Montag, 29. Mai 2023

Winston K. Marks: Die Körperformer kommen! (1955)

 


Winston K. Marks (1915-79) gehört zu meinen Favoriten unter den SF- und Horror-Autoren. Nach schüchternem Start im legendären Fantasy-Magazin „Unknown“ in den Vierzigern schwieg er einige Jahre – vermutlich kriegsbedingt –, um dann sein Hauptwerk in den 50ern zu schreiben – und für immer zu schweigen. Ein erstaunlicher Typ, der fast an alle renommierten SF-Magazine der Ära Qualitätsware verkaufte und doch bis heute selbst in Amerika kaum (noch) bekannt ist. Vielleicht, weil seine Art, seltsam zu sein, nicht in die 50er passte. Hätte sie besser in die psychodelischen New-Wave-Jahre der 60er gepasst? Ich weiß nicht recht. Marks Blasphemien scheinen in kein Zeitalter zu passen. Sie (ver)stören überall und immer, auch wenn er seine Pillen oft mit einem hinreißenden trockenen Humor versüßt.

Nicht alle seine Storys treffen ins Schwarze. Doch es gibt eine Reihe echter Meisterwerke. Sein Kanon ist überschaubar. 62 Kurzgeschichten hat er hinterlassen, erst sieben wurden ins Deutsche übersetzt; eine übrigens von mir für den dritten Teil der Pulp-Fiction-Serie beim BLITZ-Verlag, die dieser Tage erscheint (Fantastic Pulp 3), und die ich zusammen mit Zwielicht-Herausgeber Michael Schmidt veröffentliche.

Diese Geschichte hier illustriert blendend Marks satirisches wie fantastisches Potential. Aliens sind gefährlich, Invasionen können jederzeit stattfinden - aber vielleicht haben wir uns vom Grauen, das diese Wesen auslösen können, bisher eine ganz falsche Vorstellung gemacht ...


Warum ausgerechnet ich? Warum mussten sie von vier Milliarden Menschen auf der Erde ausgerechnet mich auswählen?

Und wenn es schon geschehen musste, warum konnte es nicht geschehen, bevor ich Betty traf und mich in sie verliebte? Wissen Sie, Betty und ich wollten eigentlich morgen heiraten. Wir hätten geheiratet. Morgen.

Morgen, in der Tat! Was für ein grässlicher Gedanke! Wie kann ich es Betty erklären? Wem kann ich es überhaupt erklären? Ich kann ihr nicht gegenübertreten. Und was sollte ich am Telefon sagen? „Tut mir leid, Betty, ich kann dich nicht heiraten. Ich bin nicht mehr ganz – menschlich ..."

Keine Witze, Kelley! Ganz im Ernst: Ich bin nüchtern und wach - und es ist passiert. Betty zu heiraten kommt nicht mehr in Frage, selbst wenn sie dich so haben wollte, wie du jetzt aussiehst. Aber so fies bist du nicht!

Hör auf, nackt und zitternd vor dem Spiegel zu stehen, nach Narben zu suchen und deine Finger und Zehen zu zählen. Du hast schon hundertmal Inventur gemacht, und es kommt immer falsch heraus. Und das wird auch so bleiben, es sei denn ... SIE kommen zurück. Aber das ist hoffnungslos. Sie würden mich nie wieder finden. Nicht bei all den vielen Menschen auf der Welt. Außerdem schien es ihnen völlig egal zu sein. Genau wie es einem Kind egal ist, was mit einem Klumpen Knete passiert, wenn es ihn aus Langeweile in diese und jene Form presst.

Von wo sind sie gekommen? Oder müsste man eher fragen, nach dem, was sie „geredet" haben: von wann sind sie gekommen? Würde es mir etwas nützen, wenn ich es wüsste?

Ich saß in meiner Junggesellenwohnung, trank eine Dose Bier und versuchte, ein Kreuzworträtsel zu lösen, um müde zu werden. Ich war nicht besonders hibbelig, wie es der Bräutigam am Vorabend seiner Hochzeit eigentlich sein sollte. Ich war einfach nur um Mitternacht hellwach und wollte müde werden, damit ich mich richtig ausschlafen konnte, wenn ich ins Bett ging.

Ich saß einfach da und versuchte, mir ein Wort mit zwei Buchstaben für "Sonnengott" auszudenken. Dabei musste ich an das Gold in Bettys Haar denken, wenn die Sonne am Strand darauf schien. Und schon bald starrte ich nur noch ins Leere, sehnte mich nach Betty und wünschte mir, die nächsten zwölf Stunden meines Lebens würden verschwinden und wir könnten zusammen zu unserem kleinen Häuschen am See fahren.

