Montag, 29. Mai 2023

Emil Petaja – Die Aussichtsplattform (1951)

 



Emil Petaja (1915-2000), ein amerikanischer Autor finnischer Abstammung, war berühmt für seine Romane aus den 60er und 70er Jahren, in denen er finnische Folklore in seine Fantasy- und SF-Abenteuer einfließen ließ, was ihm bis heute den Ruf eines besonders originellen und aparten Schriftstellers in diesen Genres beschert. Weniger bekannt ist, dass sich der junge Petaja mitten ins Gewühl der prominenten Horror-Szene der 30er bis 50er Jahre stürzte – er gilt als einer der ersten einflussreichen Fans, die praktisch mit jedem Autor in Kontakt waren – mit dem menschenscheuen Lovecraft stand er ebenso auf gutem Fuß wie mit Ray Bradbury oder August Derleth.

Die Zeitschrift Weird Tales war seine erste Heimat – doch die Erzählung „Die Aussichtsplattform“ war wohl selbst diesem schrägen Blatt zu gewagt. Eine verruchte alte Ex-Nutte als Vormund eines Waisenkinds – das war nicht gerade der Stoff, aus dem amerikanische Träume in den 50ern gemacht waren.

Petaja bot die Geschichte dann Fantastic Adventures an. Dort saß der Krimi-Autor Howard Browne auf dem Redakteursthron, doch Petaja kannte den Klatsch der Szene wohl zu gut, um nicht zu wissen, dass der kein Interesse an Horror und Dark Fantasy hatte und die Auswahl komplett William L. Hamling überließ, einem der aufgeschlossensten Redakteure der Ära überhaupt.

Und Hamling hatte durchaus Sinn fürs Boshafte und Verschmitzt-Abgründige. Vielleicht war er 1951 der einzige Mensch im Universum, der sich für diese Art horribler Frechheit begeistern konnte und auch noch den Mut hatte, so etwas zu drucken. Der Instinkt gab ihm recht – die kleine düstere Farce ist auch heute noch ein Schmuckstück, das herausragt, selbst auf den lebensprallen und durchgeknallten Seiten von „Fantastic Adventures“. Sie klingt im Ton fast schon wie aus den Achtzigern, Roald Dahl kommt einem in den Sinn …


1.


Meine Tante Ermintrude Calder war vielleicht nicht die verruchteste Frau, die San Francisco je gesehen hat, aber ich bestehe darauf, dass sie zu den Top Ten gehört. Ich pflegte sie öfter zu fragen: „Tantchen, warst du nicht `ne Bordsteinschwalbe in der Maiden Lane, damals an der Barbary Coast, als die „Maiden“ Lane alles andere war als jungfräulich?“

Tantchen fixierte mich mit ihren unwahrscheinlich gelben Augen. Ihre blassen, schmalen Nasenlöcher zuckten und sie schlug nach mir. „Ganz sicher nicht!“ Und sie fuhr ihre juwelenbesetzten Krallen in einer wütenden Geste aus.

Was warst du dann?“

Ich liebte es, sie auf diese Weise aufzuziehen. Ich liebte es, zu sehen, wie sich ihr dreieckiges Maskengesicht verfinsterte und ihre Schultern sich unter der prächtigen lila Seide versteiften. Tante Ermintrude bemalte sich zwar bunt, doch hübsch konnte man sie nicht nennen. Hübsch war sie nie gewesen. Zum einen wirkte sie zu knochig, und dann waren da noch ihre seltsam geformten gelben Augen. Unheimlich, um das Mindeste zu sagen. Tante Ermintrude war alt, alt, alt. Mir schien, dass sie schon immer so gewesen sein musste: Alt und hässlich und absolut faszinierend.

Ich war neun, als sie mich in einem Winkel ihres „Pavillons“, wie sie Aussichtsplattform nannte, dabei erwischte, wie ich ihr französisches Lieblingsparfüm aussoff.

Damals bildete ich mir ein, dass sie eine alte Hexe war, die sich daran erfreute, kleine Jungs zu verspeisen, und ich muss zugeben, dass sich an dieser Einschätzung im Laufe der Jahre nur wenig geändert hat.

Später wurde mir klar: Sie empörte sich durchaus nicht darüber, dass ich ihr Eau de Cologne getrunken hatte. Es war ihr völlig egal, was ich trank und ob es mich umbrachte. Und sie hatte jede Menge Parfüm aller Art. Man sagt, dass man sich an Geruchsempfindungen am lebhaftesten erinnert, und ich kann das nur unterschreiben. Ein Hauch von diesem duftenden Heliotrop-Parfüm, und mir bricht der kalte Schweiß aus. Nein, es war das Betreten ihrer Aussichtsplattform, das Tante Ermintrude so rasend machte.

Diese Plattform, eine Art überdachte Terrasse, die sich nur von Tante Ermintrudes Wohnzimmer neben ihrem Schlafzimmer im dritten Stock aus betreten ließ, sah aus wie jede andere architektonische Konstruktion dieser Sorte; vielleicht war sie etwas länger, und durch ihr barock gemustertes Geländer hatte man einen bezaubernden Blick auf die Golden-Gate-Bridge und ihre Umgebung, bis weit auf den Pazifischen Ozean hinaus. Diese Aussicht war vermutlich die Daseinsberechtigung des Hauses.

