Samstag, 18. April 2020

Harry Harrison Kroll: Altweibersommer (1924) Horror


Harry Harrison Kroll: Altweibersommer

Man findet gar viel fliegende Fäden im Herbste, wenn die Spinnen brüten und die Jugend fortgehet in die Welt – wer derlei Gespinst erblicket, dem ists ein Zeichen, dass die Feen ihn geleiten zu großem Reichthume.“
Alter Volks-Aberglaube

William Thompson saß am Eingang des Erdlochs und betrachtete versunken die Spinnenweben. Ihn hatte die Jagd in diese Gegend der zahllosen Kalksteinhöhlen in Kentucky geführt – die Jagd nach einer besonderen Spezies der Gattung Arimnes, der am brillantesten schillernden Spinne der gemäßigten Klimazonen. Seine Forschungsarbeit an der Vanderbilt-Universität machte diese Entdeckung nötig. Er hatte von Gerüchten in der Gegend gehört, die von einer großen farbigen Spinne munkelten, und so war er hergekommen in der Hoffnung, seine Sehnsucht zu befriedigen.
Man erzählte sich, dass Jahre zuvor Israel Hicks, ein Wahnsinniger, der sich von einem bösen Geist verfolgt glaubte, hierhergezogen war, um Spinnen zu züchten – in der Hoffnung, ein Spinnennetz zu erschaffen, das sich eignete, den Dämon einzufangen, der ihn zur Raserei gebracht hatte. Es wurde versichert, dass er, bevor er wahnsinnig wurde, irgendwo als reicher wohlhabender Farmer gelebt hatte. Viele glaubten sogar, dass er enorme Reichtümer besessen hatte. Auf jeden Fall war er, der letzte seines Geschlechts, allein gekommen, und er hatte hier allein gehaust, seine ganze Zeit und Energie drauf verwendend, Spinnen zu fangen, die er in einem mysteriösen Insektenhaus einzusperren pflegte, das niemand jemals betreten durfte. Nun war der alte Mann schon viele Jahre tot und wurde wahrscheinlich nicht mehr von seinem bösen Dämon geplagt, und niemand schien mehr etwas Konkretes über ihn und seine sonderbare Halluzination zu wissen.
Irgendwo hier in der Nähe gibt es Spinnen“, sagte sich William, als er fortfuhr, die feinen seidenen Fäden zu betrachten, die aus dem Loch wehten.
Wenn ich in die Höhle hinunterkäme, würde ich vielleicht finden, was ich suche.“
Er bemühte sich, durch das Erdloch hinunterzugelangen; doch es war eng und unbequem, und so gab er es bald auf.
Seltsam, dieser Luftzug“, fuhr er fort zu meditieren,“Ich habe an solchen Gletscherhöhlen noch nie eine derart starke Strömung verspürt...“
Er testete die Windstärke, indem er einige trockene Blätter in die Öffnung warf. Sie erhoben sich mehrere Meter über den Boden, bevor die Luftströmung schwächer wurde und sie zu Boden sanken.
Tja“, sagte er sich gedankenvoll, „wenn ich das andere Ende der Passage finden könnte – die Chancen ständen gar nicht so schlecht, dass ich meine Spinne finde.“
Er begann andere Löcher in der Umgebung zu untersuchen, von denen zahllose existierten; in einem fernen geologischem Zeitalter hatte vermutlich eine Erdgasexplosion den gesamten Untergrund durchsiebt und unzählige Höhlen als Folge der Detonation hinterlassen. Doch an keiner weiteren Höhlung konnte er Zugluft feststellen. Ein entzündetes Streichholz (ein untrüglicher Test für die leiseste Luftbewegung) brannte über ihnen so ruhig wie eine Kerzenflamme in einer geschlossenen Kammer. Es war offensichtlich, dass es keine direkte Verbindung zwischen diesen Löchern und Willliams entdeckter Höhle gab.
Die Luft muss doch irgendwie reinkommen“, überlegte er. „Sie kommt raus, also strömt sie auch ein. Irgendeins dieser Löcher müsste also eine saugende Strömung aufweisen.“
Doch soviel er auch umherforschte – er fand nichts. Nach geraumer Zeit und erschöpfender Suche kehrte er zum „Kaminloch“ zurück, wie er es im Stillen nannte.
