt der Menschen, um ihnen unsere furchtbare Botschaft mitzuteilen.
„Mir wollt ihr nicht sagen, was ihr gesehen habt, und doch wollt ihr zurückkehren, damit ihr es der Welt erzählen könnt?“
„Wir werden der Welt nicht erzählen, was wir gesehen haben“, antwortete Sutherland. „Erstens könnten wir das nicht und zweitens würde uns, wenn wir es könnten, kein Mensch glauben. Aber wir müssen die Menschen warnen, denn das Ding da drinnen kam nicht allein. Wo ist das andere – oder die anderen?“
„Auch tot, wollen wir hoffen!“, rief ich aus.
„Amen!“, sagte Sutherland. „Aber vielleicht ist es gar nicht tot, wie Bill sagt. Wahrscheinlich –“
Sutherland hielt inne, und ein wilder, unbeschreiblicher Ausdruck trat in seine Augen.
„Vielleicht – kann es gar nicht sterben!“
„Wahrscheinlich“, sagte ich lässig, aber mit heimlicher Verachtung und großer Sorge um meine Kollegen.
Was hätte das für einen Sinn gehabt, zu widersprechen? Was würde es bringen, mit ein paar Verrückten zu diskutieren? Ja, wir müssen weg von diesem Ort, sonst machen sie mich auch noch wahnsinnig. Und der lange Weg zurück? Können wir den jetzt überhaupt noch schaffen? Und was hatten sie gesehen? Welches unvorstellbare Grauen befand sich hinter der dünnen Wand aus Zeltleinen? Nun, was immer es war, es war real. Daran konnte ich nicht den geringsten Zweifel hegen. Real genug, um den starken Verstand von zwei starken Männern praktisch augenblicklich zu zerstören. Aber – waren meine armen Begleiter wirklich verrückt?
„Oder vielleicht“, sagte Sutherland, „sind das andere, oder die anderen, zurück zur Venus oder zum Mars oder zum Sirius oder zum Algol oder zur Hölle selbst, oder wo auch immer sie herkommen, um mehr von ihrer Sorte zu holen. Wenn das so ist, dann habe der Himmel Mitleid mit der armen Menschheit! Und wenn sie noch hier auf der Erde sind, dann wird die Welt früher oder später – vielleicht in einem Dutzend Jahren, vielleicht in einem Jahrhundert – davon erfahren, zu ihrem Leidwesen und zu ihrem Entsetzen. Denn wenn sie leben, werden sie wiederkommen.“
„Ich dachte gerade ...“, begann Travers und blickte auf das Zelt.
„Ja?“, hakte Sutherland nach.
„Ich dachte“, sagte Travers, „dass es vielleicht ein guter Plan wäre, mit dem Gewehr auf das Ding zu schießen. Vielleicht ist es nicht tot, vielleicht kann es nicht sterben. Vielleicht hält es auch nur einen Winterschlaf, sozusagen.“
„Wenn das so ist“, lachte ich, „dann wird es wahrscheinlich bis zum Jüngsten Tag Winterschlaf halten.“
Keiner meiner Gefährten lachte mit.
„Oder“, meinte Travers, „es könnte ein Dämon sein, ein materialisierter Geist ...“
„Ein materialisierter Geist!“, rief ich. „Aber ist das im Grunde nicht jeder Mann oder jede Frau? Weiß der Himmel, manch einer benimmt sich auch wie ein Dämon oder ein leibhaftiger Teufel.“
„Mag sein“, nickte Sutherland. „Aber diese Hypothese hilft uns hier nicht weiter.“
„Vielleicht hilft sie uns ein wenig“, sagte Travers und ging zu seinem Schlitten.
Nach einigen Augenblicken hatte er das Gewehr herausgeholt.
„Ich dachte“, sagte er, „dass mich nichts jemals zu diesem Eingang zurückbringen würde. Aber die Hoffnung, dass ich vielleicht ...“
Sutherland stöhnte auf.
„Es ist nicht irdisch, Bill“, sagte er heiser. „Es ist ein Albtraum. Ich denke, wir sollten jetzt besser gehen.“
Travers machte sich auf den Weg – direkt zum Zelt.
„Komm zurück, Bill!“, stöhnte Sutherland. „Komm zurück! Lass uns abhauen, solange wir es noch können.“
Aber Travers kam nicht zurück. Langsam bewegte er sich vorwärts, das Gewehr vor sich ausgestreckt, den Finger am Abzug. Er erreichte das Zelt, zögerte einen Moment, dann stieß er den Gewehrlauf durch. So schnell er Abzug und Hebel betätigen konnte, entleerte er die Waffe ins Zelt – in das Grauen darin.
Er wirbelte herum und wich zurück, als hätte er Angst, dass die Öffnung hinter ihm alle Legionen der Hölle ausspucken würde.
Was war das? Das Blut schien in meinen Adern und in meinem Herzen zu gefrieren, als sich aus dem Zelt ein Geräusch erhob – ein leises, pochendes Geräusch – ein Geräusch, das kein Mensch auf dieser Erde je gehört hat – ein Geräusch, das hoffentlich auch kein Mensch je wieder hören wird.
Eine Panik, ein Wahnsinn ergriff uns, Männer und Hunde gleichermaßen, und wir flohen von diesem verfluchten Ort.
Das Geräusch verstummte. Aber bald hörten wir es wieder. Es war noch furchterregender, unheimlicher, wahnsinniger und höllischer als zuvor.
„Seht!“, schrie Sutherland. „Oh, mein Gott, seht euch das an!“
Das Zelt war jetzt kaum noch zu sehen. Ein oder zwei Augenblicke, und der Vorhang der Finsternis würde es verdecken. Zuerst konnte ich mir nicht vorstellen, was Sutherland dazu gebracht hatte, so aufzuschreien. Dann sah ich es, genau in dem Moment, bevor die Dunkelheit es verdeckte. Das Zelt bewegte sich! Es schwankte und zuckte wie ein gestaltloses Ungeheuer im Todeskampf, wie ein namenloses Ding, das man in einem Albtraum gesehen hat oder das einem im Delirium erscheint.
Das war‘s. Ich habe es in aller Ausführlichkeit und nach bestem Wissen und Gewissen unter den wahrhaft furchtbaren Umständen, in denen ich mich befinde, niedergeschrieben. Auf diesen hastig hingekritzelten Seiten ist eine Erfahrung festgehalten, die, glaube ich, auch nicht von den wildesten Erlebnissen übertroffen wird, die man auf den Seiten der fantasievollsten Roman-Phantasten findet. Ob diese Aufzeichnungen jemals die Welt erreichen werden, ob sie jemals von einem anderen Auge überflogen werden, kann nur die Zukunft beantworten.
Ich werde versuchen, optimistisch zu sein. Ich kann jedoch nicht die Augen vor der Tatsache verschließen, dass es ziemlich schlecht um uns steht. Es ist nicht nur dieses düstere, namenlose Geheimnis, vor dem wir fliehen – obwohl das weiß Gott schrecklich genug ist – sondern es sind die Gedanken meiner Gefährten. Dazu kommt noch die Angst um mich selbst. Aber jetzt muss ich mich wieder einkriegen. Wie Sutherland schon sagte, ich habe es nicht gesehen. Ich darf nicht schwach werden. Wir müssen unsere Geschichte irgendwie in die Welt bringen, auch wenn wir dafür nur Spott ernten – Spott von einer Welt, gegen die sich jetzt eine Bedrohung zusammenbraut, die schrecklicher ist als alles, was je das fiebrige Hirn eines Unheil-Propheten ausgebrütet hat.
Wir sind jetzt etwa ein Dutzend Meilen vom Pol entfernt. Bei der überstürzten Flucht vor dem Zelt des Schreckens haben wir die Orientierung verloren und eine Zeit lang, so fürchte ich, sind wir in Panik geraten. Die unheimliche Düsternis war dichter denn je. Dann fielen feine Schneekristalle, die alles noch schlimmer machten. Gerade als wir verzweifelt aufgeben wollten, entdeckten wir zufällig einen unserer errichteten Signalpunkte. Das gab uns die Orientierung wieder, und wir langten bald dort an.
Travers hat gerade seinen Kopf ins Zelt gesteckt, um uns zu sagen, dass er sicher ist, etwas in der Dunkelheit gesehen zu haben. Etwas bewegt sich da draußen! Das muss untersucht werden.


[Hätte Robert Drumgold doch nur einen so ausführlichen Bericht über die folgenden Tage hinterlassen, wie er ihn über den schrecklichen 4. Januar geschrieben hat! Niemand wird je erfahren, was die drei Entdecker durchmachten, um einem Schicksal zu entkommen, vor dem es kein Entrinnen gab einem Schicksal, dessen Horror vielleicht alles übertrifft, was sich die schrecklichste Gothic-Fantasie je ausgemalt hat.]


5. Januar – Travers hat wirklich etwas gesehen, denn wir drei sahen es heute wieder. War es das Ding, das nicht von dieser Erde ist, das die beiden in Amundsens Zelt sahen? Wir wissen nicht, was es ist. Wir wissen nur, dass es etwas ist, das sich bewegt. Habe Gott Erbarmen mit uns allen – mit jedem Mann, jeder Frau und jedem Kind auf dieser Erde, wenn es dieses Ding ist, vor dem wir uns fürchten!