Es war dreist von mir, mich die Treppe hinauf und in Tantchens Zimmer zu schleichen, und von dort aus auf ihre Plattform, wo ich dachte, dass mich niemand dabei erwischen würde, wie ich den Inhalt dieser faszinierenden Flasche probierte, die ich von ihrem Schminktisch gestohlen hatte. Aber woher sollte ich wissen, dass die Plattform für alle außer Tantchen tabu war und dass jeder, der beim Beschnuppern der kühlen Meeresbrise ertappt wurde, wahrscheinlich in einem verstümmelten Zustand zweihundert Meter tiefer auf den Klippen landen würde?

Und tatsächlich hätte sie mich fast umgebracht, die alte Hexe.

Man könnte sagen, ich sollte mich schämen, meine alternde Verwandte so zu ärgern, wie ich es später tat. Doch Tantchen liebte das! Sie genoss es, wenn man ihr vorwarf, sie sei böse. Dadurch fühlte sie sich wieder jung. Und wenn ich sie lange genug einwickelte, würde sie mir nach ihrem Tod dieses Haus und ihr ganzes Geld vermachen.

Es gab noch andere mögliche Erben. Wir sind eine sorglose und weit verstreute Familie. Aber Tantchen und ich hatten einen ganz besonderen, unausgesprochenen Draht zueinander. Wir waren anders als die andern.

Nach dem Plattform-Vorfall - dem ersten Plattform-Vorfall, genauer gesagt- wurde ich von meiner liebevollen Mutter in die öffentliche Schule geschickt. Für den normalen Spießer von der Stange sind alle Mamas natürlich süße Schätzchen, die man bis zu ihrem Tod und auch danach noch lange in Ehren hält. Ich selbst sehe das nicht so. Aber vielleicht bin ich ja auch herz- und gefühllos. Tante Ermintrude, selbst wenn sie mir was hinter die Ohren gab, hatte mehr Anziehungskraft auf mich als die süße Mama mit all ihren Tränen und ihrem ewigen Getue. Da Mama niemanden sonst hatte, den sie verwöhnen konnte, verwöhnte sie mich. Das hat sie ganz gut gemacht, muss ich zugeben. Sie wird es sehr genossen haben, und ich gönne es ihr. Aber als ich mich mit fünfzehn Jahren gähnend an ihrem Sarg wiederfand, und sah, wie meine Mutter der anderen Mutter, der Erde zurückgegeben wurde, war ich durchaus der Meinung, dass sie sich das selbst eingebrockt hatte.

Nicht, dass ich Mama nicht mochte. Sie hat mich halt nur gelangweilt.

Ich erinnere mich noch sehr gut an den Tag ihrer Beerdigung. Ich erinnere mich vor allem daran, weil meine neuen Stiefel ganz schlammig wurden und ich Mama vage die Schuld an diesem Ärgernis gab. Und auch, weil ich einen Zettel von Tante Ermintrude erhalten hatte, den ich während der ganzen Zeremonie aufgeregt in meiner Manteltasche umklammerte.

Tante Ermintrude wollte mit mir über meine Zukunft sprechen. Von Mamas Tod war nicht die Rede. Ich sollte noch heute Nachmittag um genau drei Uhr zu ihr kommen. Nachdem sie mich examiniert hatte, sollte alles Weitere entschieden werden.

Tantchen empfing mich persönlich an der Tür.

Deine Stiefel sind schlammig“, sagte sie. „Wisch sie ab.“

Sie sah mir genau zu, wie ich den Schlamm von ihnen abkratzte. Schließlich war sie zufrieden und nickte mir zu. Ich trat in die furchtbar große, schrecklich düstere Eingangshalle.

Wir sind ganz allein in diesem Haus“, sagte Tantchen.

Ich starrte sie an. Sie war noch genau so, wie ich sie in Erinnerung hatte, genau so aufregend hässlich. Und ihr Heliotrop-Parfüm wirbelte etwas in meinem Gedächtnis auf. Plötzlich erinnerte ich mich an die Plattform und an das, was dort geschehen war. Ich berührte mein Gesicht, wo die kleinen weißen Narben prangten, die ihre glitzernden Ringe in mich hineingebissen hatten. Ich keuchte vor Erregung und Schrecken, und mein Gehirn schwirrte, als der Duft ihres Parfüms mich traf.

Sie stand ganz nah bei mir, dort in der düsteren Eingangshalle ihres Hauses in Russian Hill, und schaute mit diesen seltsamen gelben Augen auf mich herab.

Wir sind ganz allein“, sagte sie wieder. „Du zitterst ja, Arthur. Zieh deinen Mantel aus und wärm dich am Kaminfeuer. Du wirst dir wahrscheinlich eine Lungenentzündung holen, wenn du bei diesem Regen draußen bist. Deine liebe Mama hat nie viel Rücksicht auf dich genommen.“

Der Blick, den sie mir zuwarf, als sie mir den Mantel abnahm, brachte mein Blut in Wallung. Mir war zum Lachen zumute. Es gibt nichts, was zwei Menschen einander näher bringt, als eine verruchte Idee, die sie gleichzeitig genießen.

Also gut, hör auf zu kichern und komm rein.“

Ich tat wie geheißen.

Setz dich hier auf die Couch und rede mit mir.“

Es war herrlich, mit dieser verruchten Frau am knisternden Feuer zu sitzen und Kaffee mit ein wenig Brandy zu trinken. Mama hatte mir nie erlaubt, Kaffee zu trinken, und allein der Gedanke an den Brandy machte mich ganz kirre. Das hier war der Höhepunkt meines Lebens, und Tante Ermintrude avancierte unwiderruflich zu meiner Lieblingsperson.

Sie warf mir verstohlene Blicke zu.

Hast du keine Angst vor mir?“, fragte sie.