Israel Hicks“, erinnerte er sich an die Geschichten, die ihm in der Umgebung erzählt wurden,“pflegte zu sagen, dass man nie außer im Hebst fliegende Spinnenfäden zu sehen bekommt – das hängt zusammen mit der neuen Spinnenbrut. Und jeder Idiot weiß, dass da, wo die Spinnenweben herkommen, Spinnen sein müssen. Wenn ich das andere Ende der Höhle finde, stoße ich höchstwahrscheinlich auf Hicks Spinnen-Inkubator. Und ich wette, der ist ein verdammt interessantes Objekt für einen Biologen.“
Der Gedanke faszinierte ihn, denn der alte Irre stand in dem Ruf, eine illustre Spinnensammlung besessen zu haben. William trieb einen langen Stock auf und stocherte damit in der Höhlung herum. Er fand heraus, dass der Schacht tief ins Erdreich hinunterreichte und in Richtung des baufälligen Hauses verlief, in dem der alte Mann gewohnt hatte, und das in der Entfernung von etwa hundert Metern auf einem Hügel aufragte. William kratzte sich verblüfft am Kopf. Endete der Schacht vielleicht irgendwo in der Nähe des Hauses– oder sogar darin?
Er eilte den Hügel hinauf in den Hof des Anwesens. Eine umständliche Durchsuchung des Grundstücks brachte kein Schacht-Ende der Art, wie er es im Sinn hatte, zum Vorschein. Er setzte die Suche im zerfallenen alten Gebäude fort.
Der Fußboden existierte nicht mehr. Ein offenes Kellerloch starrte, einem Auge gleich, leer zum löchrigen Schindeldach hinauf. William kletterte hinunter. Unten stand er dumpf da, fast gelähmt vor Enttäuschung, denn nichts von Interesse war weit und breit im Dämmerlicht zu erblicken. Dann gewahrte er plötzlich, wie er so auf dem steinernen Kellerboden herumstand, einen eisigen Zug an seinen Füßen. Er bückte sich für einen Test mit seiner Hand und spürte eine stetige Strömung Hand und Füße umspielen, die zwischen den Ritzen der Pflasterung verschwand. Als er genau hinhörte, konnte er sogar eine Art Pfeifen hören.
Aha“ rief er.“Der alte Spinner hat einen Geheimgang in sein Spinnenparadies angelegt. Schauen wir mal, was unter dem Stein ist...“
Und so wuchtete der die Platte beiseite und entdeckte einen natürlichen Tunnel, der tief ins Eingeweide der Erde hinunterreichte. Der junge Biologe hatte seine Taschenlampe bei sich, und so begann er, nachdem er sich durch die Öffnung gezwängt hatte, mit dem Abstieg. Bald war das Tageslicht hinter ihm entschwunden. Eine weitere Biegung, und ihn umgab stygische Finsternis. Und immer tiefer, tiefer ging es hinab. Hätte er nicht beträchtliche Erfahrungen mit Höhlen besessen, er würde vermutlich die Nerven verloren und kein weiteres Vordringen mehr gewagt haben.
Überall hingen Spinnenweben – Millionen von ihnen, angelegt in den vielen Jahren, nachdem Israel Hicks die Tiere hier angesiedelt hatte. Es gab keinen Zweifel für William, dass er auf die Spinnenzuchtanlage des alten Irren gestoßen war. Die Chancen, sein Exemplar hier zu finden, standen gut, denn Hicks war auf seine Art ein Connoiseur gewesen, und es war unwahrscheinlich, dass er irgendeine Spezies dieser Region übersehen hätte.
Wie vermutet, erreichte er bald eine Ausweitung des Ganges, die sich wiederum zu einer langen, höhlenartigen Kammer öffnete. Als er in diesen großen Raum trat, schloss sich plötzlich eine eine gewaltige Felstür, nicht unähnlich den Verschlüssen in alten Grabkammern, donnernd hinter ihm. Er stockte ängstlich in dem Glauben, dass ihm nun der Rückzug abgeschnitten worden war. Doch dann beruhigte ihn ein weit entfernter Schimmer von Tageslicht – offensichtlich war es das Erdloch, das er früher entdeckt hatte. Zur Not konnte er dort versuchen zu entweichen – genau wie die fliegenden Fäden. Er ging weiter, sorgfältig links und rechts die Umgebung mit der Lampe ableuchtend.
Was für ein fürchterlicher, gespenstischer Ort das war! Die endlose, schleimige Höhlendecke schimmerten grau von den aschenfarbenen Geweben der Spinnentiere. Feuchte Perlen hingen an vielen langen Gebilden, die ihn mit eisigen Ergüssen besprenkelten. Buchstäblich tausende neugieriger agiler Kreaturen sprangen bei seinen Schritten hervor in Hoffnung auf mögliche Beute. Und ebenso blitzschnell zogen sie sich wieder in ihr silbernes Refugium zurück, der wenn der Strahl der Taschenlampe auf sie traf. Ihre unzähligen listigen Augen mit ihrer lauernden Schärfe flößten ihm fast Furcht ein, und ein kalter Schauer rann ihm über den Rücken.