6. Januar – Heute 25 Meilen gefahren, gestern 20. Ich habe es heute nicht gesehen. Aber ich habe es gehört. Es schien ganz nah zu sein – einmal quasi direkt neben uns. Aber das muss Einbildung gewesen sein. Die Auswirkungen auf die Hunde sind schrecklich. Die armen Viecher! Für sie ist es genauso schrecklich wie für uns. Manchmal, denke ich, sogar noch schrecklicher. Warum verfolgt es uns?


7 Januar – Zwei der Hunde sind heute Morgen verschwunden. Jeder von uns hat die ganze „Nacht“ Wache gehalten. Nichts gesehen, kein Geräusch gehört, doch die Tiere sind verschwunden. Haben sie uns verlassen? Wir sagen, dass es so ist, aber jeder von uns weiß, dass keiner daran glaubt. 18 Meilen geschafft. Wir befürchten, dass Travers wirklich verrückt geworden ist.


8. Januar – Travers ist weg! Er hat letzte Nacht um 12 Uhr die Wache übernommen und Sutherland abgelöst. Das war das letzte Mal, dass wir Travers gesehen haben – und das letzte Mal, dass wir ihn jemals sehen werden. Keine Spuren – kein einziges Zeichen im Schnee. Travers, der arme Travers, ist tot! Wer wird der Nächste sein?


9. Januar Ich habe es wieder gesehen! Warum lässt es sich manchmal blicken? Ist es das Grauen in Amundsens Zelt? Sutherland erklärt, dass es das nicht ist, dass es etwas Höllischeres ist. Aber S. ist jetzt auch verrückt – verrückt – verrückt – verrückt. Wenn ich nicht absolut zurechnungsfähig wäre, würde ich denken, dass das alles nur Einbildung ist. Aber ich habe es gesehen!


11. Januar Ich glaube, es ist der 11. Januar, bin mir aber nicht sicher. Ich bin mir bei nichts mehr sicher – außer, dass ich allein bin und dass es mich beobachtet. Ich weiß nicht, woher ich das weiß, denn ich kann es nicht sehen. Aber ich weiß, dass es mich beobachtet. Es beobachtet mich immer. Und irgendwann wird es kommen und mich holen – so wie es Travers und Sutherland und die Hälfte der Hunde geholt hat.
Ja, heute muss der 11. sein. Denn gestern – es war sicher erst gestern – hat es Sutherland geholt. Ich habe nicht gesehen, wie es ihn geholt hat, denn es war Nebel aufgezogen und Sutherland – wir marschierten durch diesen Nebel weiter – folgte so langsam, dass ich ihn im Dunst nicht mehr sehen konnte. Als er schließlich nicht mehr aufholte, ging ich zurück. Aber S. war weg – Mann, Hunde, Schlitten, alles weg. Armer Sutherland! Aber er war ja auch verrückt. Wahrscheinlich war das der Grund, warum es ihn erwischt hat. Hat es mich verschont, weil ich noch bei Verstand bin? S. hatte das Gewehr. Immer klammerte er sich an das Gewehr – als ob eine Kugel ihn vor dem Ding retten könnte! Meine einzige Waffe ist eine Axt. Aber wozu ist eine Axt gut?


13. Januar – vielleicht ist es der 14. Ich weiß es nicht. Was macht das schon? Ich habe es heute dreimal gesehen. Jedes Mal war es näher dran. Die Hunde winseln immer noch um das Zelt. Da – wieder dieses furchtbare, höllische Geräusch. Die Hunde sind jetzt still. Wieder dieses Geräusch. Aber ich traue mich nicht hinauszuschauen. Die Axt.
Stunden später. Ich kann nicht mehr schreiben.
Stille. Stimmen – ich scheine Stimmen zu hören. Wieder dieses Geräusch.
Es kommt näher. Am Eingang jetzt – jetzt –


John Martin Leahy: In Amundsen’s Tent

Weird Tales 1928/1

Übersetzung: Matthias Käther © 2023

William F. Temple - Das Dreieck des Schreckens (1950)

 


William F. Temple
Das Dreieck des Schreckens

Ich gebe zu – die fortlaufende Lektüre eines durchgeknallten Magazins wie „Fantastic Adventures“ ist unterm Strich amüsanter als die der legendären Zeitschrift „Weird Tales“. Zwar mag das Niveau dort insgesamt höher sein, doch die schiere Abwechslung an Schrecken und Bedrohungen lässt in Weird Tales doch manchmal etwas zu wünschen übrig. Während man in „Fantastic Adventures“ wirklich nicht weiß, was als nächstes um die Ecke biegt, intelligente Termiten, neurotische Aliens oder eine fiese lebende Wandfarbe, ist das Arsenal des Schreckens in Weird Tales doch... na sagen wir mal: gediegen, aber überschaubar, vor allem in den späteren Jahrgängen. Doch es gibt bemerkenswerte Ausnahmen. Die folgende Geschichte beginnt, obwohl atmosphärisch dicht, recht konventionell, biegt dann aber in eine völlig unerwartete Richtung ab und präsentiert nicht nur eine gute Pointe, sondern gleich noch eine originelle Lösung für sämtliche paranormalen Vorgänge überhaupt …

Der Autor war Brite und betätigte sich gern auch auf dem amerikanischen Markt. Diese rare Erzählung ist nicht zu verwechseln mit seiner berühmtesten Novelle „Das vierseitige Dreieck“, die 1953 auch verfilmt wurde. Da geht es allerdings eher um moralische als um geometrische Probleme...

1.


Ich hatte an diesem Tag fast dreitausend Wörter geschrieben und im Rausch meiner Selbstzufriedenheit gestand ich mir ein, dass das Leben in ländlicher Abgeschiedenheit doch etwas für sich hatte.
In Bloomsbury kannten mich und meine Adresse viel zu viele Leute. Sie „schauten einfach so vorbei“, zu jeder Tages- und Nachtzeit, und nahmen keinerlei Rücksicht auf meine Arbeit. Sie gingen davon aus, dass ein Schriftsteller ohnehin nie arbeitete; seine Geschichten waren Dinge, die er einfach so in den seltsamsten Augenblicken hin und wieder mal aufs Papier brachte, ohne groß darüber nachzudenken. Etwa so, wie man Briefe schreibt.
Nach einer Reihe von Nächten mit wenig Schlaf, in denen ich versuchte, etwas von der Zeit zurückzugewinnen, die mir tagsüber gestohlen wurde, machte ich mich auf den Weg, weg von London und diesen Aufmerksamkeits-Vampiren, die sich meine Freunde nannten. Ich sorgte dafür, dass keiner von ihnen – außer Spencer – meine Adresse erfuhr, bis ich wieder bereit für sie war. Mit andern Worten: Wenn ich meinen Roman beendet hatte.
Spencer war kein Problem und hielt dicht. Denn er hatte keinen meiner anderen Freunde je zu Gesicht bekommen. Sie mieden ihn, weil er ...tja, seltsam war. Exzentrisch. In seinem muffigen Wohn- und Schlafzimmer am Mecklenburgh Square lebte er in seiner eigenen Welt. Diese Seltsamkeit lag sofort spürbar in der Luft, sobald man sein Zimmer betrat, und sie wurde durch seine Anwesenheit noch verstärkt.
Er war ziemlich rundlich – warum, weiß ich nicht, denn ich habe ihn nie etwas essen sehen – und ich glaube, auch älter, als er aussah. Er sah aus wie Anfang sechzig. Es war recht schwierig, ein Gespräch mit ihm zu führen. Man hatte das Gefühl, dass er die ganze Zeit mit seinen Gedanken ganz woanders war und sich nur zeitweise daran erinnerte, dass man existierte.
Und das meiste, was er sagte, war kryptisch. Absichtlich kryptisch. Er hatte einen verschlagenen Verstand, der es liebte, Rätsel aufzugeben und einen zu verwirren. Oft habe ich ihn ermahnt: „Um Himmels willen, Spencer, red doch klar und vernünftig! Selbst mein Einkommensteuerbescheid ist besser zu verstehen als du.“
Aber wenn man ihn dann verstanden hatte, war es die Mühe immer wert. Er barg mehr seltsames Wissen in seinem Kopf, als Ripley sich erträumt hatte, als er damit begann, Enzyklopädien herauszugeben. Und er war voller überraschender kleiner Details, die mich oft ausrufen ließen: „Was für eine Story-Idee! . . .“
Auf diese Weise habe ich mit Spencer eine Menge Geld verdient. Vielleicht lag es daran, dass ich ihn als meinen besten Freund betrachtete.
Das eigentliche Grund, warum ich beschloss, auch in meinem einsamen Häuschen zwischen Stechginster und Kiefern in Surrey mit ihm in Kontakt zu bleiben, war die Tatsache, dass sich mein Roman mit mittelalterlicher Hexerei befasste und ich Schwierigkeiten bei ein oder zwei Kapiteln erwartete. Möglicherweise würde ich Spencers Wissensschatz über solche Dinge brauchen. Außerdem hatte er die beste Bibliothek mit Büchern über Okkultismus, die mir je untergekommen war. Ich war ihm erstmals bei einer früheren Suche nach Informationen über abgelegene Orte begegnet.
Aber ich wollte von dem Abend erzählen, als ich allein über die Heide von Surrey wanderte und mit der Arbeit des Tages sehr zufrieden war.
Es war ein Abend im Hochsommer, als die Atmosphäre schwül und still war und der Sonnenuntergang sie wärmer und drückender erscheinen ließ als in der Mittagshitze.
Die Luft war eine dicke, fast flüssige Substanz, aus der die Lungen nur schwer Sauerstoff ziehen konnten; fast so dick wie das Blut, das in den Schläfen pumpte und den Kopf heftig pochen ließ. Kopfschmerz-Wetter! Man sehnte sich nach einem Sturm, der die Spannung auflösen würde.
Irgendwann in dieser Nacht würde es Gewitter geben, denn am Horizont flackerten und wetterleuchtete es, und die Blitze und gaben lautlos seltsame Einblicke in ein unerwartetes Wolkenland, das dort draußen in der Dunkelheit lag.
Ich weiß nicht, ob es nur mir so geht, aber diese seltsamen, angespannten Sommerabende regen meine Fantasie mehr an als die kühlen Herbst- und Winternächte, die die romantischen Gothic-Autoren so lieben.
Keats beginnt ein Poem mit den Worten „In einer trostlosen Dezembernacht ...“. Und Poes Ulalume wird in einer „Nacht im einsamen Oktober“ zu ihrem Grab im „ von Ghulen heimgesuchten Wald von Weir“ getragen. und was den „Raben“ desselben Dichters betrifft, der „Nimmermehr!“ rief, dort heißt es - „Ah, ich erinnere mich genau, / an jenen trostlosen Dezember ...“