Nein.“

Sie sagen, ich sei eine Hexe.“

Ich habe keine Angst.“

Die Kinder in der Nachbarschaft erfinden böse Reime über mich, aber sie hauen ab, wenn ich die Straße entlanggehe.“

Die spinnen!“ Da war mir ganz sicher. Das Bild von den Blagen, das ihre Worte in mir hervorrief, ließ mich verächtlich lächeln. Pack!

Vielen Dank, Arthur!“ Tante Ermintrude strahlte auf mich herab, vielleicht ein bisschen zu ghulmäßig.

Ich habe vor nichts Angst!“ prahlte ich.

Vor nichts?“

Nein.“

Gut!“ Tantchen gackerte und wippte in ihrem Stuhl zurück. Sie war zufrieden mit mir, das konnte ich sehen. „Wie alt, bist du nochmal, Arthur?“

Beinahe fünfzehn.“

Was haben sie dir über mich erzählt?“, fragte sie. Als sie den Kopf neigte und sich ganz nah vorlehnte, konnte ich sehen, dass sie eine rote Perücke trug. Ich konnte die Netzlinie auf ihrer gerunzelten Stirn erkennen. Ich starrte sie an.

Und?“, schnauzte sie.

Ich leckte mir über die Lippen. „Eines der Kinder in der Schule meinte, du seist eine „Madam“. Was heißt das?“

Ist doch egal. Was auch immer es bedeutet, das ist alles schon lange her. Wäre schön, wenn die Leute sich mehr um ihren eigenen Dreck kümmern würden.“ Ihr Mund zuckte, und ich war mir nicht sicher, ob sie wütend oder amüsiert war. „Das sagen sie also immer noch, was? Nun, was sie nicht wissen ... oh, ho! Arthur, erinnerst du dich an den Tag, an dem ich dich auf meiner Plattform erwischt habe?“

Meine Hand berührte die kleinen Narben. Ich zuckte zusammen.

Wie könntest du das vergessen, hm? Arthur, weißt du, was ein Pavillon ist?“

Klar.“

Das war ein Wort, das mir nicht so schnell aus dem Sinn kommen würde. Sie hatte es mehrmals benutzt, während sie auf mich eindrosch.

Eigentlich ist es ein Balkon, aber ich nenne das Ding gern meinen „Pavillon“. Es ist eine Art langer Veranda, nur oben, und man geht hinaus und schaut sich die Aussicht an. Das ist Französisch, glaube ich.“

Ein neuer Gedanke kam mir in den Sinn. „Warum Pavillon? Ist dein Balkon anders als andere?“

Sie starrte angestrengt in das Feuer. Es war, als ob sie etwas Schreckliches und doch Faszinierendes sehen würde. Ich schaute auch dorthin. Ich wollte erblicken, was sie sah, aber alles, was ich erkennen konnte, waren die aufspringenden Flammen.

Ja, Arthur. Eine ganz andere Perspektive. Man hat eine etwas andere Aussicht als –“

Auf einmal kribbelten meine Haarwurzeln, und es schien, als würden viele kleine schleimige Tiere meine Wirbelsäule hinaufkrabbeln. Trotzdem reizte es mich zu sehen, was sie im Feuer sah ...

Arthur!“

Ja, Tantchen.“

Lauf nach oben und hol meinen Schal. Er liegt auf dem großen Stuhl vor dem Kamin in meinem Wohnzimmer. Du kennst das Zimmer.“

Sicher, Tantchen.“

Natürlich kannte ich das Zimmer. Es befand sich ganz am Ende des Flurs im dritten Stock. Ich hob Tantchens Schal auf und ging mit ihm zurück. Dann bemerkte ich die Tür, die zur Plattform führte.

Dem „Pavillon“.

Sie hatte ein undurchsichtiges Fenster, ein Fenster, das aus kleinen frostigen Milchglas-Spinnweben bestand. Auf der anderen Seite konnte ich nichts sehen. Das war meine Chance!

Meine Finger drehten gerade am kalten Türknauf, als in meinem Kopf eine Alarmglocke schrillte. Warum wollte die Tante, dass ich ihren Schal holte? Ja, warum?

Unten in der Stube war es kein bisschen kalt. Es war warm, sogar stickig. Die Art, in der sie mich hier nach oben geschickt hatte, wirkte ziemlich verschlagen. Das war ein Trick – ein Test!

Nun, darauf sollte ich nicht hereinfallen.

Ich unterdrückte meinen dringenden Wunsch, die Tür zur Plattform zu öffnen, drehte mich um und rannte die Treppe hinunter.

Hier ist dein Schal“, sagte ich atemlos zu Tantchen.

Ihre gelben Augen starrten mich an. Nach einer Minute zeigte sie ihre schmalen Zähne in einem grässlichen Grinsen. „So ist es brav“, sagte sie und legte ihn um.

Irgendwo im hinteren Teil des Hauses ging eine Tür. Die französische Uhr hinter uns schlug die volle Stunde. Tantchen murmelte, es sei schon spät, und wir müssten die „Sache“ regeln. Ein paar gezielte Fragen nach meinen Vorlieben in Bezug auf die Schule und meine Zukunft wurden gestellt.


2.


Die Jahre vergingen. Ich sah Tante Ermintrude nur kurz und in großen Abständen. Zunächst, weil sie es so wollte, und dann, weil ich mich im Laufe des Erwachsenwerdens zu sehr mit anderen Dingen beschäftigte, um mich viel um Tante Ermintrude zu kümmern. Sie war mein Futtertrog. Sie bezahlte alle meine Rechnungen. Das war alles, was ich von ihr verlangte. Zwei Freunde, mit denen ich mich während meiner Studienzeit angefreundet hatte, gingen im folgenden Jahr ins Ausland. Der eine war ein unreifer Künstler, der andere eine Art Komponist. Sie luden mich ein, mich ihnen anzuschließen und meine zweifelhaften schriftstellerischen Fähigkeiten ins Spiel zu bringen, um ein kultiviertes Trio zu bilden. Wie Sie sich vorstellen können, war das alles nur ein Vorwand, um auf den Putz zu hauen und den Mühen des Broterwerbs aus dem Weg zu gehen.