Dann blieb er mit einem unfreiwilligen Aufschrei plötzlich stehen. Er hatte gefunden, wonach er suchte, da war seine Trophäe, eine wunderschöne Arimnes, und sie besaß die vielleicht hinreißendsten geometrischen Muster, die er bei dieser Spezies je gesehen hatte. Sie war fast so groß wie ein Silberdollar, mit langen, grazilen Beinen, einer brillanten Zeichnung auf dem Kopf und einer anderen auf ihrem Rücken, und intensiven tiefschwarzen Augen.
Sein Problem bestand nun, da er sie gefunden hatte, darin, sie zu einzufangen. Und das war kein geringes Problem, wie er wohl wusste, denn die Arimnes war so schlau, wie sie schön war, und ebenso groß wie ihre Schlauheit waren ihr Mut und ihre Wildheit. Außerdem verspürte Williams keine Lust darauf, von dieser Lady gebissen zu werden. Obwohl die Gattung im allgemeinen zu den ungiftigen gezählt wurde, oder wenigstens zu den ungefährlichen, gab es doch authentische Berichte, nach denen seltene Untergruppen dieses Typs mit tödlichem Gift aufgetaucht waren.
Doch er hatte eine selbstgebaute Apparatur mitgebracht, eine Angelrute in Kombination mit einem starken Draht und Gaze, mit der er das Tier zu fangen gedachte, und so begann er behutsam und geschickt mit seiner Jagd.
Die Spinne floh, William folgte. Dann, mit listiger Plötzlichkeit, stürzte das Biest auf eine Felsspalte zu – breit, doch zu schmal für einen Menschen, um sich hindurchzuquetschen - und verschwand darin. An diesem Rückzugsort konnte William es nicht erreichen.
Keine Überredungskunst konnten die Lady überzeugen, aus ihrem Versteck zu kommen. Am Ende aller Weisheit, begann er mit dem Ende der Angelrute wild in der Spalte herumzustochern. Er wollte zwar ein lebendes Exemplar, doch ein totes war immer noch besser als gar keins.
Das war, wie er zu spät bemerkte, ein fataler Fehler. Als sei dies ein Signal gewesen, auf das die Spinnenhorden gewartet hatten, sprangen sie zu Tausenden hervor und stürzten sich auf ihn wie ein riesiger hungriger Mob.
Große haarige Ungeheuer ließen sich von oben auf sein Haupt fallen, sie krochen über sein ungeschütztes Gesicht, er fühlte, wie sie seine Hosenbeine emporklommen. Obwohl er sie mit wilden Gebärden abstreifte, sie aus seinen Augen wischte und versuchte, sie in der Dunkelheit zu zertrampeln, schienen seine panischen Aktionen nur noch mehr von ihnen anzulocken.
Sein Verstand arbeitete auf Hochtouren. Er kannte die Gewohnheiten von Spinnen. Er wusste, dass sie etwa anderthalb Jahre ohne Nahrung auskamen, um sich dann in einem solchen Zustand gefräßig auf alles Lebende zu stürzen, und so wurde ihm auch klar, dass es nur eine Frage der Zeit war, bis sie ihn durch die schiere Anzahl überwältigen und seinen Körper gnadenlos verzehren würden. Hier in der Dunkelheit, nur bewaffnet mit einer Taschenlampe, schien es so gut wie aussichtslos, ihnen zu widerstehen. Es war völlig unmöglich, den Weg zurückzulaufen, den er gekommen war, denn die Felsentür hatte ihm den Rückzug abgeschnitten. Er konnte nur vorwärts gehen. Und genau das tat er auch, die Spinnen vom Gesicht streifend, als er voranschritt, in der verzweifelten Hoffnung, die Vorsehung möge ihm einen Weg zeigen, wie er durch das enge kamingleiche Loch am Ende der Höhle entkommen könne. Er arbeitete sich so gut voran, wie es nur irgend ging, seinen Hut tief über die Augen gezogen, sein Kragen hochgestellt, und stetig nach den zubeißenden, gefräßigen Arachnaiden schlagend.
Undeutlich nahm er wahr, wie sich das nebelhafte Licht auf der gegenüberliegenden Seite der Höhle verstärkte, als es sich jener Ecke näherte. Und tatsächlich begann die Öffnung eine klare Gestalt anzunehmen. Wenn es ihm gelang, nur noch eine kurze Spanne Zeit durchzuhalten, würde er dort entkommen können. Doch schon plagten ihn große Schmerzen in allen Teilen seines Körpers. Ihm wurde schwindlig – ob aus Furcht oder des Giftes wegen, konnte er nicht sagen – Hände und Gesicht begannen von den Bissen wahrnehmbar anzuschwellen.
Und dann blieb er stehen – in eisigem Schrecken!