Nein, der Winter war lediglich physisch unangenehm. Eine heiße Gewitternacht wie diese schürte meine geistige Ruhelosigkeit. Unbehaglich spürte ich die unmittelbare Nähe von – irgendetwas. Ich spürte, wie sich die elektrische Ladung langsam, aber unerbittlich in der Luft um mich herum aufbaute und etwas Unbekanntes, etwas Dunkles und Feindseliges formte, das sowohl an Kraft zunahm als auch an Bewusstsein, dass es diese Kraft besaß, und mit dämonischer Anspannung auf die Stunde seiner Entfesselung wartete.
Verdammt, dachte ich, ich habe zu viel über diese Dinge nachgedacht. Das war wirklich der letzte Roman, den ich über das Okkulte schreiben würde. Das Problem bei einer solchen Beschäftigung ist, dass die Geschichte für einen selbst real wird, während man sie schreibt, und man dazu neigt, sich Hexenmeister und Werwölfe als Dinge vorzustellen, die man in einem unglücklichen Moment in einer dunklen Ecke des Kohlenkellers finden könnte. Vor allem, wenn man absichtlich in die Einsamkeit geflüchtet ist, um sich in sein Buch zu vertiefen.
Der Feuer meines Selbstbewusstseins war nun irgendwo zwischen diesen ungesunden Gedanken erstickt worden. Und ich war zu weit hinausspaziert und übermüdet. Der Zufluchtsort meiner Hütte schien mir plötzlich sehr begehrenswert, und ich zwang meine schweren Füße, ihr schleppendes Tempo zu beschleunigen.
Da war wieder der Kiefernwald, der sich wie ein Fleck Tusche vor der geringeren Dunkelheit der Nacht abhob. Hundert Meter weiter lag die Hütte, aber trotz meiner Ungeduld waren es die langsamsten hundert Meter, die ich in dieser einbrechenden Nacht zurücklegte. Selbst Charon, der Führer der Toten in der Unterwelt, wäre in dieser Finsternis über irgendetwas im Wald gestolpert. Das ferne Flackern der Blitze drang hier nicht durch.
Ich musste mich buchstäblich den Weg entlangtasten.
Dann hielt ich plötzlich überrascht inne, meine Hand auf dem Stamm einer Kiefer. Irgendwo vor mir schimmerte ein schwacher Lichtfleck – grünes Licht!
Während ich es beobachtete, bewegte es sich mit einer Art schrecklicher, bedächtiger Langsamkeit hin und her. Dann stand es still, und als ich es genauer betrachtete, entdeckte ich ein schwarzes Kreuz, das es sozusagen durchzog. Plötzlich verschwand das Licht und hinterließ bei mir die Erkenntnis, dass das schwarze Kreuz die Silhouette des Fensterkreuzes meines Häuschens gewesen war.
Jemand – oder etwas – befand sich in der Hütte. Mein Herz begann wie ein Zweitaktmotor zu rattern.
Dann kam bei mir die menschliche Angewohnheit, unerklärliche Dinge zu rationalisieren, zum Vorschein. Es war ein Glühwürmchen oder ein Irrlicht aus Sumpfgas aus dem Teich unweit der Hütte gewesen. Oder – bei diesem Wetter entstanden doch diese Lichtbälle aus Kugelblitzen, die manchmal aus Kaminen herabfallen und in Räumen herumschweben. Oder vielleicht war dort ein Landstreicher auf der Suche nach einem Bett oder nach Geld für ein Bett. Aber – mit grünem Licht?
Ich wartete eine Weile, aber das Phänomen kehrte nicht zurück. Ich hoffte, dass es, was auch immer es war, verschwunden war. Dann tastete ich mich die letzten Meter bis zur Tür vor und ging hinein.
In der Dunkelheit zündete ich ein Streichholz an und überblickte den Raum bei schwachem Licht. Die Worte „Ist jemand da?“ blieben mir in der Kehle stecken, denn es war offensichtlich, dass niemand da war.
Ich hielt die Flamme an die Öllampe, und der Raum wurde hell und freundlich; die Bücherregale, die noch in ihren originalen farbigen Schutzumschlägen waren, erfreuten mein Auge, wie es der Anblick von Büchern immer tat, und das Modell-Segelschiff, die Vase mit den Ringelblumen und die glänzenden Zinnkrüge waren sämtlich vertraute und beruhigende Dinge.
Dennoch schenkte ich mir einen Scotch mit Soda ein, bevor ich mich in den Sessel am Kamin setzte, um die tausenden Wörter, die ich an diesem Tag gekritzelt hatte, noch einmal durchzusehen und zu verbessern.
Mitten in meiner eigenen Geschichte über die Verbrennung einer besonders bösartigen Hexe bemerkte ich plötzlich, dass die Kopfhautmuskeln an meinem Hinterkopf angespannt und zusammengezogen waren und dass meine Haare zu Berge stehen mussten. Und ich spürte in meinem Geist, was mein Körper schon seit einiger Zeit bemerkt haben musste – dass sich hinter mir irgendein Wesen befand, das mich in unfriedlicher Absicht beobachtete.
Ohne meine Aufmerksamkeit von meinem Manuskript abzuwenden, blickte ich aus meinen Augenwinkeln auf den Spiegel, der über dem Kamin hing. Er zeigte die Wand hinter mir leer, bis auf ein gerahmtes Aquarell der Devils-Punch-Bowle-Schlucht bei Hindhead, das genau so war, wie es sein sollte.
Mit nachlassender Anspannung kehrte ich zu meiner Arbeit zurück. Aber nur für ein paar Augenblicke.
Einige Worte, die ich zuvor in der Geschichte geschrieben hatte, kamen mir wieder in den Sinn: „Vampire werfen kein Spiegelbild.“
Ein leichtes Frösteln überkam mich. Dann ein Anflug von Wut auf meine kindische Ängstlichkeit. Gütiger Gott, diesem Dracula-Geschwätz auch nur einen Moment Glauben zu schenken! Ich drehte mich um und starrte direkt hinter mich.
Es waren keine furchterregenden Ungeheuer dicht hinter mir. Es war nichts da, was nicht schon vorher da gewesen war.
„Idiot!“, beschimpfte ich mich selbst heftig und begann, mich langsam zurückzudrehen. Dabei huschte mein Blick an einer Messing-Pfanne vorbei, die an der Wand hing, und kehrte dann abrupt zu ihr zurück. Denn ich hatte den Eindruck, dass ein verschwommenes und formloses Gesicht aus ihrer hellen runden Oberfläche mich anstarrte. Ich setzte mich hin und betrachtete es.
Ja, es hatte definitiv die Wirkung eines Gesichts. Ein unbewegliches, lebloses Gesicht wie das des Mannes im Mond und kaum besser definiert.
Ich stand auf, um es zu untersuchen, und es verblasste, als ich mich ihm näherte; es verschwand ganz, als ich mit meiner Nase nur noch einen Meter davon entfernt war, sodass nur noch die leere Oberfläche der Pfanne übrig blieb. Doch als ich mich wieder in meinen Sessel zurücklehnte, war es wieder da: zwei runde schwarze Löcher, die Augen darstellten, eine schnabelförmige Nase, ein verzerrter Mund.
Im oberen Küchenregal auf der gegenüberliegenden Seite des Raumes befand sich eine Sammlung von Zier- und Gebrauchsgegenständen. Unter ihnen auch zwei Kerzenleuchter aus Ebenholz, kugelige Dinger mit runden, bauchigen Fassungen für die Kerzen. Mir war klar, dass die Augen des Gesichts einfach die Reflexion dieser beiden schwarzen Kugeln waren, die Nase eine verzerrte Reflexion einer Vase und der Mund wahrscheinlich eine Delle in der Pfanne, die in diesem bestimmten Winkel einen Schatten auffing und festhielt.
Ich ließ die Sache auf sich beruhen und kehrte zu meinen vollgekritzelten Seiten zurück.
Nach einer Weile stieß ich auf eine Passage, die ich für völlig neu schreiben musste, und starrte nachdenklich vor mich hin, während ich mich bemühte, sie in meinem Kopf neu zu formulieren.
Zuerst unterbewusst und dann mit allmählicher Erkenntnis wurde mir bewusst, dass ich direkt auf ein anderes Gesicht starrte.
Es befand sich in der Schnitzerei einer der Säulen des Kamins. Aus den Windungen des erhabenen Steins, die anscheinend Kletterpflanzen darstellen sollten, starrte mich ein dämonisches kleines Gesicht mit scharfen, schrägen, boshaften Augen an, die Fratze eines Fuchs-Wesens, das in die Enge getrieben wird und knurrt. Es wirkte so lebendig und giftig, dass ich mich instinktiv ein wenig zurückzog, während mir Verteidigungsmaßnahmen durch den Geist schwirrten.
Diese leichte Bewegung reichte aus, um die Illusion verschwinden zu lassen. Denn es war eine Illusion, ein weiterer Trick des Lichts. Obwohl ich experimentierte, indem ich meine Haltung auf meinem Stuhl veränderte, konnte ich den Effekt allerdings nicht wiederherstellen. Tatsächlich war ich mir gar nicht mehr sicher, an welcher Stelle inmitten der Schnitzereien mir die Fratze erscheinen war.
Ziemlich verunsichert kehrte ich zu meiner Arbeit zurück, doch es dauerte eine ganze Weile, bis ich diese Gesichter aus meinem Kopf verbannen konnte.
Ich war fast fertig, als mich wieder dieses widerliche Gefühl überkam, beobachtet zu werden. Eine Weile wagte ich nicht, meine Augen von den Papieren zu heben, die in meinen Händen zitterten. In meiner Vorstellung schien es, als wäre ich von einer Schar böser und still drohender Gesichter umgeben – sie schienen nicht nur aus den dunklen Ecken, sondern auch von den hellen Oberflächen der Dinge finster herüber zu starren, die ich für so wohnlich und beruhigend gehalten hatte, als ich aus der Dunkelheit hereingekommen war.
Mit dem plötzlichen Entschluss, mich ihnen verdammt noch mal zu stellen, blickte ich auf. Ich erhaschte einen flüchtigen Eindruck von einem riesigen Gesicht, das die ganze Wand einer leeren Nische neben dem Kamin ausfüllte, aber es waren nur Farbflecken, die sich durch die Feuchtigkeit gebildet hatten, und sie schienen sich in dem Augenblick auseinander zu bewegen und völlig bedeutungslos zu werden, indem ich sie anstarrte.
Ich warf meine Papiere hin und sprang mit einem Fluch auf.
„Was ist das?“, fragte ich mich. ‚Werde ich verrückt? Oder versucht jemand, mich verrückt zu machen?‘
Ich ging entschlossen durch den Raum und betrachtete der Reihe nach alle diese Gegenstände, aber ich sah nichts Ungewöhnliches. Dann stand ich mitten auf dem Kaminvorleger und dachte über meine Lage nach.
Erstens hatte ich keine Lust mehr, heute Abend noch weiter an meinem Buch zu arbeiten. Ich hatte genug davon, über unheimliche Dinge nachzudenken.
Zweitens wünschte ich mir, ich hätte Gesellschaft oder wäre an einem weniger einsamen Ort auf dem Land als diesem. Aber außerhalb der Hütte lag der Wald, und dahniter erstreckte sich die weite Heide unter dem Nachthimmel – Meilen schwarzer Rätsel zwischen mir und dem nächsten menschlichen Lebenszeichen!
Drittens fühlte ich mich trotz der ungewöhnlichen geistigen und körperlichen Anstrengungen des Tages nicht mehr müde. Auch der Gedanke ans Bett lockte mich nicht – ich hatte das Gefühl, wenn ich jetzt schlafen würde, würden mich üble Träume, wenn nicht Schlimmeres, heimsuchen.
Ich beschloss, einige Briefe zu schreiben. Schon das Bild einiger meiner überschwänglichen Freunde in London (vor denen ich geflohen war!), das ich beim Schreiben vor Augen haben würde, könnte mir ein Gefühl von Gesellschaft vorgaukeln. Es würde mir eine Verbindung zu dieser angenehmen Welt des Alltags geben, von der ich in dieser erstickenden, elektrisch aufgeladenen Nacht so völlig abgeschnitten war.
Ich fragte mich, ob Briefe angekommen waren, während ich unterwegs war. Ich öffnete bereits die kleine Tür des Briefkastens, als mir einfiel, dass ich meine Adresse absichtlich nur Spencer mitgeteilt hatte.
Dennoch tastete ich mich wider besseren Wissens in das dunkle Innere vor und verspürte ein wenig Freude, als meine Finger auf einen Brief stießen, den einzigen. Ich spürte auch noch etwas anderes – einen leichten Schock, der die Finger ein wenig kribbeln ließ. Es war fast so, als hätte der Brief eine elektrische Ladung enthalten. Ich schrieb es der Atmosphäre zu.
Der Brief war von Spencer, wie ich mir schon gedacht hatte. Er war in keinerlei Hinsicht hilfreich. Spencer war wieder in seiner enigmatischsten Stimmung.
Das Schreiben war in ordentlicher Druckschrift gehalten und begann ohne jede Einleitung. Er war von Spencer unterzeichnet - „Mit freundlichen Grüßen“ - und das schien mir der verständlichste Teil davon zu sein. Was den Rest betrifft – nun, hier ist er, Wort für Wort, so wie ich mich daran erinnere.
AKEL.
Der Komponist Robert Schumann hörte lange Zeit Stimmen und sah Dinge, die nicht da waren. Er wurde verrückt.
Ebenso wie der Autor von Gullivers Reisen, Jonathan Swift.
AGRAMM.
Der Dichter Shelley wurde sein ganzes Leben lang von Träumen und Visionen gequält. Einmal begegnete er in einer Wachvision einer Gestalt, die in einen dunklen Umhang gehüllt war. Es war – er selbst. Bei einer anderen Gelegenheit hörte er ein Geräusch außerhalb der Berghütte, in der er sich aufhielt. Er öffnete die Tür und wurde von etwas Unsichtbarem bewusstlos geschlagen.
Als junger Mann hatte John Bunyan „furchtbare Träume und Visionen“. Pestilenzialische Geister und Teufel erschienen ihm, bis er siebzehn Jahre alt war. Dann verschwanden sie für zwei Jahre, in denen er sich jeder bösen Leidenschaft hingab und ein verdorbenes Leben führte.
1651 kehrten seine Visionen zurück und er behauptete, dass er vom Teufel verfolgt würde. Er schwor, dass er manchmal „fühlte, wie der Versucher an meinen Kleidern zog“, und manchmal nahm der Teufel „die Gestalt eines Stiers, eines Busches oder eines Besens an“.
Alle Dämonen in „Pilgrim's Progress“ entsprangen seinen Erinnerungen an diese Erlebnisse.
AGERON.
William Blake, der Dichter und Künstler, hatte sein ganzes Leben lang Träume und Visionen. Er berichtete nicht nur davon, daß er den Teufel sah, sondern er zeichnete ihn auch. Er schrieb: „Ich ging im Dunkeln die Treppe hinunter, als plötzlich ein Licht auf meine Füße fiel. Ich drehte mich um, und da war er und starrte mich durch das eiserne Gitter meines Treppenhausfensters an. So wie er mir erschien, genauso zeichnete ich ihn.“
Blakes Skizze zeigte ein schreckliches Phantom, das durch ein vergittertes Fenster starrte – mit brennenden Augen, langen Zähnen und serPenTinenartigen Haaren.
William Blake wurde verrückt.
Also, mein Freund, denk daran: wenn du dich in deinem kleinen Häuschen verrammelt hast, nimm dich vor „Träumen und Visionen“ in Acht!