Tante Ermintrude war damit einverstanden, aber ein Brief von ihr – wie immer in schroffem Ton gehalten - machte deutlich, dass ich nach San Francisco zurückkehren sollte, wann immer sie mich brauchte. Es war während meines zweiten fröhlichen Jahres in Paris, als ihr Heimreisetelegramm eintraf, und mir war klar, dass ich es nicht ignorieren konnte.

Sie war krank. Ich wusste, dass sie ernsthaft krank war, ja sogar im Sterben lag. Tante Ermintrude war nicht die Art von Frau, die meine ausschweifenden Reisen unterbrach, weil sie Schnupfen hatte. Tante Ermintrude war eine große Anhängerin des Lotterlebens. Sie hatte einen großen Teil ihres Daseins damit verbracht, es sorglos zu genießen, und als ihr Lieblingsneffe durfte ich mich ebenfalls nach Herzenslust vergnügen.

Aber sie war auch in der Lage, mir den Geldhahn zuzudrehen, wenn ich ihr in dieser Krise nicht gehorchte.

Man könnte sagen, dass dies mein dritter Besuch im Haus von Tante Ermintrude war. Auf jeden Fall war es mein dritter wichtiger Besuch. Während meiner Schulzeit hatte ich nur bei ihr vorbeigeschaut, um ihr zusätzliches Geld zu entlocken, und bei diesen Begegnungen hatte ich immer einen Freund mitgebracht, um die Dringlichkeit meiner Forderung zu unterstreichen. Während dieser Kurzbesuche geschah nichts auch nur annähernd Interessantes. Meine Gedanken waren bei diesen Gelegenheiten so beschäftigt, dass diese Begegnungen sich eher wie langweilige, aber notwendige Bankgeschäfte ausnahmen.

Ich schnappte mir in der California Street eine Straßenbahn, obwohl ich nicht besonders sentimental bin. Ein Taxi wäre sinnvoller gewesen, aber irgendwie fühlte ich ein inneres Ziehen, fast, als ob ich so etwas wie ein Herz besitzen würde. San Franciscos Hügel haben, wie die Hügel Roms, geheime Kräfte, und ich behaupte: niemand kann hier länger zu leben, ohne sich der Stadt zu öffnen.

Ich war natürlich allein. Ich mag es nicht, allein zu sein, und bin es nie, wenn ich es vermeiden kann. In mir verbirgt sich kein einsamer Träumer. Ein sinnlicher Mensch, ja. Ein Phantast, ja. Ein Philosoph, nein. Leben und leben lassen, sage ich immer.

Ich war schon einige Jahre nicht mehr in San Francisco gewesen; College im Osten, dann Paris. Und jetzt, als die Straßenbahn bergauf fuhr, knarrend wie ein Schoner im steifen Wind, starrte ich wie ein Tourist auf die vertrauten Sehenswürdigkeiten.

Auf die erkerartigen Fassaden, die ab und zu von kleinen Parks unterbrochen wurden, auf die nebelblaue Bucht mit ihren täglich eintreffenden Schiffen, Lastkähnen und Fähren, die mir immer ein bisschen zu malerisch erschienen, um wirklich von praktischem Nutzen zu sein.

Auf den Morgenhimmel mit seinen leuchtenden grauen Wolken, die vom westlichen Meer herbeigeweht wurden.

Ich bekam gute Laune.

Ich blickte hinunter auf das, was einst die Küste von Barbary war, die Küste der Shanghai-Seeleute und der bösartigen „Sydney-Ducks“, [die australische Mafia, die im 19. Jh. SF unsicher machte]; die Küste der billigen fleischlichen Lüste. Ich fragte mich, ob die Gespenster des vergangenen Grauens je zurückkamen, um in diesen sündigen Straßen zu lauern und in alten Zeiten zu schwelgen.

Aber natürlich beherrschten vor allem Tante Ermintrude und ihr hässliches Haus meine Gedanken. Für mich war Tante Ermintrude das alte, sündige San Francisco. Als ich von meiner Seiten-Sitzbank herunterrutschte und den Rest des Weges zu Fuß weiterging, machte ich mir Sorgen um Tantchens Zustand.

Wie nahe sie dem Tod sein musste!

Ich tastete nach einer Zigarette, fand aber keine, also hielt ich an dem kleinen Fleischerladen an Tantchens Ecke. Der alte Italiener, der aus den Nischen seiner Fleischtruhen hervorwatschelte, zwinkerte mir eigenartigerweise zu. Vielleicht erinnerte er sich an mich, obwohl sein Walrossgesicht mir nichts sagte. Ich ging davon aus, dass er ein freundlicher, netter, liebenswerter Mann war, aber sein durchtriebener Blick irritierte mich.

Ich sagte ihm, was ich wollte, und er holte zwei Päckchen meiner Marke hinter sich hervor. Doch dann zögerte er. „Ah, Sie sein doch Neffe von Missus Calder?“

Ja, bin ich.“

Er lächelte, aber sein Lächeln war von einer schmierigen Freundlichkeit. Mr. Piggoti respektierte Tante Ermintrude. Aber er mochte sie nicht. Keiner in der Nachbarschaft mochte sie. Man mied sie. Sie hatten Angst vor ihr. Ich erinnerte mich daran, wie sie mir erzählte, dass die Kinder schlechte Reime über sie machten, sich aber versteckten, wenn sie auf der Straße auftauchte.