Ich starrte in den leeren Raum ... Dann war er plötzlich nicht mehr leer. Da waren diese beiden großen Kugel-ähnlichen Dinger vor mir, etwa einen Meter im Durchmesser ... Wenn man sich dazu durchringen will, dass sie so etwas wie einen „Durchmesser“ hatten. Sie sahen eben wie Kugeln aus, denn ihre Oberflächen waren aus glänzendem, spiegelndem Stahl. Aber sie hatten ungleichmäßig verteilte, glatte Unebenheiten. So ähnlich wie die unregelmäßigen Hügel auf einer Kartoffel, sie waren also nicht wirklich rund.

Das Licht meiner Lampe reflektierte seltsam auf ihnen, und mein eigenes Bild spiegelte sich in den verzerrten, reflektierenden Rundungen wider. Wie diese Spaß-Spiegel auf dem Jahrmarkt, nur verrückter ... und überhaupt nicht lustig. Angst ist nie lustig. Und ich hatte Angst. Ich könnte schwören, dass ich die Angst schmecken konnte. Sie lag salzig auf meiner Zunge. Als ich versuchte zu schreien, fühlte sich mein Gaumen wie alter Beton an.

Dann „sprach“ eines von ihnen. „Es ist lebendig! Es ist intelligent! Es spürt unsere Anwesenheit!"

Ich empfing reine Gedanken, keine Worte. Aber der Mensch denkt nur in Worten. Und ihre Gedanken fischten passende Worte aus meinem Unbewussten, um sie für meine Assimilation zu nutzen.

Telepathie? Unmöglich! Welche gemeinsamen Bezugspunkte könnte ich mit diesen beiden unvorstellbar fremden Lebensformen haben?

Die Antwort peitschte auf einer intuitiven, unterschwelligen Ebene zu mir zurück: „Der Gedanke ist eine universelle Energiemanifestation. Die Sprache ist nur das unbeholfene Vehikel für den Gedanken!“


Zwischen mir und den Aliens gab es keine solche Barriere.

„Offensichtlich intelligent", stimmte das andere zu. „Spürst du seine Gammastrahlung? Schade, dass sie so schwach ist. Es wäre interessant, wenn er mit uns kommunizieren könnte."

Ich stotterte laut: „Aber-aber ich kann mit euch kommunizieren. Ich verstehe alles ..."

Sie schenkten meinen Worten keine Beachtung. "Ja, das ist typisch für diese alten, organischen Lebensformen. Wenn ich mich recht erinnere, benutzen sie eine Art physische Vibration ihres gasförmigen Mediums, um untereinander zu kommunizieren ..."

„Apropos", unterbrach das andere, „dieses gasförmige Medium scheint Sauerstoff zu enthalten. Wir sollten nicht zu lange bleiben, sonst rosten wir, und sie machen uns bei der Rückkehr die Hölle heiß."

„Leg doch ein bisschen Chrom auf, wenn es dich stört. Wir werden so oder so in der Hölle landen, wenn Mama ..."

Wirklich – Mama, das ist das Wort, das sich in meinem Kopf bildete!

„... rausfindet, wo wir gewesen sind. Aber ich bin fasziniert von diesen Kreaturen aus Fleisch und Blut. Ich frage mich, wer diese plumpe Monstrosität da erfunden hat."

Es meinte mich. Es rollte etwas näher heran, und das andere folgte mit einem unsicheren Wackeln. „In der dritten Klasse hatte ich mehr auf dem Kasten als er."

„Quatsch! Du wärst in Metaplastik fast durchgefallen."

„Na ja, du bist durchgefallen, also halt die Klappe.“

„Ach, spiel dich nicht so auf. Hm. Ich denke, das Ding hier sieht ziemlich praktisch aus. Ausgewogen ..."

„Genau, was ich meine. Schau dir diese einfallslose Bi-Symmetrie an. Zwei Arme, zwei Beine, zwei Augen, fünf Finger an jeder Hand, fünf Zehen an jedem Fuß. Eins steht fest: der Erfinder war eher ein Mechaniker als ein Künstler. Angesichts der Schwerkraft gibt es keinen Grund, warum ..."

„Und wie würden Sie das Design verbessern, Herr Naseweis?"

„Tja ... Zuerst sollten wir mal die Verpackung entfernen."