Nein, das war definitiv keine erfreuliche Nachricht. Ich verfluchte den Mann für seinen perversen Sinn für Humor – wenn man das Humor nennen konnte – und seine nervtötende Geheimiskrämerei.
Aber es kam mir eigenartig vor, dass die Ankunft solch eines Schreibens mit der Zeit zusammenfiel, in der ich seltsame Dinge sah.
Ich setzte mich hin und studierte stirnrunzelnd das getippte Blatt.
„AKEL, AGRAMM, AGERON . . .“ Was für ein Kauderwelsch war das? Welche Verbindung bestand zwischen diesen Wörtern?
Wenn ich Spencers verdrehten Verstand richtig einschätzte, gab es da eine Verbindung. Möglicherweise hatte er einen Hinweis in seinen Formulierungen untergebracht. Er war immer auf der Suche nach solchen verrückten, aber absichtlichen Hinweisen in den Schriften von Shakespeare. Hinweisen, die darauf hindeuteten, dass die Dramen tatsächlich von Francis Bacon geschrieben wurden.
Ich ging die Worte noch einmal langsam durch. Warum, überlegte ich, ein großes „P“ und „T“ „in serPenTinenartig“? Und warum schrieb er nicht einfach „schlangenartig“?
Moment mal – PenT. Pent-AKEL, Pent-AGRAMM . . .?
Ich griff nach einem Band meiner Enzyklopädie und suchte, was ich bald fand – diesen Eintrag:
"PENTAKEL, PENTAGRAMM oder PENTAGERON.
„Diese verschiedenen Namen beziehen sich alle auf die Gestalt eines fünfzackigen Sterns, der aus fünf geraden Linien besteht und vollständig geformt werden kann, ohne dass das Zeichengerät vom Aufzeichnungsobjekt getrennt werden muss, d. h. er kann gezeichnet werden, ohne dass der Stift vom Papier abgehoben werden muss, da die Spitze des Stifts zum Ausgangspunkt zurückkehrt. Möglicherweise wurde das Zeichen aufgrund solcher Merkwürdigkeiten lange Zeit als mystisches Symbol verwendet, zuerst von den Pythagoräern und später von den Astrologen und Geisterbeschwörern des Mittelalters. Es ist häufig in der frühen ornamentalen Kunst zu finden und wird in abergläubischen Regionen der Welt manchmal noch auf Türen verwendet, um Hexen und böse Geister fernzuhalten.“