Ich habe gehört, sie sein sehre krank.“

Ja“, sagte ich.

Er starrte auf seine kräftigen Finger hinunter, als hätten sie sich plötzlich in Schlangen verwandelt. Dann ließ er meine Zigaretten auf den Tresen fallen, hob mein Geld auf und schenkte mir wieder dieses kranke Grinsen.

Würden Sie mir Gefallen tun, Signor?“

Vielleicht.“

Mein Junge, er iste auch krank. Kann Lieferung nicht machen. Würden Sie zu Missus Calder bringen dasse?“

Was zum Teufel ist das?“, fragte ich.

Und das zu Recht. Das Papierpaket des Metzgers, das er auf den Tresen gehievt hatte, blutete an den Rissen, an denen es verschnürt war, und eine Ecke war offen genug, um mir zu zeigen, dass sein Inhalt in die Mülltonnen des Schlachthofs gehörte und nicht in Tante Ermintrudes Küche.

Mr. Piggotis haarige Nase kräuselte sich.

Dasse sie kriegt immer.“

Immer? Sie müssen verrückt sein!“

Zweimal pro Woche! Si! Zweimal jede Woche!“, beharrte er. „Seitdem ich eröffnet diese Metzgerei. Immer dasselbe.“ Signore Piggotis Stimme klang protestierend, ja beinahe verzweifelt. Seine breiten Nasenlöcher vibrierten vor Abneigung.

Ich starrte ihn an.

Aber was in aller Welt macht sie denn damit?“

Ich nix wissen.“ Die Stimme des Metzgers war jetzt gedämpft und kehlig. „Sie bezahlt mich sehrre gut. Sie sagt, ich es niemandem verraten, und ich verraten niemandem. Sie sind Neffe. Sie bringen zu ihr. Sie fragen, was sie macht damit. Piggoti – er will nicht wissen!“


3.


Tantchen lag in dem großen Himmelbett des normalerweise unbenutzten Schlafzimmers im Erdgeschoss. Sie sah aus wie eine winzige braune Spinne auf all dem antiseptischen Weiß. Es war schockierend, sie ohne ihre rote Perücke und ihre Kriegsbemalung zu sehen. Sie hatte eine Glatze, ihr Gesicht war gesprenkelt und voller Falten. Aber irgendwie sah sie so menschlicher aus - bis auf diese gelben Augen.

Matilda“, schnauzte sie ihre Haushälterin schmerzhaft an. „Du hättest mich warnen sollen, wenn Arthur kommt. Ich wollte mich ein wenig zurechtmachen. Jetzt, wo er mich so gesehen hat, wie ich wirklich bin, wird er mich nicht mehr lieben.“

Pst, Tantchen. Ich bete dich an.“

Ich küsste ihre ledrige Wange und meinte es ernst. Ich ignorierte die ernste Miene des Arztes im Sterbezimmer, die forschen Blicke der Krankenschwester und Matildas Schniefen und begann, mit Tantchen zu flirten und versteckte Anspielungen auf ihr verruchtes und unanständiges Leben während meiner Abwesenheit zu machen. Ich sagte ihr, dass keine der Miezen, die ich in Paris gesehen hatte, auch nur halb so viel Schwung und Feuer hatte wie sie.

Ich schwärmte weiter und weiter, als ob ich damit den Tod auf Distanz halten konnte. Ich bedauerte nun sehr, dass ich Tantchen nicht öfter gesehen hatte, als noch Zeit dafür war, dass ich nicht weiter in das fantastische Geheimnis von Calder House und den „Pavillon“ eingedrungen war. Jetzt würde ich es nie erfahren ...

Der Arzt berührte meinen Arm und machte mit einer Geste deutlich, dass er mich unter vier Augen sprechen wollte. Ich schickte mich an, ihm ins andere Ende des Zimmers zu folgen.

Tante Ermintrude hielt uns auf.

Sie können mir alles ins Gesicht sagen, was Sie zu sagen haben, Doktor Hubbard“, krächzte sie mit einem Hauch ihrer alten Bösartigkeit. „Ich weiß, dass ich praktisch tot bin. Es ist nur noch eine Frage von Stunden. Oder habe ich nicht mal mehr die, Doktor?“

Doktor Hubbard presste seine Lippen zusammen.

Doktor!“, fauchte sie barsch. „Sie können mich noch nicht sterben lassen! Sie müssen mich bis zum Sonnenuntergang am Leben erhalten! Bis zur Dunkelheit! Sie müssen mir etwas geben! Geben Sie mir etwas!“ Sie fiel keuchend zurück.

Tun Sie, was sie sagt, Doktor“, befahl ich ihm. „Halten Sie sie am Leben, bis es dunkel wird – irgendwie!“

Er gab ihr eine Spritze. Ihr steifer Körper wurde schlaff wie der Tod. Ihr Mund zuckte, und sie lag still. So still, dass ich dachte, sie wäre gestorben. Eine Welle der Empörung überkam mich. Sie darf nicht tot sein! Weiß Gott, Tantchen hatte lange genug gelebt, aber sie wollte nur noch leben, bis es dunkel wurde.

Ich hatte auch persönliche Gründe, zu wünschen, dass sie durchhielt. Ich wollte ihr unglaubliches Geheimnis teilen. Ich war wie Tantchen. Ich hatte noch nicht die Zeit gehabt, so böse zu sein wie sie, aber mit etwas Zeit würde ich sie wahrscheinlich überflügeln. Was auch immer dabei herauskam, ich musste es wissen! Ich musste es wissen!