Direkt vor dem Loch, das ihm eine Flucht von diesem grausigen Ort versprach, einen Ausgang zum guten alten Sonnenschein an der Oberfläche, nahm er die Form der gigantischsten Spinne war, die er je in seinem Leben erblickt hatte! Von dort, wo er stand, schien sie, soweit er das in seinem benebelten Zustand einschätzen konnte, über einen halben Meter groß zu sein. Sie gehörte zu einer Gattung, von der er zwar gelesen hatte, doch sie war, soviel er wusste, noch niemals von den Augen eines Weißen erblickt worden – die Goldene Monsterspinne, beheimatet in den Tropen. An den Stellen, an denen das Licht von oben auf sie fiel, spiegelte sich der Glanz ungetrübten kostbaren Metalls – das Gold, von der sich ihr Name ableitete.
Seltsam genug – je weiter er sich zu ihr vorwagte, desto mehr von den kleineren Biestern fielen trotz ihrer Wildheit von ihm ab und blieben zurück. Jetzt stand er im Zirkel des Tageslichts, und das half ihm, sie endgültig abzustreifen. Viele verendeten unter seinen knirschenden Absätzen.
Kein Wunder, dass sie sich davonmachen“, dachte William vage. „Die fette alte Dame hat ausreichend Kapazität, diese kleinen Fische allesamt zu verspeisen, wenn sie ihr zu nahe kämen.“
Nach dem ersten Schock raffte er seine Kräfte zusammen und näherte sich weiter – in Erwartung des unausweichlichen Showdowns. Er würde kämpfen müssen, und zwar auf Tod und Leben. Entweder er würde dran glauben - oder die Riesenspinne.
Die Kreatur bewegte sich keinen Millimeter, als er sich näher und näher heranschlich – erbarmungslos starrten ihre goldenen Augen. Sie bewahrte auch dann ihre meisterhafte Gelassenheit, als William, alles auf eine Karte setzend, mit seiner Stahl-Angelrute ausholte in dem Bestreben, das Biest mit dem Rohr in zwei Teile zu spalten.
Er hatte gut gezielt. Das wusste er bereits, bevor der Schlag fiel. Das Rohr sauste scharf und präzise auf den Mittelpunkt des Spinnenkörpers. Und dann sah William etwas, das ihn fast zusammenbrechen ließ vor Erleichterung, etwas, das seine Sinne einen Moment lang weigerten zu glauben. Anstatt dass das Tier sich in Todesqual wand, zerschellte es, nicht unähnlich einer dämonischen Erscheinung, mir einem metallischen Scheppern und Klirren!
Es dauerte eine geraume Zeit, bis William seine Sinne wieder so weit beisammen hatte und seine Beine wieder so kräftig waren, dass er den Mut aufbrachte, sich die Resultate dieser seltsamen Verwandlung anzusehen.
Als er es tat, sah er, dass die Spinne aus goldenen Münzen bestanden hatte, die so kunstvoll zusammengeklebt waren, dass sie das Tier perfekt imitierten.
Und als er wieder zusammenhängend denken konnte, ahnte er, was es damit auf sich hatte. Der alte Hicks hatte zwei Götter: sein Geld, von dem nur wenige wussten, und die Spinnen, die er ausbrütete und liebte. Er hatte sein Vermögen hier unter den wachsamen Augen der Spinnen platziert. Das Arrangieren einiger Münzen zu der Form einer großen Spinne war ein verschrobener Ausdruck seines Wahnsinns – eine Fusion seiner Verehrung für beide Götter.
Und getreu ihres Auftrags, den sie vor vielen Jahren erhalten hatten, waren die Spinnen in ihrer tödlichen Wachsamkeit fast erfolgreich gewesen...
William kroch aus der Höhle so schnell er nur konnte, doch nicht ohne die Münzen in seine Taschen und seinen Hut zu stopfen. Draußen im herrlichen Sonnenschein atmete er frei, und er spürte bald zu seiner Erleichterung, das keiner der Bisse ihm auf längere Sicht - von einigen schmerzliche Unannehmlichkeiten abgesehen - zu schaffen machen würde.
Dies Abenteuer brachte ihm zwei merkwürdige abergläubische Vorstellungen im Zusammenhang mit Spinnen wieder ins Gedächtnis: dass Spinnen ihre Netze nie in der Nähe von Gold anbringen und sich Gold auch nicht nähern, und dass im Herbst, wenn die Spinnen brüten, und die Jugend in die Welt zieht, ein feines Garn durch die Luft fliegt. Wer ihm folgt, den leiten die Feen zu großem Reichtum.
Originaltitel:
Fairy Gossamer
Weird Tales, Dezember 1924
Übersetzung: Matthias Käther © 2020


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