Es folgten Darstellungen des Pentagramms usw. und: „Das Hexagramm – zwei ineinander verschlungene gleichseitige Dreiecke – wird oft mit ihm verwechselt.“
Da ich den „P“-Band in der Hand hatte, dachte ich, ich könnte auch gleich nach Pythagoras suchen, von dem ich nichts wusste, außer dass er ein griechischer Philosoph mit einem Lehrsatz gewesen war.
Er lebte im sechsten Jahrhundert v. Chr. und reiste viel, unter anderem durch Ägypten. 529 v. Chr. ging er nach Italien und gründete dort eine religiöse Bruderschaft, die die Menschheit durch die Ausübung bestimmter Riten reformieren sollte. Schon zu seinen Lebzeiten formierte sich eine Gegenströmung, die Mitte des 5. Jahrhunderts v. Chr. ihren Höhepunkt erreichte. Seine Bewegung wurde gewaltsam zerschlagen, Versammlungshäuser der Pythagoräer wurden überall geplündert und niedergebrannt, und Pythagoräer verfolgt und getötet.
Nun, das alles war ziemlich interessant, dachte ich, aber ich sah immer noch keinen Sinn in dem Brief. Und doch: War es nicht ein sonderbares Zufall, dass er mir gerade auf dem Höhepunkt meiner Angst vor die Augen kam?
Ich lehnte mich mit halb geschlossenen Augen in meinem Sessel zurück und dachte über die Träume und Visionen der Berühmtheiten nach, die Spencer aufgelistet hatte. Ich war eine Art Schriftsteller – ein Künstler auf meinem Gebiet, darauf war ich stolz –, aber ich machte mir keine Illusionen darüber, dass mein Name länger Bestand haben würde als ich selbst. In hundert Jahren würde es niemanden auch nur im Geringsten interessieren, zu erfahren, ob ich in einer Irrenanstalt gestorben war oder regelmäßig an Delirium tremens litt.
Eine Zeit lang dachte ich über die Vergänglichkeit des geringen Ruhms eines zweitklassigen Schriftstellers nach, und dann begann mein Gehirn auf die übliche Weise zu arbeiten, indem es zwei Ideen zusammenführte und daraus etwas Neues schuf. In meiner Vorstellung nahm die langsame Entstehung einer neuen Geschichte Gestalt an - über einen brillanten Schriftsteller, der auf dem Höhepunkt seiner Berühmtheit verrückt wurde. Bald war ich träumerisch darin versunken.
Unterschwellig wurde mir bewusst, dass sich die Beleuchtung des Raumes langsam in ihrer Qualität zu verändern schien. Das normale gelblich-weiße Licht der Öllampe nahm einen schwachen Grünstich an. Ich war immer noch tief in Gedanken und achtete zunächst kaum darauf, aber bald wurde es so deutlich, dass ich geistesabwesend auf die Lampe schaute. Das Licht war recht schwach. Ich erinnerte mich vage daran, dass ich vergessen hatte, mehr Paraffin zu besorgen. Das grünliche Licht kam von irgendwo links von mir, wo das Fenster war, und ich dachte, es sei ein seltsamer Effekt des einfallenden Mondlichts. Ich warf einen Blick dorthin, und mein Herz machte einen Satz, von dem ich dachte, er würde es aus seiner Verankerung reißen. Eine Art stummer, greller Schrecken lähmte mich.
Das Fenster war ein Quadrat aus grünlich durchscheinendem Licht, als wäre es die Seite eines künstlich beleuchteten Aquariums, und durch das Fenster starrte mich William Blakes albtraumhafte Vision des Teufels an.
Die Augen brannten sich in meine ein, die Reißzähne wurden in einem Tigergrinsen sichtbar – der ganze Effekt war der eines Monsters, das vor sadistischem Appetit loderte und die Entfernung für einen Sprung an meine Kehle abschätzte.
Ich fürchte, ich bin ohnmächtig geworden. Das ist eine Schwäche, die niemand gerne zugibt, aber sowas passiert schon mal. Nun passierte es mir, und ich bin sehr dankbar dafür.
Als ich wieder zu mir kam, war die Öllampe nur noch ein schwacher Schimmer, der sich wie ein Stern in der schwarzen Undurchsichtigkeit des Fensters vor mir spiegelte. Denn von meinem furchterregenden Besucher war keine Spur mehr zu sehen. Die Nacht draußen war so dunkel wie eine Höhle tief unter der Erde, und nichts war zu erkennen, nicht einmal die angrenzenden Kiefern.
Ich stand auf, ratternd und klappernd wie ein altes Auto, und musste mich für ein paar Augenblicke auf den Tisch stützen, während ich meine Knie zu überreden versuchte, ihrer seltsamen Neigung zu widerstehen, sich in Gummi zu verwandeln. Dann handelte ich zitternd, aber schnell.
Zuerst rammte ich die Riegel vor die Tür. Ich wusste nicht, warum das Ding nicht bei mir eingedrungen war, aber ich würde ihm keinen Vorteil verschaffen, sollte es zurückkehren.
Dann zog ich den dichten Vorhang zu. Ich hatte Angst, mich dem Fenster zu nähern, ich könnte ja plötzlich dem Ding gegenüberstehen, und ich glaubte nicht, dass mein Herz das aushalten würde. Also hakte ich den Vorhang mit dem Ende eines Besenstiels ein und hielt mich so vom Fenster fern.
Dann legte ich für alle Fälle das Schüreisen auf den Tisch. Es war ein angenehm schweres Stück Metall.
Und dann genehmigte ich mir ein paar gepflegte Whiskys.
Die Lampe konnte ich vergessen. Es gab kein Öl mehr, und ich hatte nicht vor, um diese Uhrzeit noch nach welchem zu suchen. Allein der Gedanke daran, mich wieder zwischen den unsichtbaren Bäumen da draußen zu bewegen, ließ mich erschaudern. Ich fand einen Kerzenstummel und zündete ihn an, aber er würde nicht lange brennen.
Also machte ich ein riesiges Feuer. In dieser schwülen Sommernacht entfachte ich ein Feuer, das mich fast zum Schmelzen brachte. Aber die Hitze machte mir nichts aus, solange ich mich sicherer fühlen konnte. Und helles Flammenlicht war besser als absolute Dunkelheit.
Ich saß schweißgebadet neben dem Feuer, meinen Schürhaken in der Hand, und nahm mir vor, weder das Licht noch meine Wachsamkeit bis zum Morgengrauen und dem gesegneten Tageslicht schwächer werden zu lassen.
Mein Blick fiel auf Spencers Brief auf dem Tisch. Ich hatte genug von dieser Art von Dingen. Ich griff danach und wollte ihn gerade ins Feuer werfen, als ich zum ersten Mal eine Zeichnung auf der Rückseite bemerkte.
Es war ein Pentagramm, das mit äußerst sauberer Zeichenkunst in sehr dünnen Linien ausgeführt war, Linien, die wie grüne Tinte aussahen.
Als ich es genauer betrachtete, schien es sich vom Papier abzuheben, als wäre es gestanzt. Dann schien das Papier um das Pentagramm herum zu verblassen, sodass es wie ein grüner Drahtrahmen zurückblieb. Und der Draht begann zu leuchten, bis das Zentrum meines Sichtfeldes nichts als eine Leere war, in der das Pentagramm wie eine grüne Leuchtreklame strahlte, die immer heller wurde.
Das freundliche Feuerlicht verblasste gegen diese Strahlen. Und nun waren da Gesichter, Gesichter, grinsende und anzügliche Gesichter, die sich um mich herum drängten, eine immer größer werdende Menge, und ein grünes Licht, das über allem erstrahlte und leuchtete. Mit dem letzten Rest meines Willens schaffte ich es gerade noch, den Bann zu brechen - ich gab mir die Art Ruck, mit dem es mitunter gelingt, aus der Lähmung eines Albtraums aufzuwachen. Und in diesem Moment verschwanden die Schrecken, und da saß ich im Feuerschein mit einem ganz gewöhnlichen Stück Papier in der Hand.
Aber nicht für lange. In einem Anfall von Angst und Wut knüllte ich es zu einem Ball zusammen und warf es mitten ins Feuer. Es gab einen kurzen grünen Flammenstoß ... Zugegeben, es könnte eine Chemikalie in einem der Holzscheite gewesen sein …
Ich blieb die ganze Nacht wach, aber ich wurde nicht weiter von Erscheinungen geplagt.