Dr. Hubbard horchte ihr Herz ab.

Ist sie tot?“

Nein. Ich habe ihr ein starkes Beruhigungsmittel gegeben. Wenn sie schläft, könnte sie bis heute Abend überleben.“ Er richtete sich auf, seine Lippen verzogen sich zu einem kleinen Lächeln. „Ich kenne Miss Calder schon seit langem. Sie hatte immer den Dreh raus, das zu bekommen, was sie wollte. Wahrscheinlich klappt es wieder.“

Aber ...“

Ich muss jetzt gehen“, erklärte er mir. „Es gibt wirklich nichts, was ich tun kann. Wenn sie absolute Ruhe hat, überlebt sie vielleicht sogar bis morgen früh. Rufen Sie mich sofort an, wenn sie sich rührt.“

Wird das etwas nützen?“

Er schüttelte den Kopf und ging.

Ich schlenderte durch das alte Haus mit seinen hohen Decken und den kunstvoll geschnitzten Holzarbeiten. Auf meine heidnische Art betete ich wohl die ganze Zeit. Ich betete, dass Tantchen wieder erwachen würde. Natürlich nur aus Egoismus. Ich musste ihr Geheimnis erfahren! Es mit ihr teilen! Wir waren von gleichem Blut, sie und ich.

Matilda erzählte mir einige interessante Dinge, während ich an dem Essen knabberte, das sie mir zubereitet hatte. Matilda war seit dem Bau des Hauses bei Tantchen gewesen. Sie war alt, wie Tantchen, ein wenig taub und abgrundtief dumm und phantasielos. Sie tat, was man ihr sagte und hielt sich sonst nur in ihrem Eckzimmer neben der Küche auf. Sie scherte sich mit einer Hartnäckigkeit ausschließlich um ihre eigenen Angelegenheiten, die an Fanatismus grenzte.

Es gab keine anderen Bediensteten. Eine Putzfrau kam einmal in der Woche, um die gröberen Reinigungsarbeiten zu erledigen, und ihr Mann putzte Fenster und räumte Möbel für sie um. Ein japanischer Gärtner kümmerte sich um den Miniaturvorgarten. Der hintere Garten war verschlossen. Das Grundstück lag gefährlich, weil die Felswand, an der es sich befand, unter der Einwirkung der Regenfälle langsam abbröckelte.

Der hintere Garten mit seinen hohen Mauern war besonders betroffen, und der Zutritt war allen untersagt. Die Küchentür öffnete sich direkt zur Mauer, und im ersten Stock gab es keine Fenster nach hinten heraus. Das alles war so merkwürdig, dass ich den Anschein der Nahrungsaufnahme aufgab und nach oben ging, um einen Ausblick auf diesen verlassenen Ort zu finden.

Was ich durch ein Fenster im zweiten Geschoss sah, war enttäuschend. Garten konnte man das kaum nennen. Es war ein trostloser Ort, der an der bröckelnden Felswand abrupt endete. Die Erde war hart und grau; selbst das Unkraut mochte diesen Ort nicht. Im Grunde war das gar nicht so seltsam. Vermutlich konnten die Unkrautpollen die Mauer nicht überwinden. Calder House lag ganz oben auf dem Hügel, und das Haus war so gebaut, dass die Rückseite vor neugierigen Blicken sicher war.

Ich schaute nach oben, zum Boden von Tantchens kostbarem „Pavillon“. Tantchen war nicht oben in ihrem eigenen Schlafzimmer. Dafür gab es einen zwingenderen Grund als nur den, dass es einfacher war, sie im Erdgeschoss zu pflegen. Tantchen wollte niemanden auf ihrer Plattform haben. Oder auch nur in der Nähe davon.

Ich ging hinauf.

Tantchens Wohnzimmertür war verschlossen, aber ich hatte mich mit einem Bund Hausschlüssel ausgestattet. Als sich die Tür knarrend öffnete, war ich wieder neun Jahre alt und roch den Duft von Tantchens Heliotrop-Parfüm. Mein Herz klopfte, als ich den Raum betrat.

Das Wohnzimmer meiner Tante hatte ein nostalgisches Flair, aber die Einrichtung hatte Pfiff.

Plötzlich überkam mich die Eingebung – oder sollte ich sagen: Erinnerung? – dass Tantchen hier stets auf ihren Liebhaber gewartet hatte. Auf ihren Liebhaber ...


In Xanadu did Kubla Khan

A stately pleasure dome decree

Where Alph the sacred river ran

Through caverns measureless to man

Down to a sunless sea ...


Wie kam ich nur auf dieses Zeug? Kinderreime, die ich vor langer Zeit auswendig gelernt hatte. Reime. Hässliche Reime über Tantchen ... Was hatte ich mir nur dabei gedacht? Was war es? Ich hatte es grade noch im Hinterkopf, aber jetzt war es weg.

Ah!

Da war etwas in Tantchens Kamin, das meine Aufmerksamkeit erregte. Darin waren Papiere verbrannt worden, wahrscheinlich das letzte Mal, als Tantchen hier war, und ein Fetzen war den Flammen entgangen. Ich klaubte es aus der schwarzen Asche. Es war das grob abgerissene Fragment von etwas, das offenbar ein großes Stück Fleischerpapier gewesen war. Das Paket von Piggoti kam mir in den Sinn. Wo hatte ich es liegen lassen? Ach, ja. In der Eingangshalle, zusammen mit meinem Hut und meinem Mantel. Piggoti war also nicht verrückt. Wie viele Bogen Fleischerpapier waren schon in diesem Kamin verbrannt worden, genau wie dieses hier? Wie viele? Hundert? Tausend?