Meine Kleider verließen meinen Körper sanft, aber lautstark: Sie fielen ab unter heftigen Reiß-Geräuschen. In zwei Sekunden saß ich nackt da, meine Kleider lagen wie abgerissene Binden auf dem Boden.

Ich schrie: „He, was zum Teufel ..."

Die Aliens hatten keine sichtbare Bewegung gemacht, aber offensichtlich eine mächtige Energie eingesetzt, um mir alles vom Leib zu reißen, was ich trug: Hemd, Hose, Unterwäsche und sogar meine Schuhe … und das alles, ohne meine Haut auch nur zu streifen.

Ich sprang auf die Füße, nackt wie eine Gummi-Ente. Sie schwebten zwischen mir und der Tür, und wirkten seltsam unbeholfen.

„Achtung! Es ist aufgeschreckt. Lass es nicht entkommen!"

„Versucht, mich aufzuhalten!", schrie ich und spannte meine Muskeln für einen Sprung über die beiden Eindringlinge an. Plötzlich schien die Luft um meinen schwitzenden Körper so dickflüssig zu werden wie Sirup. Ich konnte zwar atmen, aber jegliche schnelle Bewegung war mir verwehrt. Mein großer Sprung erstarb, bevor mein rechter Fuß den Boden überhaupt verließ. In Zeitlupe zog ich mich panisch wieder auf meinen Stuhl zurück und sank langsam durch die zähe Atmosphäre in eine sitzende Position auf meiner zerrissenen Kleidung.

„Ja, eine sehr unbeholfene, unästhetische Lebensform. Tatsächlich widert mich diese Bi-Symmetrie ziemlich an. Zugegeben, die beiden Arme sind praktisch, aber zweifellos erledigt der linke oder der rechte 90 Prozent aller Arbeiten. Warum sollten sie also gleich gebaut sein? Schau mal, ich könnte ..."

„Warte!", mahnte der andere. "Das ist ein empfindungsfähiges Wesen. Du kannst nicht ohne ..."

„Natürlich nicht!"

Etwas vibrierte in meiner Wirbelsäule, und ich wurde kurz ohnmächtig - für den Zeitraum eines Atemzuges, wie mir schien.

„So, das ist besser."

„Ja, da muss ich dir recht geben."

Ein schwaches Kribbeln in meinem linken Arm veranlasste mich, ihn anzustarren. Unglaublich! Seine Länge war gleich geblieben, aber sein Durchmesser hatte sich auf zwei Drittel reduziert, und es fehlten zwei Finger an der Hand. Der Daumen war noch vorhanden, aber er sah jetzt mehr wie eine Klaue als wie ein menschlicher Finger aus. Ich versuchte zu schreien, aber das fühlte sich an wie eine klebrige Luftblase, die meine Lippen nie erreichte.

„Was ist mit den pedalförmigen Anhängseln?"

„Nun ...", es zögerte kurz. „In Anbetracht der Art der Fortbewegung scheint die Bi-Symmetrie hier eher gerechtfertigt. Aber warum zwei? Warum nicht vier, zwei vorn und zwei hinten?"

„Weil die Sehorgane nur in eine Richtung zeigen."

„Das lässt sich ändern."

Meine Wirbelsäule brummte, und als ich wieder nach unten blickte, hatte sich eine Flut von merkwürdigen Veränderungen vollzogen. Meine Knöchel endeten in der Mitte meiner Füße, und meine Fersen waren verschwunden. An ihrer Stelle waren ebenfalls Zehen.

„Schau, mit dem doppelgelenkigen Knie kann er jetzt vorwärts und rückwärts laufen, ohne zu sich umzudrehen ..."

Dann wurde mir bewusst, dass ich gleichzeitig nach vorne und nach hinten sehen konnte.

„Das Ding da ... In der Mitte! Ist sicher überflüssig."

„Ja."

Wamm!

Es war verschwunden.

„Ein Tentakel, der zum Beispiel am rechten Hüftknochen befestigt ist, könnte sehr nützlich sein."

Wamm!

Meine rechte Hüfte kribbelte. Aus ihr ragte ein peitschenartiges Anhängsel hervor, das etwa einen Meter lang, braun und lederartig war, sich auf den Durchmesser eines Bleistifts verjüngte und in einem rosafarbenen Fleischpolster endete, das reichlich mit einer Art Geschmacksknospen ausgestattet war. Ich konnte jedes Haar im Flor des Teppichs, auf dem es ruhte, spüren: fühlen, schmecken, riechen und - hören! Vier Sinnesorgane in einem!