2.


Am Morgen packte ich meine Sachen und floh zurück nach London. Ins gute alte, schmutzige, aber sichere Bloomsbury mit dem schäbigen Tempel des British Museum und den kleinen Straßen voller ausländischer Restaurants und Buchläden und den domestizierten Bäumen auf den schmutzigen Plätzen!
Sobald ich mich in meiner Wohnung eingerichtet hatte, marschierte ich zum Mecklenburgh Square, um Spencer zu fragen, was zum Teufel ...
Obwohl er nur wenige Besucher empfing, hatte er ein Sicherheitsschloss an der Tür seiner Wohnung im obersten Stock des grauen Hauses angebracht, und er hielt diese Tür verschlossen und vertraute nur der inneren Seite. Aber er hatte mir schon vor langer Zeit einen Schlüssel anvertraut.
Als ich klopfte, kam keine Antwort, also ließ ich mich selbst herein.
In der hinteren Ecke stand sein Schreibtisch, wie üblich mit Büchern und Papieren übersät, und da war sein altmodischer Ohrensessel, in dem er öfter schlief als in seinem Bett - aber von ihm selbst keine Spur.
Natürlich könnte er im Lesesaal des Museums recherchieren, oder auch in einem der benachbarten Cafés essen gegangen sein. Ich nahm an, dass er manchmal aß, obwohl ich ihn nie dabei beobachtet hatte. Das waren die einzigen vorstellbaren Gründe, aus denen er diesen Raum jemals verlassen würde.
Er trieb keinen Sport und hatte keine Verwendung für frische Luft. Wie er es schaffte, an diesem Ort den Sauerstoff zum Atmen zu finden, hatte ich nie verstanden. Tür und Fenster waren stets geschlossen. Ich ging hinüber und versuchte, das Fenster zu öffnen, aber es war unbeweglich; durch jahrelange Vernachlässigung waren Fenster und Rahmen miteinander verschmolzen.
Ich setzte mich in seinen Sessel und blickte mich gelangweilt im Zimmer um. Jede verfügbare Wandfläche, vom Boden bis zur Decke, war mit beladenen Bücherregalen bedeckt: seine berühmte Bibliothek über schwarze Magie, Dämonologie, Spiritismus und alle Aspekte des Übernatürlichen. In der Ecke stand sein großes Doppelbett, wie immer ungemacht, und seine zerwühlten Kleider hingen von dort bis auf dem Teppich hinab. Die fleckige alte Kaffeekanne stand auf dem Herd, und überall auf dem Boden lagen Zigarettenstummel verstreut.
Wie ein Fels in der Brandung aus Dokumenten, Briefen, Akten, Zeitungsausschnitten, Broschüren und ähnlichen Papieren, die sich über den Schreibtisch ergossen, stand Spencers Schreibmaschine. In ihr befand sich ein Blatt Papier, das zur Hälfte beschrieben war. Neugierig, woran Spencer gerade arbeitete, stand ich auf und warf einen Blick darauf.
Es stellte sich heraus, dass es sich um die Seite 4 eines offensichtlich an mich gerichteten Briefes handelte, also suchte ich auf dem Schreibtisch nach den vorherigen Blättern und fand sie. Was den Brief betraf, so las ich ihn mit Spannung:
Lieber Bill,
ich nehme an, wenn diese Nachricht dich erreicht, wirst du mich für eine schlaflose Nacht verfluchen. Wahrscheinlich wirst du die unmittelbare Ursache dafür herausgefunden haben. Falls nicht, wird dieser Brief dich aufklären, so dass du diese Ursache zerstören und den Schlaf der Unschuldigen schlafen kannst.
Betrachte das bescheidene Pentagramm. Es ist heute zu einer lustigen kleinen Spaßfigur geworden „– viel Glück!“ Und so weiter. Man fischt es vielleicht in Form eines Glücksbringers aus einem Weihnachtscracker oder sieht ein Dutzend davon als Sterne auf Märchenbuch-Illustrationen für Kinder.
Geschäftsleute, die gerne „Geheimgesellschaft“ spielen (was ja auch gut fürs Geschäft ist), verwenden es als Erkennungssymbol zwischen den Mitgliedern. Sie haben diesen Trick von den Pythagoräern kopiert. Aber die Pythagoräer waren sich des schrecklichen Geheimnisses bewusst, das sie teilten und das sie vor den gewöhnlichen Menschen verbargen. Doch selbst diese Philosophen und Geometrie-Experten lagen in einem Punkt etwas daneben.
Da sie die Manifestationen auf die Anwesenheit eines Pentagramms einer bestimmten Größe und Form zurückführten, dachten sie, dass das Geheimnis in dieser bestimmten Größe und Form lag. Und sicherlich wurden die gleichen Effekte durch die Verwendung exakter Duplikate dieses ursprünglichen Pentagramms hervorgerufen.

Aber das ganze Geheimnis liegt in nur einem Dreieck dieser Figur. Die Größe ist irrelevant und der Rest des Pentagrammrahmens überflüssig. Es sind die Winkel dieses einen Dreiecks, die wichtig sind. Forme ein Dreieck mit seinen drei Winkeln in den Größen, die ich dir nennen kann (obwohl schon eine extrem geringe Abweichung ausreicht, um es wirkungslos zu machen), und du wirst in der Tat ein Dreieck des Schreckens haben.
Wenn du „Try and Error“ spielen willst, kann ich dir sagen, dass ein Winkel 36° 47′ 29″ betragen muss. Wenn du diesen richtigen Winkel findest, wirst du früher oder später Dinge sehen. Aber deine Chancen sind gering. Es handelt sich nicht um ein gleichschenkliges Dreieck, sondern um ein ungleichseitiges. Das ursprüngliche Pentagramm der Antike war zunächst eine sehr grobe Arbeit, alles andere als symmetrisch, und nur durch Zufall enthielt es dieses gefährliche Dreieck.
Wie habe ich das alles entdeckt? Es begann mit meiner Untersuchung des Spuks in einem Landhaus in Norfolk. Ich brachte die Phänomene mit einem kleinen Glasprisma in Verbindung, das in der Gegend herumlag (der ehemalige Bewohner war ein Spektroskop-Fan – bis er verrückt und weggesperrt wurde). Bei einigen Gelegenheiten, bei denen die Spukphänomene kurz davor waren, zu erscheinen, bemerkte ich, dass dieses Prisma eine durchscheinende blassgrüne Farbe annahm. Ich ging nach wissenschaftlicher Methode vor und fand heraus, dass das Haus nicht heimgesucht wurde, wenn das Prisma entfernt wurde. Aber die Umgebung des Prismas war verflucht, wo auch immer man es hinbrachte. Ich hatte eine ziemlich unangenehme Phase, um das herauszufinden – ich muss dir irgendwann mal genauer davon erzählen.

Bedauerlicherweise ließ ich das Prisma eines Tages fallen, und eine Ecke brach ab. Und es war nie wieder dasselbe. Es wurde einfach zu einem weiteren Stück Glas. Aber ich hatte genaue Messungen vorgenommen und sie aufbewahrt.
"Jahre später konnte ich durch ausgiebiges Ausprobieren die Ursache eines weiteren Spuks – in einem Wohnhaus auf Putney Common – auf die Anwesenheit (ausgerechnet!) einer Büroklammer zurückführen. Einer dreieckigen. Ich nahm sorgfältige Messungen vor und verglich sie mit den Abmessungen des Prismas, an das ich mich erinnerte. Ich wusste, dass ich auf der Zielgraden war, als ich feststellte, dass ihre Winkel – wenn auch nicht die von ihnen eingeschlossene Fläche – absolut genau mit den Winkeln eines der (natürlich) dreieckigen Enden des Prismas übereinstimmten, das ich zerbrochen hatte.
Leider habe ich meinen Beweis nicht lange aufbewahrt. Ich war so beunruhigt von „Träumen und Visionen“, solange die Klammer in meinem Besitz war, dass ich sie schließlich verbog. Das machte sie harmlos. Eine einfache kleine Aktion wie diese!
Aber ich fand später reichliche neue Beweise. Das Spukhaus am Flussufer in Teddington: Ich entfernte und zerstörte eine dieser üblichen dreieckigen Regalhalterungen und erntete Anerkennung dafür, die Geister ausgetrieben zu haben! Weißt du, warum das Pfarrhaus von Burlham immer noch als „das am meisten heimgesuchte Haus in Großbritannien“ bekannt ist? Weil ich keine Erlaubnis dazu bekam, einen Balken zu bearbeiten, der ein Dreieck in einem der Giebel vervollständigt!