Ich ging hinaus auf den „Pavillon“.

Ich untersuchte jeden Zentimeter des langen Balkons mit Blick auf die Bucht und der verdorrten Erde darunter. Am hinteren Ende fand ich seltsame Flecken im Bodenbelag. Hier war Tantchens Heliotrop-Parfüm ziemlich stark. Als hätte sie es auf die Flecken geschüttet, um etwas zu überdecken - ja! Einen anderen Geruch. Ein Geruch, der sowohl widerwärtig als auch faszinierend war. Er hatte einen Hauch von verbotener Ektase, wie der Geruch von Opiummohn, wenn er für die Erschaffung satanisch-paradiesischer Träume präpariert wird. Mir wurde ganz schwindelig.

Ich blinzelte dort auf meinen Knien durch das Balkongeländer, das mich vor dem Sturz ins Nichts schützte. Ich bemerkte, dass das Geländer kunstvoll geschnitzt war, mit einem sich wiederholenden Muster aus Holzschlangen und Blumen. Gut und Böse. Schönheit und Schrecken. Schlangen und Blumen. Jenseits des Geländers war die Sonne ein verschwommener Fleck aus Gelb und blutigem Rot. Ich dachte, sie würde aufzischen, wenn sie in die tiefe See fiel. Das Verlangen zu sehen - zu wissen - ließ mich erschaudern. Ich wollte über das Geländer springen, um diese Sehnsucht zu ersticken, denn ich konnte den Gedanken nicht ertragen, dass ich es vielleicht nie erfahren würde.

Arthur! Mister Arthur!“

Es war Matilda, die mich von der Treppe aus rief.


4.


Arthur und ich wollen allein sein“, sagte Tante Ermintrude zu Matilda und der ablehnend dreinschauenden Krankenschwester.

Sie runzelte die Stirn. „Aber … „

Raus; alle beide! Raus!“ Matilda schniefte und watschelte davon. Die Krankenschwester zögerte, aber der Blick in Tantchens gelben Augen ließ sie ebenfalls auf den Flur hinausgehen, und sie murmelte etwas davon, den Arzt rufen zu wollen.

Arthur, mach die Tür zu.“

Ja, Tantchen.“

Schließ sie ab.“

Ja, Tantchen.“

Und jetzt komm ganz nah zu mir. Ich habe nicht viel Zeit. Es wird doch bald dunkel, nicht wahr, Arthur?“

Innerhalb einer Stunde.“

Sie versuchte, sich aufzusetzen. „Arthur, ich werde es doch nach oben schaffen, oder?“

Nein, Tantchen.“

Aber du könntest mich tragen, Arthur?“

Sicher, Tantchen, aber ...“

Du glaubst nicht, dass ich es lebendig schaffe, ist es das?“

Ich senkte meinen Kopf. Was sollte ich sagen? Natürlich würde sie es nicht schaffen. Sie sah aus, als wäre sie bereits tot und im Grab. Irgendeine heftige innere Flamme des Bösen allein brannte noch in ihr.

Sie schnaubte heftig. „Also gut. Ich werde es dir sagen müssen, Arthur. Und du wirst es Daniel selbst beibringen müssen.“

Sie sprach den Namen mit wehmütiger Zärtlichkeit aus.

Daniel?“ Ich leckte mir über die Lippen. Meine Kehle war plötzlich wie Papier. Das Wort schoss aus mir heraus wie eine vertrocknete Erbse aus einem Blasrohr. Die Tante ignorierte es.

Arthur, wir beide sind anders. Sag jetzt nichts. Ich weiß, dass du es bist. Du bist wie ich. Deshalb haben wir uns auch immer so gut verstanden. Keiner von uns beiden ist wie die!“

Ihre Verachtung schloss die gesamte menschliche Rasse außer uns ein.

Wir haben keine Angst, dem Teufel ins Gesicht zu sehen und ihn auszulachen. Stimmts, Arthur? Ja, ihn auslachen! Tja, Arthur, ich bin eine böse Frau, und ich werde für immer in der Hölle schmoren. Aber niemand kann sagen, dass ich mein Leben nicht konsequent zu Ende gelebt habe. Gott, wie ich gelebt habe! Die Leute haben die letzten sechzig Jahre über mich und meine Sünden getratscht und gelästert. Aber sie wissen nicht einmal die Hälfte davon, Arthur!

Als ich alles gesehen hatte, was sie mir zeigen konnten, wollte ich mehr. Es gab mehr, und ich wusste, dass ich diejenige sein würde, die es findet. Ich traf einen Mann. Vielleicht war er auch kein Mann. Ich weiß es nicht. Aber er lehrte mich Geheimnisse, von denen sie nicht einmal träumen. Sie haben keine Ahnung, was in der Dunkelheit der Nacht vor sich geht – in der Luft, die sie atmen. Sie wissen auch nicht, dass die Visionen, die sie sehen, wenn sie mit Gin, Opium und Haschisch sündigen, so real sind wie ... egal.

Sie sind real, Arthur! Nenn sie Dämonen, Drogen ... Nenn sie heilige Visionen. Nenn sie, wie du willst. Wenn du sie nur mit aller Willenskraft beschwörst, Arthur, dann werden sie sich dir enthüllen!“

Ich zitterte.