„Na wird doch!", rief eins der Aliens.

Wamm!!

Wamm!!

Die augenblicklich wirkenden Narkosemomente kamen in rascher Folge über mich, und jedes Mal wurde ich eines normalen menschlichen Glieds beraubt oder war im Besitz einer außergewöhnlichen Ergänzung meiner Anatomie - ohne mehr als das erwähnte leichte Kribbeln zu spüren.

Aus ihren mentalen Bemerkungen schloss ich, dass ich meinen Blinddarm, meine Mandeln und ein Muttermal auf meinem linken Schulterblatt verloren hatte. Die meisten der Gegenstände, die ich dafür erhielt, waren zu grotesk, um sie näher zu beschreiben.

„Zwei zusätzliche Herzstrukturen und die Anpassung der Nebennieren sollten nun eigentlich Unsterblichkeit gewährleisten", erklärte einer der Eindringlinge.

„Was wahrscheinlich zu einer Überbevölkerung in zehn Generationen führen würde", erinnerte ihn der andere.

„Richtig. Das sollte ich kompensieren."

Wamm! Und das tat er!

„Mist! Ich roste."

„Leg etwas Chrom auf, wie oft denn noch!"

„Ich glaube, ich höre Mama rufen. Lass uns abhauen, bevor sie ..."

Zu spät. Eine dritte holprige Kugel materialisierte sich hinter den beiden Aliens, und augenblicklich durchströmte ein Schwall mütterlicher Schimpfworte den Äther.

„Ich habe das ganze Kontinuum nach euch beiden abgesucht! Was stellt ihr denn schon wieder an?"

„Wir wollten gerade zurück, Mam."

„Ehrlich, Mam. Wir sind nur hier, um zu üben."

„Üben?", schrie Mam. „Üben an diesem armen, primitiven, organischen Wesen?"

Ich fühlte mich in der Tat arm und primitiv. Gelähmt vor Angst wie ich war, grenzte es an ein Wunder, dass ich meinen Verstand während dieses wachen Albtraums nicht verloren hatte.

„Wir haben ihm nicht wehgetan."

Ihr setzt das Viech genauso wieder zusammen, wie ihr es gefunden habt, verstanden? Und zwar auf der Stelle!"

„Ja, Mam! Mal sehen ... Wie war es denn?"

„Einfache bilaterale Symmetrie, du Idiot!"

„Oh, ja, zwei von allem, außer..."

„Moment noch! Denk an an die Narkose."

Wamm!

Als ich dieses Mal aufwachte, waren sie weg. Meine elektrische Uhr summte leise auf dem Kaminsims und verriet mir die unsinnige Information, dass seit der Ankunft meiner Besucher weniger als eine Stunde vergangen war.

Ich taumelte auf die Beine und stemmte mich gegen dicke Luft – was überflüssig war, denn die Atmosphäre war wieder nur gewöhnlich: dünn und substanzlos. Meine Hand fiel auf meine rechte Hüfte.

Der Tentakel war verschwunden.

„Gott sei Dank!" hauchte ich, und für einen Moment versuchte mein gesunder Menschenverstand darauf zu bestehen, dass ich nur für ein paar Minuten eingeschlafen war und die ganze fantastische Szene geträumt hatte.

Aber nein! Warum sollte ich splitternackt sein? Und warum lagen meine Klamotten zerfetzt in meinem Sessel, wie Bandagen, die mit einem riesigen Rasiermesser zerschnitten worden waren?

Ich ballte meine linke Faust und fühlte mich durch den beruhigenden Druck von vier Fingern und einem Daumen in meiner Handfläche wohl. Aber dann trat ich in mein Schlafzimmer und stand vor meinem Ganzkörperspiegel - wo ich seither wie angewurzelt stehengeblieben bin.

Und eine Frage kreist in meinem Kopf, unterbrochen nur von Schimpfwörtern und Schluchzern der Verzweiflung. Wie kann ich Betty jetzt heiraten? Wie kann ich ihr gegenübertreten, geschweige denn sie heiraten?

Welche Frau auf Erden könnte sich dazu durchringen, einen Mann zu heiraten, der zwei Köpfe hat und keinen... Nabel?


Anmerkung des Übersetzers: Sicher hatte der Autor pikanteres im Sinn als einen Nabel – doch das ließ sich im Jahr 1955 in einem SF-Magazin wohl kaum aussprechen ...


Winston K. Marks

Kid Stuff

Infinity SF, November 1955

Übersetzung: Matthias Käther © 2022

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