Ich sage dir, du musst dich nur in einem dieser „verwunschenen“ Häuser umsehen und wissen, wonach du suchst; früher oder später wirst du die Ursache des Problems finden. Es kann ein zufälliges Dreieck sein aus Kratzern an der Wand, ein Kleiderbügel oder sogar die Form eines Pfefferstreuers! Aber das Dreieck ist immer da.
Als ich die Geschichte der Pythagoräer erforschte, fand ich heraus, dass ihnen das Geheimnis schon Jahrhunderte vor Christus bekannt war, nur dass sie das Pentagramm für die Ursache hielten und nicht lediglich das darin enthaltene Dreieck. Sie praktizierten Riten, in denen sie diese unangenehmen Erscheinungen beschworen, um sie dann zu besiegen, indem sie das Zeichen zerstörten. Sie fühlten sich durch den Kampf mit dem Bösen gereinigt und durch den symbolischen Sieg über das Böse erhoben. Ich bin mir allerdings nicht sicher, ob sie dabei immer den Sieg davontrugen ...

Natürlich hielten sie diese dunklen Geheimnisse vor gewöhnlichen Menschen geheim, aber die Leute bekamen allmählich Wind davon, fürchteten und hassten sie als Zauberer und versuchten, sie auszulöschen. Die Verfolgung erreichte ihren Höhepunkt in der Mitte des 5. Jahrhunderts v. Chr.; überall wurden die Versammlungshäuser der Pythagoräer niedergebrannt und alle dort angetroffenen Pythagoräer getötet.
Du fragst dich wahrscheinlich, warum eine bestimmte Art von Dreieck solche Phänomene verursachen sollte. Ich mich auch. Ich bin noch dabei, das zu untersuchen.
Meine eigene Theorie sieht im Moment so aus: Erstens haben diese Teufel und Dämonen, die erscheinen, keine materielle Existenz. Tatsächlich haben sie überhaupt keine Existenz – außerhalb unserer eigenen Vorstellung! Sie existieren in unserem Unbewussten, in Erinnerungen, mit denen wir geboren werden und die von unseren primitivsten Vorfahren überliefert wurden.
Erinnerst Du dich daran, wie du als Kind allein in deinem Zimmer lagst und versucht hast zu schlafen, in diesen unruhigen Zeiten, als du glaubtest, in der Dunkelheit des Raums Gesichter zu sehen – hässliche, mit starren Augen, furchterregende Gesichter? Und wenn du die Augen zugemacht hast, um ihnen zu entkommen, waren sie hinter deinen Augenlidern, klarer als je zuvor? Das sind die Erscheinungen, auf denen unsere Angstträume aufbauen.
Kinder sehen sie häufiger als wir, denn die Vorstellungskraft ist in der Kindheit viel aktiver. Bei Erwachsenen verkümmert sie allmählich, und wir werden zu Gewohnheitstieren. Aber sehr sensible und fantasievolle Menschen, die mehr in ihrem Unbewussten als in ihrem Bewusstsein leben, die Introvertierten, sehen sie immer noch.
Sehr sensible und fantasievolle Menschen, wiederhole ich, wie Künstler, Dichter, Komponisten ... wie Blake, Shelley, Schumann. Beginnst du, die Idee zu verstehen? Die Musiker – und die Träumer ...
Weitaus stärker als extrovertierte, materialistische Menschen reagieren sie auf diese Herausforderung des Dreiecks – ich kann mir nicht vorstellen, dass Geschäftsleute große Probleme mit Pentagrammen haben, selbst wenn sie zufällig auf ein pythagoreisches stoßen. Es wirkt wie eine Art Tor, durch das die Bilder und Gedankenwellen des Unbewussten immer stärker sickern, bis sie uns überfluten und den bewussten Geist gänzlich in Besitz nehmen. Und wenn das einem Menschen passiert, sagen wir, er sei verrückt. Das Bewusstsein wägt ab und urteilt, es ist unsere kritische Instanz, es hält uns in einem ausgewogenen Verhältnis zur materiellen Welt. Aber wenn diese Instanz nicht mehr da ist, sind wir hilflos. Wir werden an alles glauben, woran unser Unbewusstses glaubt, denn das beherrscht uns dann vollständig.

Warum sind nicht alle großen Männer wie Beethoven, Shakespeare und da Vinci verrückt geworden? Warum nur ein kleiner Teil? Ich nehme deine Fragen vorweg. Nun, ganz einfach, weil sie nie mit einem dieser Dreiecke in Berührung gekommen sind. Aber bei denjenigen, die ich aufgelistet habe, und vielen anderen, die ich nicht aufgelistet habe, muss dieses Dreieck irgendwo in ihren Häusern existiert haben. Oder auch, was durchaus vorstellbar ist, in ihrem eigenen physischen Körper – eine Knochenstruktur oder eine Venenformation oder eine ähnliche Anomalie.
Es scheint, dass der physische Anblick des Dreiecks nicht notwendig ist. Die außersinnliche Wahrnehmung ist ziemlich fest etabliert, und ich neige dazu zu glauben, dass dieses Design außersinnlich wahrgenommen wird, wenn es in der Nähe ist. Es scheint eine hypnotische Wirkung auf den Geist des Subjekts auszuüben, aber auf welche Weise, muss noch erforscht werden. Was sind Gedankenwellen überhaupt, und können sie auf bestimmte Arrangements reagieren, so wie man eine bestimmte Antennenform braucht, um Fernsehwellen zu empfangen? Und überhaupt, was ist Vorstellungskraft?

Weil du Schriftsteller bist und daher über ein gewisses Maß an Vorstellungskraft verfügst, habe ich dir mein kleines Rätsel – und das Pentagramm – geschickt. Es müsste zu einigen amüsanten Ergebnissen geführt haben. Ich glaube aber nicht, dass sie dir schaden könnten – ich habe deine Bücher gelesen und kenne die Qualität deiner Phantasie, und ich glaube nicht, dass du das Schicksal der von mir erwähnten Schriftsteller teilen musst.
Schließlich sollte man, wenn man sich erst einmal völlig darüber im Klaren ist, dass diese Phantome nur im eigenen Kopf existieren, ...