Die Plattform?“

Ja! Die Plattform! Siehst du, diese anderen können nicht überall zu uns durchkommen. Nein, nur an einigen wenigen geheimen Orten auf der Welt. Und meine Plattform ist einer dieser Orte. Das ist nicht zufällig so. Ich habe dieses Haus genau hier gebaut, damit sie durchkommen und mich finden können! Ich erfuhr von diesem Mann, dass hier auf diesem Hügel einer der geheimen dünnen Stellen war, hier oben mitten in der Luft. Durch sorgfältige Planung haben meine Architekten diese Stelle gefunden. Böse Zeiten für Bauarbeiter waren das! Drei von ihnen stürzten die Klippe hinunter und wurden zerschmettert. Ach, Dämonen sind manchmal so verspielt! Ich wollte, dass der Eingang direkt an meinem Wohnzimmer liegt, aber es ging knapp daneben.

Und natürlich können sie nicht alle durchkommen. Das wäre eine Katastrophe für die Welt. Es kam nur einer, Arthur. Aber was für einer! Oh - du hast die Süßigkeiten für den kleinen Daniel mitgebracht!“

Ich blinzelte auf das Päckchen unter meinem Arm hinunter, das Päckchen, das Herr Pigotti mir gegeben hatte.

Der kleine Daniel?“ krächzte ich.

Die Tante lachte. Es klang, als würde man trockenen Toast zerreiben.

Naja, der Daniel ist gar nicht mehr so klein. Ich vergesse immer, wie lange es her ist, seit ...“ Ein Schmerzenskrampf ließ sie erschaudern.

Arthur! Hör zu! Ich habe dir alles in meinem Testament hinterlassen. Aber es gibt eine Bedingung. Du musst in diesem Haus leben, allein. Und du musst nett zu Daniel sein. Sieh zu, dass er zweimal in der Woche seine Süßigkeiten bekommt und - „Ihr Gesicht verzerrte sich vor Schmerz. „Es ist jetzt dunkel. Stimmt`s, Arthur? Daniel wird bald da oben sein und an der Tür des Pavillons herumfummeln und reinwollen. Geh hinauf, Arthur! Beeil dich! Sag Daniel, dass ich ..., dass ich ...“

Es gab einen röchelnden Seufzer, dann nichts mehr.

Ich überließ Matilda und die Krankenschwester ihren Aufgaben und ging hinauf in Tantchens Wohnzimmer, um zu warten. Ich hatte glasklar angeordnet, dass ich nicht gestört werden wollte, und ich verriegelte die Tür von innen, um sicherzugehen. Ich legte das feuchte Päckchen ab, das ich immer noch bei mir trug, und zündete mir eine Zigarette an. Ich konnte nicht stillsitzen. Ich lief wie wild im Zimmer umher.

Tantchen hatte Recht. Ich war wie sie. Ich wusste es jetzt! Mein ganzes Leben lang hatte ich mir insgeheim gewünscht, dass mir etwas Ungeheuerliches begegnete - dass ich dunkle, verbotene Orte erblicken konnte. Bald würde ich es können. Bald würde ich die vollständige Antwort auf alles haben, die Krönung von zwölf Jahren des Wartens - seit Tantchen mir auf der Plattform das Gesicht aufgeschlitzt hatte, als ich neun war. Seitdem hatte ich zwar gesündigt, aber das war nur blasses, fades Zeug. Dies hier war eine echte übermenschliche Erfahrung - für Tante Ermintrude und für mich!

Endlich...

Es kam, das leise Schleichen von Schritten auf der Plattform. Und mit ihm ein schleifendes Geräusch, als ob die Kreatur da draußen einen schweren Schwanz besäße, der von einer Seite zur anderen wischte, während sie sich der Wohnzimmertür näherte.

Ich hatte überhaupt keine Angst. Falls ich sterben sollte, gut und schön; zumindest würde ich die Antwort auf meine Fragen in diesem Bruchteil einer Sekunde vor dem Vergessen kennen. Vorsichtig drückte ich meine Zigarette aus, dann riss ich hastig die Schnur von Mr. Piggottis Päckchen auf und wickelte es verführerisch halb aus.

Die Kreatur draußen scharrte an der Tür und gab seltsame, halb menschliche Laute von sich.

Ich holte tief Luft, dann ging ich schnell zur Tür der Plattform und öffnete sie.

Ich versuchte, nicht zu keuchen. Aber ich glaube, ich tat es doch, wenigstens ein bisschen. Es war schwer, es nicht zu tun.

Es lag nicht so sehr daran, dass das Ding lange spitze Ohren und Schuppen am ganzen gewaltigen Körper hatte. Ich glaube, es war eher die vage Vertrautheit dieses Gesichts mit der spitz zulaufenden Schnauze und diesen gelben, gelben Augen.

Es traf mich wie den Blitz.

Eine Zeile vom Dichter Coleridge fiel mir ein:

Like a woman, wailing for her demon lover.

Das war es, was ich vorhin in Tantchens Wohnzimmer gespürt hatte. Als wäre ihr gut gehütetes Geheimnis durch die Wände gesickert und hätte sich für einen kurzen Augenblick mit meinem tastenden Sinnen in Rapport gebracht.

Die Kreatur sah mich neugierig und, wie ich fand, auch ein wenig verärgert an. Sie hatte nicht mit mir gerechnet. Und ich hatte auch nicht mit ihr gerechnet. Nun, ich musste dieses peinliche Schweigen brechen. Tante Ermintrude war leider gestorben, bevor sie mir sagen konnte, wie ich das anfangen sollte.

Also lächelte ich einfach, hielt das offene Päckchen hin und sagte: „Hallo, Cousin Daniel!“

Emil Petaja: The Dark Balkony

Fantastic Adventures, February 1951

Übersetzung und Vorwort © Matthias Käther 2022

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