Der Brief endete dort, mitten im Satz, was ich ziemlich seltsam fand.
Dies war das erste Mal, dass ich hörte, dass Spencer praktische Untersuchungen zu Spukphänomenen durchführte – jede Art von aktiven Handelns schien untypisch für ihn zu sein. War er jetzt zu einem Spuk gerufen worden, fragte ich mich?
Wenn Spencer die Qualität meiner Phantasie allein anhand meiner Bücher beurteilt hatte, dann lag er falsch. Ich bin nicht annähernd so nüchtern, wie es der Stil dieser Bücher vermuten lässt. Dieser Stil ist eine Pose, um eine fast morbide Sensibilität zu verbergen. Ich bin vielleicht nicht so nervös wie einer der Schriftsteller, die Spencer aufgelistet hatte, aber ich fand die Erlebnisse von gestern Abend ganz und gar nicht „amüsant“, und ich hätte das Ergebnis nicht vorhersagen wollen, wenn ich das Pentagramm nicht rechtzeitig zerstört hätte.
Nein, wenn Spencer zurückkam, würde er feststellen, dass er in mir einen Wirbelsturm heraufbeschworen hatte.
Ich würde ihm noch eine halbe Stunde geben, bevor ich zum Mittagessen ging.
Ich setzte mich hin und dachte über die unglaublichen Enthüllungen des Briefes nach. Nach meiner eigenen Erfahrung der letzten Nacht konnte ich nicht an ihrer Wahrheit zweifeln.
Ich fragte mich, ob es möglich war, Fälle von Wahnsinn, die so entstanden waren, zu heilen. Es bestand eine Chance, dass ...
In diesem Moment erblickte ich etwas, das mich wie ein elektrischer Schlag traf. Die Sohle eines Schuhs, direkt unter Spencers großem Bett, teilweise verdeckt von dem achtlos über den Rand geworfenen Bettzeug. Und diese Sohle balancierte aufrecht auf der Spitze, eine Position, die unmöglich war, es sei denn, dieser Schuh enthielt einen menschlichen Fuß. Jemand lag mit dem Gesicht nach unten unter dem Bett.
Ich musste mich zwingen, hinüberzugehen und nachzusehen. Es war Spencer, wie ich befürchtet hatte, und er war tot. Er hatte sich so weit unter das Bett gezwängt, wie es sein behäbiger Körper zuließ, und es war anstrengend, ihn hervorzuzerren – meine Bemühungen hatten etwas zugleich Schreckliches und Lächerliches an sich.
Doch als ich sein Gesicht sah, fand ich die Sache überhaupt nicht lustig. Mund und Augen waren weit aufgerissen. (Irgendwie erinnerte mich sein Gesichtsausdruck an die Gipsfigur im Pompeji-Museum, die den armen Unglücklichen darstellt, der unter der Asche des Vulkanausbruchs, der seine Stadt begrub, vor Angst krepierte.) Und die Iris der Augen war leicht nach innen und oben gedreht, wie bei einem Mann mit einem Schlaganfall. Es war ein schrecklicher Anblick.
Ich wusste, dass er in einer animalischen Urangst vor etwas geflohen war, das ihn buchstäblich zu Tode erschreckt hatte. Armer Spencer – an welchen unmöglichen und albernen Zufluchtsort war er gekrochen! Welche schreckliche Präsenz hatte einen so gelehrten Geist aus dem Gleichgewicht gebracht, einen so festen Charakter gebrochen, einen so reifen und weisen Mann zu einem tragischen Clown gemacht?
Natürlich war er nach seiner eigenen Theorie sehr anfällig für diese beängstigenden Visionen aus dem Unbewussten, weil er so sehr in den Tiefen seines eigenen Geistes lebte und seine Umgebung und Gesellschaft normalerweise mehr als nur halb vergaß.
Ja, seine eigene Entdeckung musste ihn zerstört haben!
Und dann keimte eine entsetzliche Erkenntnis in mir auf. Ohne die unmittelbare Anwesenheit dieses schrecklichen Dreiecks hätte das nicht passieren können. Es musste immer noch irgendwo sein, höchstwahrscheinlich irgendwo in diesem Raum!
Wenn ich nicht aufpassen würde ... Panische Gedanken jagten durch meinen Kopf. Ich versuchte, mich zu beherrschen. Ich stand auf. Es war ganz offensichtlich, was ich tun musste – ich musste sofort die Polizei informieren.
War da drüben an der Tür etwas, das sich bewegte?
Ja oder nein…? Plötzlich füllte Angst meine Seele aus. Mir wurde übel und mein ganzer Körper begann zu zittern. Eine posttraumatische Reaktion auf den Schrecken der letzten Nacht verband sich nun mit den Schocks der neuen Entdeckungen. Bilder des Dreiecks, das ich fürchtete, versuchten immer wieder, sich in meine allzu lebhafte Fantasie zu drängen. Ich kämpfte darum, sie aus meinen Gedanken zu verbannen.
„Ich muss hier raus, ich muss hier raus!“, murmelte ich vor mich hin. Ich versuchte, einen ziemlich wackeligen Schritt in Richtung Tür zu machen, und blieb dann mit einem erstickten Keuchen stehen, als hätte man mich mit einem Eimer sehr kalten Wassers übergossen.
Zwischen der Tür und mir stand eine große, aber leicht gebeugte Kreatur aus einem meiner schlimmsten Kindheitsalpträume. Ein verrücktes, sabberndes Ding mit einem von Verderbnis zerfressenen Gesicht und toten, lidlosen Augen, die an mir vorbeizustarren schienen - doch ich wusste, dass sie es nicht taten. In Wirklichkeit galt die ganze Aufmerksamkeit des Wesens mir. Aber es war keine intelligente Aufmerksamkeit. Es war die gedankenlose, unreflektierte, eifrige Aufmerksamkeit des geifernden und schnüffelnden Dorftrottels, der langsam und bedächtig einer Spinne die Beine ausreißt oder mit einem Messer auf einen gefangenen Spatzen losgeht und ihm unvorstellbare Grausamkeiten antut.
Und dieses Ding war hinter mir her.
Kalter Schweiß brach aus.
Mein Bewusstsein hämmerte auf mich ein: „Es ist nicht real. Es ist nicht real. Es wird dir nicht wehtun. Das bildest du dir nur ein. Du wirst hypnotisiert. Brich den Bann. Schau weg."
Ich riss meine Augen von ihm los und mein Blick fiel direkt auf Spencer, der tot zu meinen Füßen auf dem Rücken lag, und seine seltsamen Augen schienen zu versuchen, seine eigene Stirn zu sehen. Mit einem Schluchzen stolperte ich über ihn und erreichte den Herd. Ich klammerte mich daran und wandte meinen Blick immer noch nicht in Richtung Tür.
Die fleckige Kaffeekanne fiel in meinen Blick. Sie hatte sich in ein Gesicht verwandelt, mit einer grotesken Nase – es war eines der lüsternen Gesichter, die ich letzte Nacht gesehen hatte.
Mit einer spontanen Bewegung, wie ein Reflex, trat ich mit der Schuhspitze heftig nach ihr, und sie zersprang in Scherben an der gegenüberliegenden Wand.
Das war eine unerwartete Erleichterung. In plötzlicher Hoffnung wagte ich einen Blick zur Tür.
Aber das geifernde, starre Ding war so real und potenziell mörderisch wie eh und je. Es war deutlich näher an mich herangekommen, und jetzt konnte ich Details erkennen, die ich lieber nicht gesehen hätte. Seine toten, weißen Hände streckten sich aus, bereit, zuzugreifen und zuzupacken. Es schien sich seiner selbst unerbittlich sicher zu sein. Und was meinen Schrecken noch verstärkte - es bewegte sich absolut lautlos. Falls es atmete, konnte ich es nicht hören. Es näherte sich mir wie eine Gestalt aus einem alten Stummfilm, ein bewegter Schatten.
„Es ist ein Schatten“, versicherte ein Teil meines Verstandes. „Nur ein Schatten, den du wirfst.“
Und eine andere Stimme schrie: „Das Fenster! Flieh durch das Fenster!“
Und eine weitere Stimme sagte: „Das Fenster klemmt! Du kannst es nicht öffnen!“
Mein Hirn war ein tosendes Durcheinander widerstreitender Impulse, die alle von hereinflutender Angst beherrscht wurden.
Ich wusste, dass meine Vernunft zerfiel, dass mein Bewusstsein unter der Belastung zerbröselte, und wenn mich dieser sabbernde Horror überfiel, würde ich vor Angst verrückt werden. So wie andere verrückt geworden waren.
Ich unternahm einen letzten verzweifelten Versuch, in meinem chaotischen Hirn einen Winkel zu finden, in dem ich zusammenhängend denken konnte.
Das Dreieck. Dies alles geschah durch das Medium des Dreiecks. Ich musste es finden. Ich durfte keine Zeit verlieren. Ich musste es zerstören.
Schnell, wo… was zum Teufel – konnte es sein?
War es diese Klammer einer Rohrhalterung? Ich riss sie herunter und zerschmetterte sie. Aber ohne hinzusehen, wusste ich, dass ich immer noch verfolgt wurde.
Gott, es gab tausend Dinge in diesem Raum, die es enthalten könnten!
Ich war kurz davor, alles Verdächtige in meinem begrenzten Radius zu zerschlagen. Aber ich war immer noch gezwungen, mich zurückzuziehen, bis ich mich gegen den Schreibtisch in der entferntesten Ecke von der Tür drückte und mich wie ein Gelähmter fühlte und nicht weiter zurückweichen konnte.
Ich glaube, ich begann stumm zu schreien, als ich in wahnsinniger Verzweiflung zwischen den Büchern und Papieren auf dem Schreibtisch herumtastete und meine Augen vor Angst bei der vergeblichen Suche nach etwas Dreieckigem buchstäblich aus den Höhlen traten.
Mit einem einzigen krampfhaften Schwung wischte ich einen ganzen Haufen des Durcheinanders vom Schreibtisch. Darunter kam ein Block mit Löschpapier zum Vorschein, den der Stapel verdeckt hatte. In der Mitte des Blocks befand sich ein vertrauter Umriss in grüner Tinte. Das Pentagramm.
Ich wusste, dass es das war, wonach ich suchte. Ich stürzte mich wie ein wildes Tier darauf und zerriss es. Und riss es noch einmal. Dann drehte ich mich entkräftet mit den Stücken in der Hand um.
Das Ding, das mir fast die Kehle zugedrückt hatte, war weg.
Ich begann schwach zu kichern und riss den Löschblock immer wieder quer durch, wobei ich die kleinen Stücke in die Luft warf; sie flatterten wie ein Bühnen-Miniatur-Schneesturm auf auf den Boden.
Wie Wellington nach Waterloo sagte ich mir immer wieder: „Das war knapp! Das war knapp!“
Und das alles nur, weil der alte Spencer, als er das Pentagramm so sorgfältig gezeichnet hatte, es mit seinem Löschblock abgetupft und nie bemerkt hatte, dass er eine perfekte Kopie dieser gefährlichen Winkel unter seinen Papieren hinterlassen hatte.
Das war sein Verderben. Nehme ich an. Ich nehme an, er war ein Schock, der ihn tötete ...
Der Arzt diagnostizierte eine Thrombose, und der Gerichtsmediziner schloss sich dieser Ansicht an. Manchmal ertappe ich mich dabei, dass ich ihm zustimmen möchte. Es ist menschlich, rational zu denken.
Doch ich weiß, dass ich unter keinen Umständen mit Dreiecken herumspielen werde, die einen Winkel von 36° 47′ 29″ haben… Eigentlich bin ich allergisch gegen Dreiecke jeglicher Art.



William F. Temple

The Triangle of Terror

Weird Tales, Mai 1950

Übersetzung © 2024 Matthias Käther

David Wright O'Brien - Die sonderbare Wandlung des Mr. Lane (1942)

  O’Brien - Die sonderbare Wandlung des Mr. Lane Als ich begann, mit meinem Mitstreiter Roy Glashan das komplette phantastische Werk...